Sunday, September 10, 2017

Tango im Theater


Die argentinische Illustrierte Caras y Caretas veröffentlichte in den Jahren 1902-3 eine wöchentliche Kolumne mit dem Titel „Photographische Spaziergänge durch die Stadt“, die Artikel mit Photographien aus Buenos Aires wiedergab. Die Themen änderten sich von Woche zu Woche: Persönlichkeiten und Typen der Stadt, Ansichten von Straßen und Häusern in schlechtem Zustand, Unfälle, Merkwürdigkeiten, usw. waren gängige Inhalte. Signiert wurden die Artikel von Sargento Pita („Polizeiwachtmeister Pfeift“), einem Pseudonym, hinter dem sich wahrscheinlich José Álvarez (auch: „Fray Mocho“), der Direktor der Zeitschrift, befand.


Ein Artikel sticht hervor; nicht nur, weil er vielleicht der erste war, der den Tango thematisierte, sondern auch, weil er Photographien von Tangotänzern enthält.

Tango Criollo 


Er ist kaum Bürger von Buenos Aires und hat es noch nicht geschafft, sich an seine Umgebung zu gewöhnen: so wie seine Vorgängerin, die Milonga, die es schwierig fand, sich unter dem Dach der ländlichen Höfe, wo die Gitarre der criollos das ferne Gedächtnis Andalusiens belächelt, zu Hause zu fühlen.


Der gato und der pericón hier in der Pampa und die cueca in den Bergen haben hartnäckig die Anmut und Grazie verteidigt, die ihnen ihre ursprüngliche Wiege vermachte. Die wollüstige und schlüpfrige Liebkosung, mit der der afrikanische Candombe die ländlichen Tänze verfälschen wollte, fand außerhalb des perigundín und der [Tanz-] Akademie keine begünstigte Umgebung.



Die gemessenen und schlaftrunkenen Habaneras eroberten mit Leichtigkeit den trägen compadrito, der sich schon am schlüpfrigen Schütteln der Milonga ergötzte. Beide [Tänze] erschufen den plebejischen Tango, dessen Anfangsschritte ein paar kümmerliche Paare von gelangweilten Nichtstuern heute in den Gassen der Mietskasernen zum Klang des Leierkastens üben, wie eine Nachahmung anderer Zeiten,.

Diese [Tänzer] sind nicht die Gestalten des klassischen Tanzsaals des regionalen Tanzes, wo corte und quebrada und der schneidige Gevatter Dolch-im-Strumpfband, der sich an einer Prügelei ebenso beteiligte wie an einer Liebesaffäre oder Intrige, souverän regierten.

Erhalten wurde die Erinnerung an den Tangos dank der Podestá, welche sie pflegen. Aber die Gestalt des streitbaren compadres, der ihn tanzte, ist für immer verloren. Seine verschwimmenden Umrisse werden kaum noch von den paar Hinterbliebenen irgendeines blutigen Dramas von damals heraufbeschworen.


Die von Alto und Balvanera sind verschwunden: mit ihren ländlichen Hosen; dem Poncho über der Schulter; auf den Lippen freche Unverschämtheit, die untrennbare Begleiterin des heimtückischen Dolches und der Stöckelschuhe, die den Schritt behinderten und ein feminines Schwingen der das Gleichgewicht suchenden Hüften erzwangen!




Heute ist [Tango] kein Parteibanner mehr, wie in den Tagen der Anhänger von Mitre und Alsina, sondern einfache Straßenunterhaltung im Kreise müßiger Freunde. Und wenn wir noch nicht seinem Tode beiwohnen, so hören wir doch die Glocke seinen Todeskampf verkünden.

Aber vielleicht stirbt er trotzdem nicht. Aus Europa hören wir (erfreulich für die, die sich mit cortes und hamacadas auskennen), dass der Tango der Yankees—dass heisst, der unsrige ins Englische übersetzt und als cake-walk importiert—bei den Tanzabenden der Pariser Aristokratie Aufsehen erregt.

Wer weiß, ob nicht schon die Podestá gebeten wurden, den traditionellen Tanz unserer compadritos, den sie unter so vielen Opfern bewahrt haben, nach Frankreich zu bringen? Und mit ihm einige dieser abendlichen Straßentänzer, die die Polizei heutzutage als Eckensteher und „unangebracht Beschäftigte“ aufzugreifen pflegt?

Werden die roten Nelken, die die Wange züchtigen, wieder blühen? Der stöckelnde und grazile Schritt und die quebrada, die den Boden mit dem Ohr fegte?

Der criollo compadrito und der eingelebte Italiener aus La Boca waren die bekannten Kultivatoren des Tangos, aber die einen wie die anderen sind mit ihrer eigentümlichen Kleidung von der Szene verschwunden. Um sie heute wiederzubeleben, wird man Szenen aus anderen Zeiten nachbilden, sich mit groben Umrissen begnügen und interessante sowie malerische Details übergehen müssen.


Sergeant Pita

In neuerer Zeit wurde der Artikel als ein frühes Beispiel für eine Geschichte des Tangos interpretiert (Hugo Lamas, Enrique Binda: El Tango en la Sociedad Porteña, 1880-1920, 1998). Als solche wurde er auch sehr kritisch beurteilt. Tatsächlich ist der Text schwer zu verstehen und erwähnt die relevanten historischen Hintergründe sehr nachlässig. Es ist allerdings interessant, dass er schon einige Mythen und Legenden enthält, die später zum festen Bestandteil der Tangogeschichte wurden. Die Photographien (zwei tanzende Männer), z.B., spielen auf die (nicht haltbare) Ansicht an, dass Tango anfangs nur von Männern getanzt wurde. Zur Tango-Mythologie gehört es auch, dass der „plebejische“ Tango von der „schlüpfrigen“ Milonga und der „schlaftrunkenen“ Habanera beeinflusst wurde; dass er von faulen Halunken der untersten Gesellschaftsschichten kreiert wurde, deren Tänze oft in Streit und Messerstechereien endeten. Typisch für die „Geschichtsschreibung“ in diesem Artikel sowie in späteren Versuchen ist, dass die beschriebenen Ereignisse immer in einer schleierhaften Vergangenheit stattfanden, in der die Autoren nicht anwesend waren und die sie nicht genauer festlegen können.


Aber vielleicht sollte man von diesem Artikel nicht verlangen, was er nicht verspricht. Er erhebt keinen auf Anspruch auf Geschichtsschreibung. „Polizeiwachtmeister Pfeift“ weist auf Zu- und Missstände in Buenos Aires im Jahre 1903 hin, und dies auch mit einem ironischen Augenzwinkern.

Die Photographien in einer regelmäßigen Kolumne von Caras y Caretas erschienen zu lassen, deutet an, dass man sie als zufällige Aufnahmen aus dem Stadtleben präsentieren wollte. Eine spätere Ausgaben der Zeitschrift widerspricht aber dieser Annahme. Sechs Monate nach dem Artikel wurde ein Klavierauszug des Tangos El Maco von Miguel Tornquist in Caras y Caretas abgedruckt. (Tornquist war der der musikalisch veranlagte Sprössling einer der vornehmsten Familien von Buenos Aires.) Sechs Photographien eines tango-tanzenden Paares, diesmal eine Frau und ein Mann, illustrierten die Noten.






Es ist offensichtlich, dass die beiden Photoserien zusammengehören. Der “Führende” ist in beiden der selbe, und da er die gleiche Kleidung trägt, kann man annehmen, dass die Photos zur gleichzeitig aufgenommen wurden. Dies wird auch dadurch bekräftigt, dass einige der Posen übereinstimmen.








Die Tänzer der beiden Serien werden nicht mit Namen genannt. Lamas und Binda identifizierten aber einen Tänzer—leider ohne Angabe der Quelle—als Arturo de Nava (wahrscheinlich ist er der „Führende“). De Nava stellt auch eine Verbindung zu einem anderen Namen her, der im Artikel erwähnt wird: dem der Podestá.

Die Podestá Brüder waren eine Familie von Zirkusartisten, die sich mit der Aufführung von Gaucho-Melodramen einen Namen gemacht hatten. Am Ende des 19. Jahrhunderts wechselten sie vom Zirkus ins Theater und spezialisierten sich auf Stücke, die das Stadtpublikum ansprachen und in den Vororten und Mietskasernen von Buenos Aires, also dem Milieu des Tangos, spielten. Antonio Podestá wird es zugeschrieben, den ersten Tango für ein Theaterstück komponiert zu haben, der von seinem Bruder Pablo getanzt wurde.


Zur Zeit der Veröffentlichung der Photographien was Arturo de Nava ein bekannter Sänger, Komponist und Schauspieler in der Podestá Truppe und trat oft als Tangotänzer auf. Wenn er der Abgebildete war, dann wurde er sicherlich von vielen Lesern wiedererkannt. Dass er nicht genannt wurde entspricht aber der Thematik der Zeitschriftenspalte: gezeigt werden nicht zwei Schauspieler, die Tango tanzen, sondern zwei „Eckensteher und 'unangebracht Beschäftigte'“, die „Polizeiwachtmeister Pfeift“ zur Ordnung ruft.

Der Artikel wurde im Februar 1903 veröffentlicht, kurz vor dem Höhepunkt der jährlichen Tanzsaison, dem Karneval, zu dessen Abschluss die größten öffentlichen Tanzveranstaltungen in den Theatern stattfanden. Zu diesen Theatern gehörte das Apolo, in dem die Podestá auftraten. Da Tango nun auf der Bühne aufgeführt wurde, wurde er auch beim Publikum beliebt—besonders bei den Karnevals-Tänze in den Theatern. Caras y Caretas berichtete über die Tänze in den Theatern zu ersten Mal im Februar 1904: 


Die Karnevals-Tänze

...
Der cake-walk (dieser Tanz, von dem manche behaupten, er sei ein Symbol des Lebenskampfes) war der Clou der Tänze an der Oper. Er wurde in allen Formen—von der korrektesten bis zur größten Übertreibung—zu lebhaftem Gelächter und tosendem Applaus getanzt. Der Yankee-Tanz überwog in solchem Maße, dass sogar Tangos im Stil „cake-walk“ getanzt wurden.

Der zweite Platz gebührt, wie immer, dem Politeama, in dem eine enormes Publikum, welches bereit war, sich im Rahmen der Vernunft zu amüsieren, einen angenehmen Abend mit angemessenen Späßen, funkelnden Streichen und einer Fülle von Tangos verbrachte. Von den populären Theater wurde das Argentino am meisten von criollo Teilnehmern begünstigt. Dort war der Tango mit corte und quebrada tonangebend. Es zeigten sich einige wirklich bemerkenswerte Paare, die dem Publikum in den Logen begeisterten Applaus entlockten...

Im Marconi, Apolo, Victoria und Nacional wurde ebenso enthusiastisch getanzt, und es gab Momente, wo das Gedränge der Tänzer so groß war, dass man sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte.
...



Es zeigt sich, dass das Erscheinen des Tangos auf der Theaterbühne entscheidend zu seiner Popularisierung in der breiten Öffentlichkeit beigetragen hat. Der mythische Tango der Vorzeit war tot, so wie der Artikel es versichert, aber auf der Bühne wurde er im Gedächtnis behalten und dem Publikum durch die Podestà vermittelt, das es mit zunehmender Begeisterung aufnahm. War die Tatsache, dass „Polizeiwachtmeister Pfeift“ einen bekannten Schauspieler als Tango-tanzenden Nichtstuer aufgreift, ein Zeichen exekutiven Übereifers?





© 2017 Wolfgang Freis

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