Zusammenfassung: Dieser Teil gibt weiteren Aufschluss über die Herkunft des argentinischen Tango. Eine Auswertung von Quellendokumenten aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stellt den Tanz in den Mittelpunkt. Wir folgern, dass der Tanz nicht in den armen Vierteln von Buenos Aires, sondern auf der Bühne der Boulevardtheater entstand. Dies geschah als Folge eines Prozesses, in dem die Vorbilder spanischer Theatertruppen, Schauspiele, und Tänze von argentinischen Künstlern assimiliert und als endemisch präsentiert wurden. Zeitungsartikel und Photoserien zum Thema Tango deuten darauf hin, dass Schauspieler abgebildet und als compadritos und comadritas einer legendären Vergangenheit präsentiert wurden, als ob sie authentische Charaktere von den Straßen von Buenos Aires wären. Tatsächlich handelte es sich dabei um Inszenierungen von Rollentypen aus dem teatro criollo. Die breite Öffentlichkeit von Buenos Aires wurde durch das Erscheinens solcher Rollentypen in Theater und Presse mit Tango vertraut gemacht. Das Theater war nicht nur der Schauplatz, an dem Tango von einem breiten Publikum bewundert werden konnte, es war auch der Ort, an dem Tango während der Karnevalsbälle als Gesellschaftstanz getanzt wurde. Presseberichte über die Bälle der Jahre 1904-5 unterstreichen die Beliebtheit des Tangos als Modetanz. Bilddokumente veranschaulichen, dass sich Tango zu einem ausgeprägten Gesellschaftstanz entwickelt hatte.
IV. Die Podestás und das Apolo-Theater
Als De Marías Bohemia criolla uraufgeführt wurde (1902), hatten sich die Podestá Brüder in festen Platz unter den Theaterensembles von Buenos Aires erobert. Ihr Wechsel von der Zirkusarena auf die Bühne zum Ende des 19. Jahrhunderts fiel mit wichtigen Veränderungen im Theaterleben der Stadt zusammen. Das Ende der Vorherrschaft der spanischen Theatergruppen im teatro criollo bahnte sich an. José Podestá (*1858, Montevideo, UR) ließ sich schnell in der Presse auf ein Polemik ein und behauptete, dass das einzige Mittel, „den wahren Charakter und Geschmack“ von „originären Werken von criollo oder ansässigen Autoren“ zu bewahren, eine Interpretation von argentinischen Schauspielern wäre.
1. Die “Capos” der Podestá Familie: Antonio, Jerónimo, José und Pablo
|
Die Podestás waren außerordentlich geschäftstüchtig, wenn man von der Anzahl der Stücke, die sie auf die Bühne brachten, ausgehen kann. Während des ersten Jahrzehnts der 20. Jahrhunderts inszenierten die verschiedenen Theatergruppen, die die Podestás zusammen, getrennt oder in Verbindung mit anderen Ensembles bildeten, Hunderte von Schauspielen. Viele davon spielten vor dem städtischen Hintergrund von Buenos Aires, und der conventillo diente als beliebtes Bühnenbild. Da viele Stücke zum lyrischen Musiktheater mit Orchestermusik, Liedern und Tanz gehörten, wurde der Tango tanzende compadrito ein dem Publikum geläufiger Bühnencharakter.
Leider sind viele dieser Stücke verlorengegangen oder nicht erhältlich, sodaß es unmöglich ist, die Entfaltung des Tangos im Detail zu verfolgen. Sicher ist aber, dass einige relevante Stücke sich großer Beliebtheit erfreuten. In den zwei Spielzeiten von 1901-3, in denen eine Inszenierung bei den Podestás im Durchschnitt 16 Mal aufgeführt wurde, gab es zwei Wiederaufnahmen von Ensalada criolla mit insgesamt 64 Aufführungen. Bohemia criolla, 1902 uraufgeführt, feierte 32 Vorstellungen in einer Spielzeit. Fumadas, ein Stück von Enrique Buttaro, in dem Tango zu sehen war, wurde 46 bzw. 36 Mal gespielt.
Das Apolo Theater, das 1901 das Stammtheater der von José Podestá geleiteten Theatergruppe wurde, spielte eine entscheidende Rollen in der Verbreitung des Tangos. Der Sänger Juan Carlos Marambio Catán erinnerte sich in seiner Autobiographie, daß er als Kind seine ersten Tangos im Apolo hörte, als ein Dienstmädchen ihn dort in die Nachmittagsvorstellungen schmuggelte. Die ersten Tangos von Arturo De Bassi, der sich 1903 mit 13 Jahren dem Orchester als Klarinettist anschloss, wurden im Apolo als Pauseneinlagen gespielt, einschließlich seines berühmten El Incendio. Das Orchester war auch eines der ersten, die Tangos auf Schallplatte aufnahmen.
Das Apolo Theater, das 1901 das Stammtheater der von José Podestá geleiteten Theatergruppe wurde, spielte eine entscheidende Rollen in der Verbreitung des Tangos. Der Sänger Juan Carlos Marambio Catán erinnerte sich in seiner Autobiographie, daß er als Kind seine ersten Tangos im Apolo hörte, als ein Dienstmädchen ihn dort in die Nachmittagsvorstellungen schmuggelte. Die ersten Tangos von Arturo De Bassi, der sich 1903 mit 13 Jahren dem Orchester als Klarinettist anschloss, wurden im Apolo als Pauseneinlagen gespielt, einschließlich seines berühmten El Incendio. Das Orchester war auch eines der ersten, die Tangos auf Schallplatte aufnahmen.
Zur gleichen Zeit, als sich die Podestás als Theaterensemble im Apolo etablierten, erschienen in Buenos Aires die ersten tangos criollos im Druck und wurden als Klavierstücke der Öffentlichkeit zugänglich. So wie sich die argentinischen Theatergruppen das teatro criollo zu eigen machten, so adoptierten nun Komponisten den Tango als „einheimische“ Musikform. In diesem Zeitraum finden wir auch die ersten Belege dafür (daß heißt Belege, die sich dokumentieren lassen), dass Tango von der Theaterbühne in das gesellschaftliche Leben von Buenos Aires vordrang. Sowohl in Bezug auf die Musik als auch auf den Tanz veränderte sich die Wahrnehmung des Tangos. Und die Podestás, denen ein großes Publikum Aufmerksamkeit schenkte, spielten dabei eine entscheidende Rolle.
IV. Enrique Buttaro
Alle sieben Schauspiele von Enrique Buttaro (*1882, Montevideo, UR – 1904) wurden von den Podestás im Apolo aufgeführt. Zwei dieser Stücke, ¡Abajo la careta! und Fumadas, für die Antonio Podestá die Musik komponierte, gehörten zu den erfolgreichsten Komödien der beiden Spielzeiten von 1901-3. Die Handlung der beiden lyrischen sainetes spielt in einem conventillo mit der typischen Bewohnerschaft, die sich aus criollos und Immigranten zusammensetzt.
¡Abajo la careta! (1902) enthält drei Tanzszenen, die aber keinen Hinweis darauf geben, als Tango konzipiert worden zu sein. Nur der letzte Tanz, das große Finale, wurde im Libretto gekennzeichnet. Es ist eine jota, die im teatro criollo der emblematische Tanz der spanischen Immigranten war. Tango wird nur einmal beiläufig in einem Dialog erwähnt. Figurita, eine männliche Partie, erzählt einem Freund über eine frühere Beziehung zu einer Frau, mit der er Tango tanzte:
Te acordás vos de la china
...
Aquella, hombre, que tenía
un pelo que le llegaba
más abajo de las corvas
y unos ojazos que el alma
repicaba si los veía...
Aquella que envidia daba
cuando yo al compás de un tango,
la cadera le quebraba;
mientras que ella, comadriando
su cara ponía en mi cara.
...
------------------
(Erinnerst du dich an das Mädchen
…
Die, Mann, deren Haare
bis unter die Kniekehlen reichten,
und mit großen Augen, so wunderschön,
dass die Seele zersprang, wenn du sie ansahst...
Die, die Neid ausstrahlte,
wenn ich ihr zum Rhythmus eines Tangos
die Hüfte beugte,
während sie, wie eine comadre,
ihre Wange and die meine legte.)
Dieser Bezug auf Tango folgt einem schon bekannten Muster: ein Mann erzählt einem anderen über das sinnliche Erlebnis eines Tanzes. Der Tanz ist Teil eines „Paarungsverhaltens“, das in einem berauschenden Moment kulminiert, in dem der Mann die Frau in eine quebrada führt. (Siehe auch Sorias Justicia criolla, Szene 14.)
In Buttaros Fumadas (1902) wird dagegen wirklich mit corte y quebrada getanzt. Pucho, der Rosa den Hof macht, möchte mit ihr tanzen gehen, aber sie kann nur „modern“ tanzen. Um ihr Tango beizubringen, tanzt Pucho ihr die Tanzschritte allein vor.
PUCHO: ... ¡Ah! Décime: ¿sabes bailar?
ROSA: ¡Ya lo creo!
PUCHO: Entonces la semana que viene te viá llevar a un baile
pa que nos calentemos los chifles.
ROSA: Bueno, bueno...
PUCHO: ¿Sabés meterle de aquí? (Hace un corte).
ROSA: Qué es eso?
PUCHO: No ves, otaria, que es un quiebro?
ROSA: ¡Ah, no!... Yo bailo a la moda.
Música
PUCHO: (Mientras baila solo). Poné atención:
Echale arroz a este guiso.
Este golpe es pa lo que después te viá a decir. En esta güelta tenés
que tener cuidao de no caerte. Aquí medio entrecruzás los chifles y
te venís pa delante... ¡así!
Y en esta refistolada te preparás pal golpe. ¿Te enteraste?
(Segunda).
¡Echale arroz a este guiso!...
En esta cáida te venís pa un lao y movés... lo que después vas a saber.
Aquí, hacés una media luna... así.
Depués te hacés un ovillo y ponés en juego... (Le habla al oído). ¿Sabés?
Cuando yo me quiebre así, por ejemplo, vos te preparás pal golpe y
hacés un firulete... con lo que te dije.
En esta refistolada, te preparás pal golpe, ¿Entendíste?
ROSA: Un poco.
PUCHO: Bueno; cuando güelva te daré otra lición y entretanto...
¡mangiá, nena!
(Hace un corte hacia el foro. Rosa por lateral segunda).
------------------
(PUCHO: Sag mir: Kannst du tanzen?
ROSA: Ich glaube schon!
PUCHO: Dann werde ich dich nächste Woche zu einem Tanz ausführen,
damit wir uns die Läufe aufwärmen können.
ROSA: So, so ...
PUCHO: Weißt du, wie du da hineinkommst? [Er posiert einen „corte”.]
ROSA: Was ist das?
PUCHO: Dummkopf, siehst du nicht, das es eine Beugung [quiebro] ist?
ROSA: Ach, nein! Ich tanze modern.
Musik.
PUCHO: [Während er alleine tanzt.] Pass auf:
Schütt' Reis in den Eintopf!...
Dieser Trick ist für das, was ich dir später sagen werden. In dieser Drehung
musst du aufpassen, dass du nicht hinfällst. Hier wirst du deine Beine halb
überkreuzen und vorwärts gehen... Nämlich so!
Und mit diesem Dreh bereitest du dich für den Trick vor.
Hast du verstanden?
[Zweite Strophe]
Schütt' Reis in den Eintopf!...
Bei diesem Fall [caída] kommst du zur einen Seite und bewegst dich...
was du dann sehen wirst. Hier machst du eine media luna... Nämlich so!
Dann machst du ein Knäuel (ovillo) und bringst dich ins Spiel...
[Er spricht ihr ins Ohr.] Weißt du, wenn ich eine Beugung [me quiebre] mache,
zum Beispiel so, dann bereitest du dich auf den Trick vor und machst eine
Verzierung [firulete]... wie ich es dir gesagt habe.
Und mit diesem Dreh bereitest du dich für den Trick vor.
Hast du verstanden?
ROSA: Ein bisschen.
PUCHO: Gut. Wenn ich wiederkomme, gebe ich dir noch eine Stunde,
und bis dahin... Iss, Kleine!
[Er markiert einen “corte” zum Publikum. Rosa zum zweiten Flügel links raus.])
Diese Tanzszene folgt einem weiteren Muster, nämlich der Tango-Vorführung: ein Mann markiert die Tanzschritte, um sie einem Freund oder einer Tanzpartnerin zu zeigen oder beizubringen. Man muss dazu anmerken, dass Nachahmungen dieser Art, die zu Übertreibungen geradezu einladen, zu den Kunstgriffen von Slapstick-Komödien gehören. Pablo Podestá, der die Rolle in der ersten Inszenierung des Stückes spielte, machte sich als Pucho einen Namen als komischer Schauspieler.
Das Wort „Tango“ wird in Fumadas ebensowenig erwähnt wie in De Marías Schauspielen. Die Darstellung des Tanzes ist aber in diesem Text wesentlich technischer. Worte des früheren Tango-Vokabulars wie „corte”, „quebrada”, oder „firulete” wurden in einem allgemeineren, nicht unbedingt Tango-spezifischem, Sinn gebraucht. (Man beachte, dass auch in diesem Text „corte” und „quiebro” [quebrada] auf die gleiche Tanzbewegung angewendet werden.) Hier finden wir aber auch Begriffe wie „media luna”, „ovillo“, „caída”, eine Aufforderung zum Überkreuzen der Beine, usw. Daraus läßt sich schließen, dass der Tanz konkreter geworden ist. Es handelt sich nicht mehr um einen Tanzstil mit corte y quebrada, sondern um einen Tanz mit bestimmten Schrittfolgen und Posen, der bald durchgehend bei seinem Namen genannt werden wird: Tango.
V. Tango Reklame
1903 veröffentlichte der Journalist José Ciriaco Álvarez (*1858, Gualeguaychú) unter dem Pseudonym „Sargento Pita” (Wachtmeister Pfeift) einen Artikel mit dem Titel El tango criollo. Dieser Artikel ist eines der wichtigsten Dokumente in der Geschichte des argentinischen Tangos, denn es ist der erste ganzseitige Pressekommentar, der sich dem Tanz widmet und verlauten läßt, dass Tango criollo Wurzeln hat und in Buenos Aires entstand. Der Artikel erschien als Folge einer Kolumne in der Illustrierten Caras y caretas, in der Álvarez/„Sargento Pita” über eine Vielzahl aktueller Themen hinsichtlich Buenos Aires berichtete.
2. „Photographische Spaziergänge durch die Stadtgemeinde“: Der Tango Criollo
|
Álvarez' Artikel ist für uns interessant, weil er den tango criollo mit den Podestás in Verbindung bringt. Tango wird mit einem unverständlichen Hinweis auf die Zeit von Mitre und Alsina (d.h. den 1860iger Jahren) als eine Sache vergangener Tage präsentiert. In alten Zeiten, so liest man, wurde er in den Randgebieten von Buenos Aires vom compadrito und dessen Gefährtin, der „comadrita mit dem Dolch im Strumpfband“, mit corte y quebrada getanzt. Zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels wurde Tango—Álvarez zu Folge—nur noch auf „dem Trottoir der conventillos von einigen armseligen Paaren gelangweilter Faulenzer“ als „Zeitvertreib müßiger Kumpane auf offener Straße“ zum Klang des Leierkastens ausgeübt. Die klassischen Tango-Tänzer, betont Álvarez, wären verschwunden, aber die Erinnerung an den Tango wurde von den Podestás aufbewahrt und wachgehalten.
Die Beschreibung des Tangos in diesem Text ist problematisch und hat Wissenschaftlern zu denken gegeben. Sie ist in sich widersprüchlich und stellt historische Behauptungen auf, die, einfach gesagt, keinen Sinn ergeben. (Für eine Übersetzung des Texts siehe Tango im Theater) Tatsächlich spiegeln sich in den Behauptungen nur die Darstellungen der Einwohner der Unterklasse von Buenos Aires wieder, die sich im Theater zur Konvention entwickelt hatte: der compadrito , die „comadrita mit dem Dolch im Strumpfband“, der conventillo und Männer, die mit Männern tanzen. Es ist daher naheliegend, dass Álvarez' Darstellung des vergangenen und aktuellen Tangos geradewegs dem Theater entsprang, insbesondere der Inszenierungen der Podestás. Der Artikel sollte deshalb nicht als sachbezogene Äußerung zur Geschichte des Tangos interpretiert werden. Von entscheidender Bedeutung ist nicht der Text, sondern die Photographien, die abgebildet wurden.
Zeitschriften, illustriert mit Photographien wie Caras y caretas, waren 1903 noch eine Neuheit. Der Titel der Kolumne, in der der Artikel erschien, „Photographische Spaziergänge durch die Stadtgemeinde“, weist auf den Vorrang der Bilder hin. Die Kolumne berichteten über eine Vielzahl von Themen, auf die Álvarez aufmerksam machen wollte (daher das Pseudonym „Wachtmeister Pfeift“): die schlechten Zustände von Straßen, Unfälle, Straßenhändler, Bettler, Betrunkene, usw. Auf Grund der Vielzahl der Themen ist anzunehmen, dass die Texte erst nach der Entstehung der jeweils verfügbaren Photoserien abgefasst wurden.
Diese Anschauung wird durch ein weitere Photoserie unterstützt, die sechs Monate später in Caras y caretas erschien. Die Aufnahmen, die einen Mann und eine Frau beim Tanzen zeigen, illustrieren die Klavier-Partitur eines tango criollo von Miguel Tornquist, El Maco.
3. “Tango Criollo”, El Maco von Miguel Tornquist
|
Die beiden Serien mit Tango-Tänzern (Abbildungen 2 und 3) gehören offensichtlich zusammen: der „Führende“ ist in beiden Bildfolgen derselbe. Er trägt die gleiche Kleidung, und Licht und Schatten in den Bildern deuten darauf hin, dass sie am gleich Ort und zur gleichen Zeit aufgenommen wurden.
Die Thematik des tango criollo als Photoserie ist ein eigenartiger Beitrag zur „Sargento Pita“ Kolumne, die sonst auf alltägliche Probleme in Buenos Aires aufmerksam machte—es sei denn, man möchte glauben, dass Tango-tanzende Männer damals in Buenos Aires eine öffentliche Belästigung darstellten. Álvarez behauptet aber, dass die abgebildeten Szenen eine Sache der Vergangenheit wären, dessen Erinnerung in den Inszenierungen der Podestás wachgehalten wurde. Außerdem: Warum tanzten die beiden Männer am helllichten Tage in einer menschenleeren Straße, noch dazu ohne Musik?
Zur damaligen Zeit arbeiteten Photographen mit sperrigen Apparaten und großformatigen Negativplatten. Um eine Aufnahme zu machen, musste man die Kamera in Stellung bringen und für jedes Bild eine Negativplatte einschieben. Die Bilder wurden bevorzugt bei hellem Tageslicht aufgenommen, da es die Aufnahme und die Entwicklung der Photos erleichterte. Die abgedruckten Bilder zeigen, dass der „Führende“ mit nur einer Ausnahme immer auf die Kamera ausgerichtet ist. (Der Ausnahmefall zeigt die Rückenansicht einer anderen Aufnahme. Siehe Abbildung 5 unten.) Dazu trägt er dunkle Kleidung, die einen guten Kontrast zum Hintergrund und den anderen Tänzern bietet. Diese Beachtung von Details legt nahe, dass es sich bei den Bildern um sorgfältig gestellte Photographien handelt.
Vier der fünf Photos aus der „Sargento Pita”-Serie wurden mit der gleichen Kameraperspektive aufgenommen. Weder die Position der Tänzer, noch die der Kamera wurde verändert, sodass die Ausrichtung von Kamera und Objekt immer einander zugewandt ist. Wir folgern daraus, dass die Tänzer nicht tanzten, sonder für die Kamera posierten.
4. Tango criollo Tanzposen
|
Das gleiche gilt auch für die andere Serie von Tanz-Photographien. Wichtig im Vergleich der beiden Serien ist, dass es Übereinstimmungen in den Posen gibt. Drei dieser Posen erscheinen in beiden Serien.
5. Vergleichbare Tango-Posen
|
Was für Posen abgebildet sind, oder ob sie Namen haben, wird in den Artikeln nicht erwähnt. Die Bildlegenden sind lunfardo Ausdrücke, die sich des Tanzvokabulars bedienen. Aber anstatt die Bilder zu erläutern, sind es Redewendungen und Wortspiele, die die Leser amüsieren sollen. Zum Beispiel:
„Eine alte Axt ist nutzlos. Hier ist eine Schere für einen Schnitt (corte).
„Warum willst du 'Es werde Licht', wenn deine Mutter im Dunkeln sieht?“ („Es werde Licht“ war angeblich eine Anweisung an Tanzpaare, eine schickliche Distanz zueinander einzuhalten.)
„Auf Grund so eines Stopps (parada) fing mein Onkel an zu schielen.“
„Ständig kräht der Hahn, aber es gibt keine Gehörlosen, die ihn hören.“, usw.
Die obige Bildfolge läßt darauf schließen, dass die Posen zu einer Tango-Choreographie gehörten, mit der die Tänzer vertraut waren. Analog zur „technischen“ Tanzstunden in Buttaros Fumadas zeigen auch diese Bilder, dass Tango kein Tanzstil mit corte y quebrada mehr ist, sondern ein ausgeprägter Tanz.
Der Tänzer in der dunklen Jacke, der in beiden Bildsequenzen als „Führender“ zu sehen ist, könnte Arturo de Navas sein. (Siehe „El viejo tango que nació en el arrabal”, Teil 1.) Zur Zeit als die Podestás im Apolo auftraten und die Photographien aufgenommen wurden, war de Navas Mitglied des Ensembles. In der ersten Inszenierung von Justicia criolla in 1897 spielte de Navas den Gitarristen und stand während der Tango-Tanzszene auf der Bühne—und tanzte höchstwahrscheinlich mit. Es gibt daher gute Gründe anzunehmen, dass de Navas in den Photos abgebildet ist, aber wir haben bisher keinen Nachweis finden können, der es sicher belegt. Der Umstand aber, dass Álvarez in seinem Artikel so betont auf die Podestás und deren „Bewahrung“ des tango criollo hinweist, führt uns zu dem Schluß, dass es sich bei den Bildern, wenn nicht um de Navas selbst, so doch zumindest um Schauspieler aus dem Podestá Ensemble handelt.
VI. Tango breitet sich aus
Unser Versuch, die Entwicklung des Tangos als eigenständigen Tanz nachzuverfolgen, hat einen Zeitpunkt erreicht (um 1903), in der die Idee, dass der tango criollo in Buenos Aires beheimatet sei, im Allgemeinwissen Fuß gefasst hatte. Was wir aber dokumentiert haben ist nicht die Entwicklung des Tanzes, sondern die Entfaltung einer schauspielerischen Tradition der Darstellung. Tango, mit corte y quebrada tanzen, war komödiantische Schauspielerei, eine Parodie des „korrekten“ Tanzens. Gleichwohl, irgendwann begannen normale Menschen zum Vergnügen tango criollo zu tanzen. Wann geschah das?
1904, nur kurz nachdem die Photoserien über den Tango veröffentlicht wurden, zeigen sich die ersten Spuren einer Tanztradition, in der Tango in Buenos Aires für Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielen sollte: die Karnevalsbälle. In einem Bericht über die Tanzfeste in den Theatern lesen wir:
Entre los teatros populares, ha sido el Argentino el más favorecido por el elemento criollo. Allí el tango con «corte y quebrada» ha sido el predominante, notándose algunas parejas verdaderamente notables que arrancaron entusiastas aplausos al público de los palcos.
(Von den populären Theatern bevorzugten die criollos das [Teatro] Argentino. Dort überwiegte der Tango mit „corte y quebrada“, und es fielen einige wirklich beachtenswerte Paare auf, die stürmischen Applaus im Publikum der Logen auslösten.)
Dem Artikel zufolge wurde Tango in mehreren Theatern getanzt. Dies ist eine überraschende Aussage. Unserer Einschätzung nach ist es die früheste Erwähnung einer öffentlichen Veranstaltung in Buenos Aires, in der Tango als Gesellschaftstanz getanzt wurde. Nur ein Jahr früher wies Álvarez—sicherlich mit Ironie—Tango geringschätzend als Zeitvertreib „gelangweilter Faulenzer“ ab. Nun, 1904, wird Tango mit Orchesterbegleitung auf einem öffentlichen Ball von versierten Tänzern vor einem verständnisvollen Publikum getanzt.
Im folgenden Jahr, 1905, hatte sich der Enthusiasmus für Tango sogar noch gesteigert. In einem Rückblick auf die Karnevalstänze in Caras y caretas dieses Jahres heißt es:
Los tangos populares, con corte y quebrada, hicieron furor entre los bailarines, descollando en el Victoria por sus habilidades coreográficas una vieja que lo hacía a las mil maravillas, lo que demuestra que hasta en el tango es cierto el dicho de Martín Fierro: «El diablo sabe por diablo, pero más sabe por viejo»...En los programas de todos los teatros predominaron los tangos, los que, como el teatro nacional, están de moda...
(Für die Tänzer waren die populären Tangos mit „corte y quebrada“ der letzte Schrei. Eine alte Frau, die ihn fabelhaft tanzte, stach im Victoria hervor. Daran zeigt sich, wie sich das Sprichwort des Martín Fierro selbst beim Tango bewahrheitet: „Der Teufel weiss, weil er der Teufel ist, aber er weiss mehr, weil er alt ist.“…In den Programmen aller Theater dominierten die Tangos, der, wie das nationale Theater, in Mode ist...)
Der letzte Satz des Ausschnitts unterstreicht den wichtigsten Punkt unseres Argumentes, nämlich die untrennbare Verbindung des teatro criollo (d.h. des „nationalen Theaters“) und des tango criollo. Aber da ist mehr: In der gleichen Ausgabe von Caras y caretas wurde Ein modischer Tanz in einem ganz-seitigen Artikel beschrieben:
6. “Ein modischer Tanz” im Victoria Theater
|
Der Artikel enthält einen Text von Goyo Cuello, einem Redakteur für Theater und Musik, und fünf Photographien, die im Victoria Theater, vermutlich während Karnevalstänze, aufgenommen wurden.
Baile de Moda
Llegado el carnaval, el tango se hace dueño y señor de todos los programas de baile, y la razón es, que siendo el baile más libertino, sólo en estos días de locura puede tolerarse. No hay teatro donde no se anuncien tangos nuevos, lo que es un gran aliciente para la clientela de bailarines que deseosa de lucirse con las compadradas y firuletes á que da lugar tan lasciva danza, concurre á ellos como moscas á la miel.
Como espectáculo es algo original; en el Victoria, sobre todo, es donde tiene que admirar más...
(Ein modischer Tanz
Mit der Ankunft des Karnevals wird Tango der Herr und Meister all Tanzprogramme. Der Grund: er ist der zügelloseste Tanz, den man nur in diesen Tagen der Narrheit billigen kann. Es gibt kein Theater, das nicht neue Tangos anpreist. Wie Honig für Fliegen sind sie ein großer Anreiz für ein Tanzpublikum, das sich mit der Frechheit und Übertriebenheit, zu der dieser laszive Tanz einlädt, auszeichnen möchte.
Als Darbietung hat er etwas Originelles; insbesondere im Victoria muss man ihn bewundern...)
Mit dieser Einleitung ist die Verbindung zwischen dem Text, den Photographien und der vorangegangenen Reportage über die Karnevalstänze (siehe oben) hergestellt. Die übrige Beschreibung des Tanzes und der Veranstaltung stehen aber in starkem Kontrast zu den abgebildeten Photographien:
… La sala llena de gente alegre, por todas partes se oyen frases capaces de enrojecer el casco de un vigilante. En el fondo el malevaje de los suburbios con disfraces improvisados, en los palcos mozos bien y muchachas más bien todavía. De pronto, arranca la orquesta con un tango, y empiezan á formarse las parejas. El chinerío y el compadraje se unen en fraternal abrazo, y da principio la danza, en la que los bailarines ponen un arte tal, que es imposible describir las contorsiones, cuerpeadas, desplantes y taconeos á que da lugar el tango.
(… Der Saal ist voll mit fröhlichen Leuten, und von überall hört man Phrasen, die den Helm eines Polizisten erröten ließen. Im Hintergrund die Gauner der Vororte in improvisierten Kostümen, in den Logen die schicken Jungs und die noch schickeren Mädels. Plötzlich beginnt das Orchester mit einem Tango und die Paare fangen an, sich aufzustellen. Chinas und compadres umschließen sich in brüderlicher Umarmung. Und es beginnt der Tanz, in den die Tänzer eine derartige Kunstfertigkeit an den Tag legen, dass es unmöglich ist, die Verrenkungen, Flexionen, Beugungen und Stampfen zu beschreiben, zu denen der Tango Anlass gibt.)
Anstatt der „Gauner der Vororte in improvisierten Kostümen“, die sich beim Tango tanzen durch „Verrenkungen, Flexionen, Beugungen und Stampfen“ auszeichnen, sieht man in den Photographien eher gut gekleidete Paare, die in einwandfreier Haltung tanzen.
7. Tango-tanzenden „Gauner”?
|
War Goyo Cuello selbst auf dem Ball im Victoria anwesend? Wir glauben nicht. Seine Beschreibung der Veranstaltung ähnelt einer Szene aus dem teatro criollo mehr als einem Augenzeugenbericht. Der Text strotzt vor Klischees: die „Gauner“, die sich im Hintergrund halten (als hätten sie etwas zu verbergen); Söhne reicher Eltern und Frauen zweifelhaften Rufes in den Logen; Tango-Tänzer sind compadres und chinas aus den armen Vorstädten. Ebenso wird Tango als ein „zügelloser“ und „lasziver“ Tanz mit „wollüstig wiegenden Bewegungen“ bezeichnet. Diese Begriffe entstammen einem Vokabular, das nicht nur speziell auf Tango angewendet wurde, sondern allgemein zur Charakterisierung des Tanzens von Menschen der unteren sozialen Klassen herangezogen wurde. Anstatt einer wirklichen Tanzveranstaltung spiegelt sich in Cuellos Text die Darstellungsweise des Tangos im teatro criollo. So wie in Álvarez' Beitrag über den Tango criollo sind es auch in diesem Artikel die Photographien, die von Bedeutung sind. Der Text erläutert nicht die Bilder, sondern gibt Klischees wieder, die sich auf den Tanz beziehen, aber nichts mit der abgebildeten Veranstaltung zu tun haben.
Wir bezweifeln aber nicht, dass die Paare in den Photos Tango tanzen. Ein Vergleich der Photoserien in den Artikeln von Álvarez und Cuello läßt Übereinstimmungen in den Tanzposen erkennen. Man beachte die gekreuzten Beine der „Führenden“ in den folgenden Bildern.
8. Tango Tanzposen: gekreuzte Beine der „Führenden“
|
Die nächste Bildfolge zeigt vermutlich einen der „skandalösen“ Schritte des Tanzens „con corte”, der „meter pierna” (das Bein hineinschieben) genannt wurde.
9. Tango Tanzposen: “meter pierna”
|
Unsere Dokumentierung der Entwicklung des Tangos im teatro criollo der 1890iger Jahre bis zu den Karnevalsberichte in Caras y caretas von 1905 verdeutlicht die entscheidende Verbindung zwischen Theater und Tango. Der erste Hinweis auf Tango als ein criollo Tanz kommt aus dem Theater (1897, Justicia criolla). Der erste Nachweis, dass Tangos als Gesellschaftstanz von criollos getanzt wurde, kommt auch aus dem Theater (1904, die Karnevalstänze im Victoria). Bis zum darauffolgenden Jahr (1905) hatte sich Tango zum modischen Tanz der Karnevalsbälle, dem Höhepunkt der jährlichen Tanzsaison, entwickelt. Der Zeitraum von 1897 bis 1905 umfasst den Aufstieg des teatro criollo von den Anfängen bis zu dessen großer Popularität. In dieses Zeitfenster können wir ebenso die Entwicklung des argentinischen Tangos von einem Stil des Tanzens mit „corte y quebrada” zum eigenständigen Gesellschaftstanz verorten.
© 2020 Wolfgang Freis