Die argentinische
Illustrierte Caras y Caretas
veröffentlichte in den Jahren 1902-3 eine wöchentliche Kolumne mit
dem Titel „Photographische Spaziergänge durch die Stadt“, die
Artikel mit Photographien aus Buenos Aires wiedergab. Die Themen
änderten sich von Woche zu Woche: Persönlichkeiten und Typen der
Stadt, Ansichten von Straßen und Häusern in schlechtem Zustand,
Unfälle, Merkwürdigkeiten, usw. waren gängige Inhalte. Signiert
wurden die Artikel von Sargento Pita („Polizeiwachtmeister Pfeift“),
einem Pseudonym, hinter dem sich wahrscheinlich José Álvarez (auch:
„Fray Mocho“), der Direktor der Zeitschrift, befand.
Ein
Artikel sticht hervor; nicht nur, weil er vielleicht der erste war,
der den Tango thematisierte, sondern auch, weil er Photographien von
Tangotänzern enthält.
Tango Criollo
Er ist kaum Bürger von
Buenos Aires und hat es noch nicht geschafft, sich an seine Umgebung
zu gewöhnen: so wie seine Vorgängerin, die Milonga, die es
schwierig fand, sich unter dem Dach der ländlichen Höfe, wo die
Gitarre der criollos das
ferne Gedächtnis Andalusiens belächelt, zu Hause zu fühlen.
Der
gato und der
pericón hier in
der Pampa und die cueca
in den Bergen haben hartnäckig die Anmut und Grazie verteidigt, die
ihnen ihre ursprüngliche Wiege vermachte. Die wollüstige und
schlüpfrige Liebkosung, mit der der afrikanische Candombe die
ländlichen Tänze verfälschen wollte, fand außerhalb des perigundín
und der [Tanz-] Akademie keine begünstigte Umgebung.
Die
gemessenen und schlaftrunkenen Habaneras eroberten mit Leichtigkeit
den trägen compadrito,
der sich schon am schlüpfrigen Schütteln der Milonga ergötzte.
Beide [Tänze] erschufen den plebejischen Tango, dessen
Anfangsschritte ein paar kümmerliche Paare von gelangweilten
Nichtstuern heute in den Gassen der Mietskasernen zum Klang des
Leierkastens üben, wie eine Nachahmung anderer Zeiten,.
Diese
[Tänzer] sind nicht die Gestalten des klassischen Tanzsaals des
regionalen Tanzes, wo corte
und quebrada und
der schneidige Gevatter Dolch-im-Strumpfband, der sich an einer
Prügelei ebenso beteiligte wie an einer Liebesaffäre oder Intrige,
souverän regierten.
Erhalten
wurde die Erinnerung an den Tangos dank der Podestá, welche sie
pflegen. Aber die Gestalt des streitbaren compadres,
der ihn tanzte, ist für immer verloren. Seine verschwimmenden
Umrisse werden kaum noch von den paar Hinterbliebenen irgendeines
blutigen Dramas von damals heraufbeschworen.
Die
von Alto und Balvanera sind verschwunden: mit ihren ländlichen
Hosen; dem Poncho über der Schulter; auf den Lippen freche
Unverschämtheit, die untrennbare Begleiterin des heimtückischen
Dolches und der Stöckelschuhe, die den Schritt behinderten und ein
feminines Schwingen der das Gleichgewicht suchenden Hüften
erzwangen!
Heute
ist [Tango] kein Parteibanner mehr, wie in den Tagen der Anhänger
von Mitre und Alsina, sondern einfache Straßenunterhaltung im Kreise
müßiger Freunde. Und wenn wir noch nicht seinem Tode beiwohnen, so
hören wir doch die Glocke seinen Todeskampf verkünden.
Aber
vielleicht stirbt er trotzdem nicht. Aus Europa hören wir
(erfreulich für die, die sich mit cortes
und hamacadas
auskennen), dass der Tango der Yankees—dass heisst, der unsrige ins
Englische übersetzt und als cake-walk
importiert—bei den Tanzabenden der Pariser Aristokratie Aufsehen
erregt.
Wer
weiß, ob nicht schon die Podestá gebeten wurden, den traditionellen
Tanz unserer compadritos,
den sie unter so vielen Opfern bewahrt haben, nach Frankreich zu
bringen? Und mit ihm einige dieser abendlichen Straßentänzer, die
die Polizei heutzutage als Eckensteher und „unangebracht
Beschäftigte“ aufzugreifen pflegt?
Werden
die roten Nelken, die die Wange züchtigen, wieder blühen? Der
stöckelnde und grazile Schritt und die quebrada,
die den Boden mit dem Ohr fegte?
Der
criollo compadrito
und der eingelebte Italiener aus La Boca waren die bekannten
Kultivatoren des Tangos, aber die einen wie die anderen sind mit
ihrer eigentümlichen Kleidung von der Szene verschwunden. Um sie
heute wiederzubeleben, wird man Szenen aus anderen Zeiten nachbilden,
sich mit groben Umrissen begnügen und interessante sowie malerische
Details übergehen müssen.
Sergeant
Pita
In
neuerer Zeit wurde der Artikel als ein frühes Beispiel für eine
Geschichte des Tangos interpretiert (Hugo Lamas, Enrique Binda: El
Tango en la Sociedad Porteña, 1880-1920,
1998). Als solche wurde er auch sehr kritisch beurteilt. Tatsächlich
ist der Text schwer zu verstehen und erwähnt die relevanten
historischen Hintergründe sehr nachlässig. Es ist allerdings
interessant, dass er schon einige Mythen und Legenden enthält, die
später zum festen Bestandteil der Tangogeschichte wurden. Die
Photographien (zwei tanzende Männer), z.B., spielen auf die (nicht
haltbare) Ansicht an, dass Tango anfangs nur von Männern getanzt
wurde. Zur Tango-Mythologie gehört es auch, dass der „plebejische“
Tango von der „schlüpfrigen“ Milonga und der „schlaftrunkenen“
Habanera beeinflusst wurde; dass er von faulen Halunken der untersten
Gesellschaftsschichten kreiert wurde, deren Tänze oft in Streit und
Messerstechereien endeten. Typisch für die „Geschichtsschreibung“
in diesem Artikel sowie in späteren Versuchen ist, dass die
beschriebenen Ereignisse immer in einer schleierhaften Vergangenheit
stattfanden, in der die Autoren nicht anwesend waren und die sie
nicht genauer festlegen können.
Aber
vielleicht sollte man von diesem Artikel nicht verlangen, was er
nicht verspricht. Er erhebt keinen auf Anspruch auf
Geschichtsschreibung. „Polizeiwachtmeister Pfeift“ weist auf Zu-
und Missstände in Buenos Aires im Jahre 1903 hin, und dies auch mit
einem ironischen Augenzwinkern.
Die
Photographien in einer regelmäßigen Kolumne von Caras y
Caretas erschienen zu lassen,
deutet an, dass man sie als zufällige Aufnahmen aus dem Stadtleben
präsentieren wollte. Eine spätere Ausgaben der Zeitschrift
widerspricht aber dieser Annahme. Sechs Monate nach dem Artikel wurde
ein Klavierauszug des Tangos El Maco
von Miguel Tornquist in Caras y Caretas
abgedruckt. (Tornquist war der der musikalisch veranlagte Sprössling
einer der vornehmsten Familien von Buenos Aires.) Sechs Photographien
eines tango-tanzenden Paares, diesmal eine Frau und ein Mann,
illustrierten die Noten.
Es
ist offensichtlich, dass die beiden Photoserien zusammengehören. Der
“Führende” ist in beiden der selbe, und da er die gleiche
Kleidung trägt, kann man annehmen, dass die Photos zur gleichzeitig
aufgenommen wurden. Dies wird auch dadurch bekräftigt, dass einige
der Posen übereinstimmen.
Die
Tänzer der beiden Serien werden nicht mit Namen genannt. Lamas und
Binda identifizierten aber einen Tänzer—leider ohne Angabe der
Quelle—als Arturo de Nava (wahrscheinlich ist er der „Führende“).
De Nava stellt auch eine Verbindung zu einem anderen Namen her, der
im Artikel erwähnt wird: dem der Podestá.
Die
Podestá Brüder waren eine Familie von Zirkusartisten, die sich mit
der Aufführung von Gaucho-Melodramen einen Namen gemacht hatten. Am
Ende des 19. Jahrhunderts wechselten sie vom Zirkus ins Theater und
spezialisierten sich auf Stücke, die das Stadtpublikum ansprachen
und in den Vororten und Mietskasernen von Buenos Aires, also dem
Milieu des Tangos, spielten. Antonio Podestá wird es zugeschrieben,
den ersten Tango für ein Theaterstück komponiert zu haben, der von
seinem Bruder Pablo getanzt wurde.
Zur
Zeit der Veröffentlichung der Photographien was Arturo de Nava ein
bekannter Sänger, Komponist und Schauspieler in der Podestá Truppe
und trat oft als Tangotänzer auf. Wenn er der Abgebildete war, dann
wurde er sicherlich von vielen Lesern wiedererkannt. Dass er nicht
genannt wurde entspricht aber der Thematik der Zeitschriftenspalte:
gezeigt werden nicht zwei Schauspieler, die Tango tanzen, sondern
zwei „Eckensteher und 'unangebracht Beschäftigte'“, die
„Polizeiwachtmeister Pfeift“ zur Ordnung ruft.
Der
Artikel wurde im Februar 1903 veröffentlicht, kurz vor dem Höhepunkt
der jährlichen Tanzsaison, dem Karneval, zu dessen Abschluss die
größten öffentlichen Tanzveranstaltungen in den Theatern
stattfanden. Zu diesen Theatern gehörte das Apolo, in dem die
Podestá auftraten. Da Tango nun auf der Bühne aufgeführt wurde,
wurde er auch beim Publikum beliebt—besonders bei den
Karnevals-Tänze in den Theatern. Caras y Caretas
berichtete über die Tänze in den Theatern zu ersten Mal im Februar
1904:
Die
Karnevals-Tänze
...
Der
cake-walk (dieser Tanz, von dem manche behaupten, er sei ein
Symbol des Lebenskampfes) war der Clou der Tänze an der Oper. Er
wurde in allen Formen—von der korrektesten bis zur größten
Übertreibung—zu lebhaftem Gelächter und tosendem Applaus getanzt.
Der Yankee-Tanz überwog in solchem Maße, dass sogar Tangos im Stil
„cake-walk“ getanzt wurden.
Der
zweite Platz gebührt, wie immer, dem Politeama, in dem eine enormes
Publikum, welches bereit war, sich im Rahmen der Vernunft zu
amüsieren, einen angenehmen Abend mit angemessenen Späßen,
funkelnden Streichen und einer Fülle von Tangos verbrachte. Von den
populären Theater wurde das Argentino am meisten von criollo
Teilnehmern begünstigt. Dort war der Tango mit corte und
quebrada tonangebend. Es zeigten sich einige wirklich
bemerkenswerte Paare, die dem Publikum in den Logen begeisterten
Applaus entlockten...
...
Im
Marconi, Apolo, Victoria und Nacional wurde ebenso enthusiastisch
getanzt, und es gab Momente, wo das Gedränge der Tänzer so groß
war, dass man sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnte.
Es
zeigt sich, dass das Erscheinen des Tangos auf der Theaterbühne
entscheidend zu seiner Popularisierung in der breiten Öffentlichkeit
beigetragen hat. Der mythische Tango der Vorzeit war tot, so wie der
Artikel es versichert, aber auf der Bühne wurde er im Gedächtnis
behalten und dem Publikum durch die Podestà vermittelt, das es mit
zunehmender Begeisterung aufnahm. War die Tatsache, dass
„Polizeiwachtmeister Pfeift“ einen bekannten Schauspieler als
Tango-tanzenden Nichtstuer aufgreift, ein Zeichen exekutiven
Übereifers?
© 2017 Wolfgang Freis
No comments:
Post a Comment