Tango ist eine Musikform,
die sich innerhalb der westlichen Dur-Moll-Tonalität entwickelt hat.
Unter Tonalität versteht man ein System von Verknüpfungen zwischen
Tönen (geordnet in Tonleitern), Akkorden (gleichzeitig
erklingendeTöne) und den Funktionen (Anwendungen) der Akkorde. Aus
Tonleitern und Akkorden setzt sich eine Tonart zusammen. Man spricht
zum Beispiel von einem Stück in C-Dur, wenn es auf der C-Dur
Tonleiter und den sich daraus ergebenen Akkorden basiert.
Dementsprechend ist eine Komposition in a-Moll auf der a-Moll
Tonleiter und ihrer Akkorde aufgebaut.
Fragt man einen Musiker,
wie man eine Tonart bestimmt, so wird man oft hören, dass die
Tonleiter und der Schlussakkord des Stückes die Kennzeichen einer
Tonart sind. Das erweist sich in den meisten Fällen als richtig,
aber letztlich ist die Aussage nicht korrekt. Der Einsatz einer C-Dur
Tonleiter und eines C-Dur Schlussakkordes allein kann nicht als Indiz
genommen werden, dass das Stück „in“ C-Dur ist. Um „in“
einer Tonart zu sein, müssen die anderen Akkorde des Stückes zum
C-Dur-Akkord in einem bestimmten Verhältnis stehen. Das ist das
Prinzip der Tonalität, und die Harmonielehre ist eine
Zusammenstellung von Regeln, mit denen die Tonalität artikuliert
wird.
Wir werden uns im
folgenden auf zwei grundlegende Regeln der Harmonie konzentrieren:
- eine tonale Komposition hat einen Grundakkord, die Tonika, zu der alle anderen Akkorde streben und sich auflösen
- so wie die Tonika eine Phase des Ankommens und der Entspannung darstellt, so bildet die Dominante einen Gegenpol der Spannung, der zur Auflösung in der Tonika neigt
Die Tonika besteht aus dem
Grundton der Tonleiter und dem Akkord, der darauf gebildet wird. Das
entspricht dem oben erwähntem Tonalitätsbegriff des Musikers, d.h.
der Tonleiter, die auf der Tonika beginnt, und dem Schlussakkord. Da
die Tonika den ersten Ton der Tonleiter bildet, wird sie in der
harmonischen Analyse gewöhnlich durch die römische Ziffer I
angezeigt.
Die Dominante wird auf der
Quinte (fünf Stufen der Tonleiter) über dem Grundton gebildet. Sie
ist der Gegenpol zur Tonika und strebt zur Auflösung in die Tonika.
Eine harmonische Progression von der Dominante zur Tonika ist die
einfachste Methode mit der die Tonika als tonaler Mittelpunkt einer
Komposition aufgebaut wird. In einer harmonischen Analyse wird sie
üblicherweise durch die römische Ziffer V angezeigt.
Die Verbindung von Tonika
und Dominante wurde von Komponisten nicht zufällig oder willkürlich
zur Harmonisierung ihrer Stücke ausgewählt. Der Grund liegt
vielmehr in der menschlichen Wahrnehmung von Musik. Wir neigen dazu,
eine abwärts schreitende musikalische Bewegung von der Dominante zur
Tonika als eine Auflösung von Spannung zu empfinden.
Beispiel 1: Auf- und absteigende Tonleiter in Dur
Ähnlich vermittelt eine
harmonische Progression von der Tonika zur Dominante eine Empfindung
des Ankommens und der Entspannung. (Die letzten beiden Takte des
folgenden Beispiels geben eine Akkordfolge von Dominante [V] und
Tonika [I] wieder.)
Beispiel 2: Harmonische Progression in Dur
Beispiel 2 gibt eine harmonische Progression wieder, die in der tonalen Musik häufig angetroffen wird: eine Kadenz. Eine Kadenz ist eine melodisch-harmonische Formel, die verwendet wird, um eine Empfindung der Auflösung und Endgültigkeit zu vermitteln. Typischerweise steht sie am Schluss von Stücken. Jeder Tangotänzer kennt (oder sollte ihn zumindest kennen) den Abschluss-“Chan-chan“ eines Tangos, mit dem der das Stück endet. Musikalisch ausgedrückt ist das eine Kadenz, die Schlusskadenz, und die stärkste eines Tangos. Wehe denen, die nach dem „Chan-chan“ noch weiter tanzen wollen!
Kadenzen erscheinen aber
nicht nur am Ende von Stücken. Sie werden auch in unendlicher
Vielfalt verwendet, um Melodien oder Phrasen abzugrenzen, und
fungieren so als Zielpunkte und Übergänge zum Darauffolgenden. Mit
Hilfe dieser Kadenzen entfaltet sich die Tonalität eines Stückes
und wird dem Hörer vermittelt..
2. El Incendio
von Arturo De Bassi
2. El Incendio
von Arturo De Bassi
Wenden wir uns nun zur
Veranschaulichung einem instrumentalen Tango von Arturo De Bassi zu,
El Incendio. (Drei
Aufnahmen—von Carlos di Sarli, Juan D'Arienzo und Rodolfo
Biagi—werden heute noch öfters auf Milongas gespielt.)
Arturo De Bassi wuchs in
einer Musikerfamilie auf. Mit dreizehn Jahren (1903) trat er als
Klarinettist in das Orchester des Apolo-Theaters in Buenos Aires ein.
Drei Jahre später komponierte er seinen ersten Tango, El Incendio
(“Der Brand”), zu dem ihn die Signalfanfaren der Feuerwehr
angeregt hatten. (Die Pferdefuhrwerke waren noch nicht mit Sirenen
ausgestattet. Offensichtlich blies man stattdessen in Buenos Aires
Signalhörner.) De Bassi veröffentlichte das Stück mit großem
Erfolg im Selbstverlag und gab an, über 50.000 Kopien verkauft zu
haben.
3.
Die formale Gliederung
Wie
die meisten instrumentalen Tangos des ersten Viertels des 20.
Jahrhunderts besteht El Incendio aus drei Teilen
(hiernach als A, B und C gekennzeichnet). Der dritte Teil, der sich
musikalisch von den anderen Teilen differenziert, wurde oft als
„Trio“ betitelt. El Incendio
weist keine „Trio“-Bezeichnung auf, ist aber auch so komponiert,
dass der dritte Teil einen Kontrast bietet. Die Melodien der Teile A
und B beginnen zum Beispiel in einer hohen Stimmlage, auf die eine
absteigende Tonlinie folgt. Die Melodie im Teil C beginnt dagegen in
der tiefen Tonlage und setzt sich aufsteigend fort.
Beispiel 3: El Incendio, Teil A, absteigende Melodie |
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Die drei Teilen eines
Tangos wurden nicht
einfach von A bis C durchgespielt, sondern sie wurden wiederholt. Die
Reihenfolge der Wiederholungen wurde oft vom Komponisten vorgegeben,
aber die Musiker fühlten sich nicht unbedingt daran gebunden.
Vergleiche von verschiedenen Aufnahmen zeigen vielmehr, dass die drei
Teile unterschiedlich wiederholt oder ausgetauscht wurden. Die
meisten Aufnahmen von El
Incendio folgen allerdings
einem typischen Wiederholungsschema, in dem A am Anfang und nach den
anderen Teilen gespielt wird. Daraus ergibt sich das folgende
symmetrische Schema: A B A C A. (Auch Firpo, dessen Aufnahme unten
als Beispiel 12 angeführt ist, folgt diesem Schema.)
4. Eine einfache harmonische Analyse
Die
folgenden Musikbeispiele stammen aus einem Klavierauszug von El
Incendio und einer Aufnahme von Roberto Firpo und seinem
Orchester aus dem Jahre 1927. Der Klavierauszug stimmt natürlich
nicht in allen Details mit dem Orchesterarrangement überein, aber
diese Abweichungen wirken sich nicht auf unsere Erörterung aus.
Die
harmonische Analyse geht nicht auf Details ein und zielt nur darauf
ab, das Zusammenwirken von Tonika und Dominante aufzuzeigen. In den
Notenbeispielen ist die Tonart links unter den Notensystemen in
Majuskeln angegeben. Rechts davon wird das Auftreten von Tonika und
Dominante durch die römischen Ziffern I und V angezeigt.
Die
drei Teile von El Incendio
sind eigenständige Sätze mit unterschiedlichen Melodien, die sich
über 32 Takte erstrecken und eine starke Schlusskadenz aufweisen.
Teil A ist in F-Dur geschrieben, d.h., die Vorzeichen der Noten
weisen auf den Gebrauch der F-Dur Tonleiter hin. Auch der
Schlussakkord ist in F-Dur.
Beispiel 6: El Incendio, Teil A
Zusammenfassend
kann man die harmonische Entwicklung von Teil A so beschreiben, dass
sie mit der Tonika beginnt, dann zwischen Tonika und Dominante
pendelt und danach mit der Tonika abschließt. Tonika und Dominante
sind die vorherrschenden Harmonien dieses Abschnitts. (Während des
Ablaufs werden auch andere Harmonien berührt, die hier nicht weiter
besprochen werden.) Da die Tonika immer auf die Dominante folgt
(d.h., V löst sich zu I auf), läßt sich folgern, dass der A-Teil
„in“ F-Dur steht.
Teile
B und C unterscheiden sich in einem wichtigen Gesichtspunkt von A:
sie stehen nicht in F-Dur, sonder in C-Dur. Das deuten nicht nur die
Vorzeichen und der Schlussakkorden hin. Die harmonische Bewegung
pendelt genauso zwischen Tonika und Dominante wie im A-Teil—nur in
C-Dur.
Beispiel 7: El Incendio, Teil B
Beispiel 8: El Incendio, Teil C
Angesichts
von drei Teilen und zwei Tonarten in diesem Stück stellt sich die
Frage: ist El Incendio
“in” einer bestimmten Tonart, oder gibt es verschiedene Tonarten?
Wenn es nur eine gibt, welche ist „die“ Tonart? Die Antwort dazu
liegt im Wiederholungsschema, in dem das Stück gespielt wird. Durch
die Abfolge A B A C A ergibt sich, dass das Stück in F-Dur beginnt
und endet. Die beiden Teile in C-Dur sind Exkurse zur Dominante, also
vorübergehende Abweichungen, die von der Tonika umrahmt werden. Die
Herausbildung der Tonart kann wie folgt dargestellt werden:
Beispiel 9: El Incendio, Tonika, Dominante und formale Struktur |
In
der harmonischen Struktur ist F-Dur ist der Ausgangspunkt sowie das
Ziel der Auflösungen der C-Dur Episoden. Das Verhältnis von B und C
zu A ist ein klares Beispiel der Verbindung von Dominante und
Tonika—von Spannung und Auflösung. Wir können daher eindeutig
feststellen, dass El Incendio
„in“ einer Tonart komponiert wurde, und zwar in F-Dur.
Es
ist wichtig festzustellen, dass sich die Regeln der Harmonielehre auf
allen Ebenen der Komposition manifestieren. Die Beziehung von Tonika
und Dominante beherrscht den tonalen Ablauf innerhalb der einzelnen
Teile und bestimmt die Beziehung der Teile zueinander. Damit spiegelt
die formale Gestaltung des Stückes den harmonischen Aufbau der
einzelnen Teile wieder.
5. Einschätzung
De
Bassis El Incendio ist eine hervorragende Komposition, die
ihren Reiz in mehr als hundert Jahren nicht eingebüßt hat. Die
Einarbeitung der Signalfanfaren in das melodische Gewebe ist amüsant
und macht das Stück auf Anhieb wiedererkennbar. Darüberhinaus ist
El Incendio formal und harmonisch ausgeglichen und
gleichzeitig faszinierend. Nicht schlecht für das Werk eines
Sechzehn-jährigen!
Ohne
die Leistungen des Komponisten abwerten zu wollen, muss aber dennoch
darauf hingewiesen werden, daß die harmonische Gestaltung von El
Incendio nicht De Bassis
Erfindung war. Sie ist auch nicht spezifisch für Tangomusik. Sie ist
vielmehr eine der verbreitetsten Methoden in der westlichen Musik,
ein Instrumentalstück zu strukturieren. Der Komponist hat es aber
fertiggebracht, diese Methode mit Fertigkeit, Geschmack und Intuition
zu einem hervorragenden Tango zusammenzustellen. Daran zeigt sich
auch, dass Arturo De Bassi, Sprössling einer Musikerfamilie, eine
solide musikalische Ausbildung erhalten hatte.
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Beispiel 10: El Incendio, Aufnahme von Roberto Firpo und seinem orquesta típica, 1927
© 2017 Wolfgang Freis
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