Wednesday, October 4, 2017

Eine kurze Tango-Harmonielehre, Teil I

1. Einleitung


Tango ist eine Musikform, die sich innerhalb der westlichen Dur-Moll-Tonalität entwickelt hat. Unter Tonalität versteht man ein System von Verknüpfungen zwischen Tönen (geordnet in Tonleitern), Akkorden (gleichzeitig erklingendeTöne) und den Funktionen (Anwendungen) der Akkorde. Aus Tonleitern und Akkorden setzt sich eine Tonart zusammen. Man spricht zum Beispiel von einem Stück in C-Dur, wenn es auf der C-Dur Tonleiter und den sich daraus ergebenen Akkorden basiert. Dementsprechend ist eine Komposition in a-Moll auf der a-Moll Tonleiter und ihrer Akkorde aufgebaut.

Fragt man einen Musiker, wie man eine Tonart bestimmt, so wird man oft hören, dass die Tonleiter und der Schlussakkord des Stückes die Kennzeichen einer Tonart sind. Das erweist sich in den meisten Fällen als richtig, aber letztlich ist die Aussage nicht korrekt. Der Einsatz einer C-Dur Tonleiter und eines C-Dur Schlussakkordes allein kann nicht als Indiz genommen werden, dass das Stück „in“ C-Dur ist. Um „in“ einer Tonart zu sein, müssen die anderen Akkorde des Stückes zum C-Dur-Akkord in einem bestimmten Verhältnis stehen. Das ist das Prinzip der Tonalität, und die Harmonielehre ist eine Zusammenstellung von Regeln, mit denen die Tonalität artikuliert wird.

Wir werden uns im folgenden auf zwei grundlegende Regeln der Harmonie konzentrieren:

  1. eine tonale Komposition hat einen Grundakkord, die Tonika, zu der alle anderen Akkorde streben und sich auflösen
  2. so wie die Tonika eine Phase des Ankommens und der Entspannung darstellt, so bildet die Dominante einen Gegenpol der Spannung, der zur Auflösung in der Tonika neigt

Die Tonika besteht aus dem Grundton der Tonleiter und dem Akkord, der darauf gebildet wird. Das entspricht dem oben erwähntem Tonalitätsbegriff des Musikers, d.h. der Tonleiter, die auf der Tonika beginnt, und dem Schlussakkord. Da die Tonika den ersten Ton der Tonleiter bildet, wird sie in der harmonischen Analyse gewöhnlich durch die römische Ziffer I angezeigt.

Die Dominante wird auf der Quinte (fünf Stufen der Tonleiter) über dem Grundton gebildet. Sie ist der Gegenpol zur Tonika und strebt zur Auflösung in die Tonika. Eine harmonische Progression von der Dominante zur Tonika ist die einfachste Methode mit der die Tonika als tonaler Mittelpunkt einer Komposition aufgebaut wird. In einer harmonischen Analyse wird sie üblicherweise durch die römische Ziffer V angezeigt.


Die Verbindung von Tonika und Dominante wurde von Komponisten nicht zufällig oder willkürlich zur Harmonisierung ihrer Stücke ausgewählt. Der Grund liegt vielmehr in der menschlichen Wahrnehmung von Musik. Wir neigen dazu, eine abwärts schreitende musikalische Bewegung von der Dominante zur Tonika als eine Auflösung von Spannung zu empfinden.



Beispiel 1: Auf- und absteigende Tonleiter in Dur



Ähnlich vermittelt eine harmonische Progression von der Tonika zur Dominante eine Empfindung des Ankommens und der Entspannung. (Die letzten beiden Takte des folgenden Beispiels geben eine Akkordfolge von Dominante [V] und Tonika [I] wieder.)



Beispiel 2: Harmonische Progression in Dur


Beispiel 2 gibt eine harmonische Progression wieder, die in der tonalen Musik häufig angetroffen wird: eine Kadenz. Eine Kadenz ist eine melodisch-harmonische Formel, die verwendet wird, um eine Empfindung der Auflösung und Endgültigkeit zu vermitteln. Typischerweise steht sie am Schluss von Stücken. Jeder Tangotänzer kennt (oder sollte ihn zumindest kennen) den Abschluss-“Chan-chan“ eines Tangos, mit dem der das Stück endet. Musikalisch ausgedrückt ist das eine Kadenz, die Schlusskadenz, und die stärkste eines Tangos. Wehe denen, die nach dem „Chan-chan“ noch weiter tanzen wollen!

Kadenzen erscheinen aber nicht nur am Ende von Stücken. Sie werden auch in unendlicher Vielfalt verwendet, um Melodien oder Phrasen abzugrenzen, und fungieren so als Zielpunkte und Übergänge zum Darauffolgenden. Mit Hilfe dieser Kadenzen entfaltet sich die Tonalität eines Stückes und wird dem Hörer vermittelt..



2. El Incendio von Arturo De Bassi



Wenden wir uns nun zur Veranschaulichung einem instrumentalen Tango von Arturo De Bassi zu, El Incendio. (Drei Aufnahmen—von Carlos di Sarli, Juan D'Arienzo und Rodolfo Biagi—werden heute noch öfters auf Milongas gespielt.)





Arturo De Bassi wuchs in einer Musikerfamilie auf. Mit dreizehn Jahren (1903) trat er als Klarinettist in das Orchester des Apolo-Theaters in Buenos Aires ein. Drei Jahre später komponierte er seinen ersten Tango, El Incendio (“Der Brand”), zu dem ihn die Signalfanfaren der Feuerwehr angeregt hatten. (Die Pferdefuhrwerke waren noch nicht mit Sirenen ausgestattet. Offensichtlich blies man stattdessen in Buenos Aires Signalhörner.) De Bassi veröffentlichte das Stück mit großem Erfolg im Selbstverlag und gab an, über 50.000 Kopien verkauft zu haben.


3. Die formale Gliederung


Wie die meisten instrumentalen Tangos des ersten Viertels des 20. Jahrhunderts besteht El Incendio aus drei Teilen (hiernach als A, B und C gekennzeichnet). Der dritte Teil, der sich musikalisch von den anderen Teilen differenziert, wurde oft als „Trio“ betitelt. El Incendio weist keine „Trio“-Bezeichnung auf, ist aber auch so komponiert, dass der dritte Teil einen Kontrast bietet. Die Melodien der Teile A und B beginnen zum Beispiel in einer hohen Stimmlage, auf die eine absteigende Tonlinie folgt. Die Melodie im Teil C beginnt dagegen in der tiefen Tonlage und setzt sich aufsteigend fort.

El Incendio, Teil A, absteigende Melodie
Beispiel 3: El Incendio, Teil A, absteigende Melodie

Beispiel 4: El Incendio, Teil B, absteigende Melodie
Beispiel 4: El Incendio, Teil B, absteigende Melodie
Beispiel 5: El Incendio, Teil C, aufsteigende  Melodie
Beispiel 5: El Incendio, Teil C, aufsteigende  Melodie


Die drei Teilen eines Tangos wurden nicht einfach von A bis C durchgespielt, sondern sie wurden wiederholt. Die Reihenfolge der Wiederholungen wurde oft vom Komponisten vorgegeben, aber die Musiker fühlten sich nicht unbedingt daran gebunden. Vergleiche von verschiedenen Aufnahmen zeigen vielmehr, dass die drei Teile unterschiedlich wiederholt oder ausgetauscht wurden. Die meisten Aufnahmen von El Incendio folgen allerdings einem typischen Wiederholungsschema, in dem A am Anfang und nach den anderen Teilen gespielt wird. Daraus ergibt sich das folgende symmetrische Schema: A B A C A. (Auch Firpo, dessen Aufnahme unten als Beispiel 12 angeführt ist, folgt diesem Schema.)


4. Eine einfache harmonische Analyse


Die folgenden Musikbeispiele stammen aus einem Klavierauszug von El Incendio und einer Aufnahme von Roberto Firpo und seinem Orchester aus dem Jahre 1927. Der Klavierauszug stimmt natürlich nicht in allen Details mit dem Orchesterarrangement überein, aber diese Abweichungen wirken sich nicht auf unsere Erörterung aus.


Die harmonische Analyse geht nicht auf Details ein und zielt nur darauf ab, das Zusammenwirken von Tonika und Dominante aufzuzeigen. In den Notenbeispielen ist die Tonart links unter den Notensystemen in Majuskeln angegeben. Rechts davon wird das Auftreten von Tonika und Dominante durch die römischen Ziffern I und V angezeigt.


Die drei Teile von El Incendio sind eigenständige Sätze mit unterschiedlichen Melodien, die sich über 32 Takte erstrecken und eine starke Schlusskadenz aufweisen. Teil A ist in F-Dur geschrieben, d.h., die Vorzeichen der Noten weisen auf den Gebrauch der F-Dur Tonleiter hin. Auch der Schlussakkord ist in F-Dur.



Beispiel 6: El Incendio, Teil A



Zusammenfassend kann man die harmonische Entwicklung von Teil A so beschreiben, dass sie mit der Tonika beginnt, dann zwischen Tonika und Dominante pendelt und danach mit der Tonika abschließt. Tonika und Dominante sind die vorherrschenden Harmonien dieses Abschnitts. (Während des Ablaufs werden auch andere Harmonien berührt, die hier nicht weiter besprochen werden.) Da die Tonika immer auf die Dominante folgt (d.h., V löst sich zu I auf), läßt sich folgern, dass der A-Teil „in“ F-Dur steht.


Teile B und C unterscheiden sich in einem wichtigen Gesichtspunkt von A: sie stehen nicht in F-Dur, sonder in C-Dur. Das deuten nicht nur die Vorzeichen und der Schlussakkorden hin. Die harmonische Bewegung pendelt genauso zwischen Tonika und Dominante wie im A-Teil—nur in C-Dur.



Beispiel 7: El Incendio, Teil B




Beispiel 8: El Incendio, Teil C




Angesichts von drei Teilen und zwei Tonarten in diesem Stück stellt sich die Frage: ist El Incendio “in” einer bestimmten Tonart, oder gibt es verschiedene Tonarten? Wenn es nur eine gibt, welche ist „die“ Tonart? Die Antwort dazu liegt im Wiederholungsschema, in dem das Stück gespielt wird. Durch die Abfolge A B A C A ergibt sich, dass das Stück in F-Dur beginnt und endet. Die beiden Teile in C-Dur sind Exkurse zur Dominante, also vorübergehende Abweichungen, die von der Tonika umrahmt werden. Die Herausbildung der Tonart kann wie folgt dargestellt werden:

El Incendio, tonic/dominant relationships between sections
Beispiel 9: El Incendio, Tonika, Dominante und formale Struktur

In der harmonischen Struktur ist F-Dur ist der Ausgangspunkt sowie das Ziel der Auflösungen der C-Dur Episoden. Das Verhältnis von B und C zu A ist ein klares Beispiel der Verbindung von Dominante und Tonika—von Spannung und Auflösung. Wir können daher eindeutig feststellen, dass El Incendio „in“ einer Tonart komponiert wurde, und zwar in F-Dur.


Es ist wichtig festzustellen, dass sich die Regeln der Harmonielehre auf allen Ebenen der Komposition manifestieren. Die Beziehung von Tonika und Dominante beherrscht den tonalen Ablauf innerhalb der einzelnen Teile und bestimmt die Beziehung der Teile zueinander. Damit spiegelt die formale Gestaltung des Stückes den harmonischen Aufbau der einzelnen Teile wieder.


5. Einschätzung


De Bassis El Incendio ist eine hervorragende Komposition, die ihren Reiz in mehr als hundert Jahren nicht eingebüßt hat. Die Einarbeitung der Signalfanfaren in das melodische Gewebe ist amüsant und macht das Stück auf Anhieb wiedererkennbar. Darüberhinaus ist El Incendio formal und harmonisch ausgeglichen und gleichzeitig faszinierend. Nicht schlecht für das Werk eines Sechzehn-jährigen!


Ohne die Leistungen des Komponisten abwerten zu wollen, muss aber dennoch darauf hingewiesen werden, daß die harmonische Gestaltung von El Incendio nicht De Bassis Erfindung war. Sie ist auch nicht spezifisch für Tangomusik. Sie ist vielmehr eine der verbreitetsten Methoden in der westlichen Musik, ein Instrumentalstück zu strukturieren. Der Komponist hat es aber fertiggebracht, diese Methode mit Fertigkeit, Geschmack und Intuition zu einem hervorragenden Tango zusammenzustellen. Daran zeigt sich auch, dass Arturo De Bassi, Sprössling einer Musikerfamilie, eine solide musikalische Ausbildung erhalten hatte.


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Beispiel 10: El Incendio, Aufnahme von Roberto Firpo und seinem orquesta típica, 1927





© 2017 Wolfgang Freis

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