Osvaldo Fresedo |
Diejenigen, die sich einmal näher mit klassischer Musik auseinandergesetzt haben, werden sich an die Sonatenform erinnern. Sie steht für ein Kompositionsmodell, das typisch und charakteristisch für die Musik der „klassischen“ Periode ist. Bei genauerem Hinsehen kann man sich jedoch nicht des Eindrucks erwehren, dass die Komponisten—besonders die phantasievollen—sich zwar dieses Modells bedienten, aber doch immer wieder zeigen wollten, dass es auch anders ginge und damit das Modell negierten. Und genau darin liegt oft das Interessante dieser Musik, nämlich: dass sie eine Erwartung aufstellt, sie aber nicht erfüllt und mit etwas Unerwartetem und Überraschendem ersetzt.
Was macht einen Tango zum
Tango? Um sich nicht ins Uferlosen zu verlieren, präzisieren wir die
Frage: Woran erkennt man einen „klassischen“ argentinischen
Tango? Mit einer musikalischer Form lässt sich die Frage nicht
befriedigend beantworten, denn Tango basiert auf einfachen
Gesangsformen, die „universell“ auch in anderen Musikgattungen
angewendet werden. Die Frage mit der Instrumentierung, dem orquesta
típica, zu
beantworten, bringt eine Lösung auch nicht näher, denn
Instrumentierung ist nicht mehr als Dekoration, und orquestas típicas (Rodríguez,
Carabelli, Canaro, usw.) haben auch ohne weiteres andere
Musikgattungen als Tango aufgeführt, die dadurch nicht zu Tangos
wurden.
Das
Thema ist zu weitläufig, um mit einer einfachen Stellungnahme
beantwortet werden zu können. Beschränken wir uns daher auf zwei
Aspekte des Tangos, die man als charakteristisch bezeichnen kann, da
man sie in fast jedem Tango antrifft. Der erste Aspekt ist eine
rhythmische Figur, die síncopa; der zweite ein stilbildendes
Prinzip, in dem zusammengehörende Teile durch unterschiedliche
Ausführung kontrastiert werden.
Die Síncopa
Eine
Synkope ist
eine rhythmische Figur, in der eine oder mehrere Noten, die
normalerweise auf einem betonten Taktteil erscheinen, auf einem
unbetonten angespielt und zum nächsten betontem Taktteil gehalten
werden. Synkopen können sich über mehrere Takte erstrecken, aber im
Tango gibt es eine charakteristische kurze Figur,
die síncopa, die in fast jedem
Tango gehört werden kann. (Wir benutzen für diese Figur daher die
spanische Bezeichnung síncopa,
um auf den speziellen Kontext im Tango hinzuweisen.)
Hier
ein Beispiel. Im 2/4 Takt des Tangos könnte eine typische síncopa
folgendermaßen notiert werden:
Die
Pfeile über dem Notensystem zeigen die betonten Impulse des Taktes
an. Daraus ergibt sich, dass die äußeren Noten auf betonte
Taktteile fallen, die inneren aber auf unbetonte.
Die
Komponisten der guardia vieja
der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts benutzten die síncopa
gerne und bauten manchmal ganze Melodien auf dieser Figur auf. Als
Beispiel diene uns das erste melodische Thema aus Roberto Firpos
Tango La Bordadora,
in dem die síncopa
vier Mal erscheint.
La Bordadora (Roberto Firpo): Vereinfachtes rhythmisches Schema des ersten melodischen Themas. Die eckigen Klammern unter den Notensystemen weisen auf die síncopas hin. |
Musikalischer Kontrast als
stilbildendes Prinzip
Der strukturelle Aufbau eines Tangos bleibt im Rahmen einer einfachen musikalischen Form. Tangos bestehen normalerweise aus drei 16-taktigen Melodien, die in der einen oder anderen Form wiederholt und variiert werden. Das musikalische Interesse eines
Stückes liegt in der Ausführung dieser Wiederholungen. Die
Orchester der Blütezeit des Tangos haben sich darauf verstanden, die
einfachen musikalischen Formen durch Variation im Vortrag und
Instrumentierung so zu beleben, dass die Stücke trotz des begrenzten
Materials nie monoton wirkten. Abwechslung und Kontrast sind ein
stilbildendes Prinzip: Wird eine Melodie oder Teil einer Melodie
zuerst auf eine Art gespielt, so wird die Fortsetzung oder
Wiederholung auf eine andere Art wiedergegeben.
Abwechslung und Kontrast
können sich sehr unterschiedlich ausdrücken:
in der Instrumentation (Violinen werden den Bandoneons oder dem
Klavier gegenübergestellt), im Tonregister (die Melodie erscheint im
hohen Register, dann im tiefen), in der Artikulation oder Phrasierung
der Melodie, usw. Die abwechselnde Wiedergabe einer Melodie als lange
oder kurze Notenwerte ist, wie die
síncopa, eine
typische Komponente des Tangos. Ausgeführt von den Violinen heißt
„lange Notenwerte“, dass der Bogen auf der Saite bleibt und über
den ganzen Notenwert durchgezogen wird. Bei „kurzen Notenwerte“
bleibt der Bogen nicht auf der Saite, sondern schlägt die Töne nur
an und wird wieder von der Saite genommen. Das Resultat ist eine
unterschiedliche Klangqualität.
Nehmen wir Osvaldo
Fresedos Tango Aromas als
Beispiel. (Wir
beziehen uns hier auf Fresedos Aufnahme mit den Sänger Roberto Ray
aus dem Jahre 1939.) Das Stück besteht aus drei 16-taktigen Melodien und ihren
Wiederholungen. Jede Melodie besteht ihrerseits aus zwei 8-taktigen
Phrasen, die einen Vorder- und einen Nachsatz bilden. Zur
Differenzierung der Melodien und ihrer Teile benennen wir sie 1 A und
B, 2 A und B, und C 1 und 2.
Thema
1, Teil A wird durchgehend mit langen Notenwerten gespielt, d.h. in
den Violinen „auf der Saite“.
Fresedo Aromas, 1 A
Thema
1, Teil B zeigt eine Spiegelsymmetrie in den 8-taktigen Phrasen. Die
erste beginnt mit kurzen „gehämmerten“ Noten und endet mit langen „auf
der Saite“ gespielt; die zweite beginnt mit langen Noten „auf der
Saite“ und endet mit kurz gespielten Noten.
Fresedo Aromas, 1 B
Im
Thema 2, Teil A, beginnt die erste Phrase mit kurzen, „gehämmerten“
Noten und endet mit langen Noten „auf der Saite“. Die zweite
wiederholt die Instrumentierung der vorangegangenen Phrase.
Fresedo Aromas, 2 A
Im
Thema 2, Teil B, wird die erste Phrase ganz mit langen, die zweite
ganz mit kurzen Noten gespielt.
Fresedo Aromas, 2 B
Thema 3, Teile A und B,
zeigt eine freiere Abwechslung von lang und kurz gespielten Noten.
Die Verteilung ist dennoch so gewählt, dass die interne Struktur des
Themas klar aufgedrückt wird.
Fresedo Aromas, 3 A
Fresedo Aromas, 3 B
Schematisch lässt sich die Folge von Phrasen ausgeführt als kurze oder lange Notenwerte folgendermaßen darstellen:
Fresedo Aromas, schematische Darstellung der Orchestrierung
Zweierlei
zeigt sich an dieser schematischen Darstellung. Erstens: die
Orchestrierung folgt der inneren Struktur der Melodien, d.h., dass
die Wechsel zwischen Notenwerten „auf der Saite“ oder „gehämmert“
an Schnittpunkten von melodischen Einheiten (bestehend aus zwei,
vier, acht oder sechzehn Takten) erfolgen. Die
Struktur, die Form des Musikstücks, wird dadurch hörbar gemacht.
Zweitens: die Aufteilung innerhalb der 8-taktigen Phrasen zeigt eine
architektonische Symmetrie auf. (Dies tritt in den ersten beiden
Themen besonders klar hervor.) Dies spricht für Planung und zeigt,
dass der Arrangeur den Kontrast zwischen „langen“ und „kurzen“
Notenwerten als Ausdrucksmittel auswerten wollte.
Fresedos
Sueño azul
Musikalischer Kontrast als stilbildendes Prinzip
Nehmen wir Osvaldo
Fresedos Tango Aromas als
Beispiel. (Wir
beziehen uns hier auf Fresedos Aufnahme mit den Sänger Roberto Ray
aus dem Jahre 1939.) Das Stück besteht aus drei 16-taktigen Melodien und ihren
Wiederholungen. Jede Melodie besteht ihrerseits aus zwei 8-taktigen
Phrasen, die einen Vorder- und einen Nachsatz bilden. Zur
Differenzierung der Melodien und ihrer Teile benennen wir sie 1 A und
B, 2 A und B, und C 1 und 2.
Thema
1, Teil A wird durchgehend mit langen Notenwerten gespielt, d.h. in
den Violinen „auf der Saite“.
Fresedo Aromas, 1 A |
Thema
1, Teil B zeigt eine Spiegelsymmetrie in den 8-taktigen Phrasen. Die
erste beginnt mit kurzen „gehämmerten“ Noten und endet mit langen „auf
der Saite“ gespielt; die zweite beginnt mit langen Noten „auf der
Saite“ und endet mit kurz gespielten Noten.
Fresedo Aromas, 1 B |
Im
Thema 2, Teil A, beginnt die erste Phrase mit kurzen, „gehämmerten“
Noten und endet mit langen Noten „auf der Saite“. Die zweite
wiederholt die Instrumentierung der vorangegangenen Phrase.
Fresedo Aromas, 2 A |
Im
Thema 2, Teil B, wird die erste Phrase ganz mit langen, die zweite
ganz mit kurzen Noten gespielt.
Fresedo Aromas, 2 B |
Thema 3, Teile A und B,
zeigt eine freiere Abwechslung von lang und kurz gespielten Noten.
Die Verteilung ist dennoch so gewählt, dass die interne Struktur des
Themas klar aufgedrückt wird.
Fresedo Aromas, 3 A |
Fresedo Aromas, 3 B |
Schematisch lässt sich die Folge von Phrasen ausgeführt als kurze oder lange Notenwerte folgendermaßen darstellen:
Fresedo Aromas, schematische Darstellung der Orchestrierung |
Zweierlei
zeigt sich an dieser schematischen Darstellung. Erstens: die
Orchestrierung folgt der inneren Struktur der Melodien, d.h., dass
die Wechsel zwischen Notenwerten „auf der Saite“ oder „gehämmert“
an Schnittpunkten von melodischen Einheiten (bestehend aus zwei,
vier, acht oder sechzehn Takten) erfolgen. Die
Struktur, die Form des Musikstücks, wird dadurch hörbar gemacht.
Zweitens: die Aufteilung innerhalb der 8-taktigen Phrasen zeigt eine
architektonische Symmetrie auf. (Dies tritt in den ersten beiden
Themen besonders klar hervor.) Dies spricht für Planung und zeigt,
dass der Arrangeur den Kontrast zwischen „langen“ und „kurzen“
Notenwerten als Ausdrucksmittel auswerten wollte.
Fresedos Sueño azul
Die
oben angeführten Beispiele für stilbildende Elemente im Tango
wurden ausgewählt, weil sie das zur Diskussion stehende besser
illustrieren als andere Stücke. Man sollte allerdings nicht
erwarten, dass jedes Stück dem gleichen Modell folgt, denn sonst
wäre die Musik langweilig, da ihr jedes Überraschungselement fehlen
würde. Mit ein wenig Übung wird man aber bald die síncopa
aus jedem Tango heraushören und in den Wiederholungsschemen der
Melodien kontrastierende Instrumentierungen erkennen, selbst wenn sie
sich anders ausdrücken als in langen und kurzen Notenwerten.
Trotzdem
findet man immer wieder Stücke, die sich gegen eine Kategorisierung
sperren. Musiker als kreativ denkende Künstler tendieren wohl eher
zum Chaotischem als zum Systematischen. Fresedos
Sueño azul ist ein
Stück, dem das, was oben als exemplarisch beschrieben wurde, ganz zu
fehlen scheint. Es wurde zwei Jahre vor Aromas
aufgenommen. Der volle, weiche Streicherklang, die Harfe, der Gesang
von Roberto Ray erlauben es aber, beide Stücke in die selbe
Stilperiode einzuordnen. Der erste Klangeindruck lässt keinen
Zweifel darüber, dass es sich um das gleiche Orchester in der
gleichen Besetzung handelt.
Sueño azul unterscheidet sich allerdings von Aromas in zwei entscheidenden Punkten. Die Orchestrierung bleibt für das ganze Stück die gleiche: die Violinen spielen die Melodien durchgehend „auf der Saite“. Selbst während des Gesanges, wenn die sie in den Hintergrund treten und eine Gegenmelodie zu der nun gesungenen Hauptmelodie spielen, bleibt die Artikulation weich und gebunden. Der Kontrast zwischen langen Noten „auf der Saite“ und kurzen „gehämmerten“ Noten fehlt völlig. Selbst eine síncopa ist nicht herauszuhören. Die einzige Stelle, die an eine síncopa erinnert, kommt am Ende der ersten Phrase im achten Takt, aber es ist keine síncopa, sondern eine Triole.
Ist
das noch Tango? Dem Namen nach schon, allerdings kein argentinischer!
Die Musik von Sueño azul
wurde von einem ungarischen Musiker, Tibor Barciz, zu einem
französischem Text von komponiert und hieß im Original Vous,
qu'avez-vous fait de mon amour?. Das
Stück wurde 1933 in Paris in einer Theater-Revue von Henri Varna,
Vive Paris!, uraufgeführt. Es war offensichtlich
erfolgreich, denn es wurde auch später wiederholt von anderen
Orchestern auf Schallplatte eingespielt (siehe die Versionen von René Juyn und dem Grand Orchestre Perfectaphone [1933], Tino Rossi und dem Orchestre M. Pierre Chagnon [1934] und Jean Lumière [1934] ).
Mit
einem argentinischen Tango hat Vous, qu'avez-vous fait de mon
amour? wenig gemein. Es ist
ein strophisches Lied, dem ein fortlaufender Habanera-Rhythmus mit
síncopa als
Phrasierungsschluss in achten Takt untergelegt wurde.
Vous, qu'avez-vous fait de mon amour?, Jean Lumière
Es
ist allgemein bekannt, dass der Habanera-Rhythmus das Fundament für
einen der drei Tango-Tänze, der Milonga, bildet. Er kommt aber auch
gelegentlich in (argentinischen) Tangos vor. Tatsächlich war er zehn
oder zwanzig Jahre vor der Komposition von Vous,
qu'avez-vous fait de mon amour?
recht beliebt. Solche Tangos wurden üblicherweise als “Tango
Milonga” bezeichnet (siehe Roberto Firpos El
amenecer, Francisco Canaros
Charamusca
oder José Padulas Nueve de Julio
als Beispiele). Seit den 30er Jahren wird der Habanera-Rhythmus in
diesen Stücken allerdings kaum noch gespielt. Das heißt, der
punktierte Rhythmus wird “vereinheitlicht” und als gleiche, nicht
punktierte Noten gespielt. (Man höre di Sarli's Version von El
amenecer zum Vergleich.) Aus
argentinischer Sicht scheint der Gebrauch des Habanera-Rhythmus in
Vous, qu'avez-vous fait de mon amour?
für die 30er Jahre daher ein wenig altmodisch zu sein.
Darüber
hinaus wird der Habanera-Rhythmus im argentinischen Tango-Milonga als
Mittel zur stilistischen Kontrastierung von Abschnitt zu Abschnitt,
entsprechend der oben beschriebenen Abwechslung von langen und kurzen
Notenwerten, benutzt. In den französischen Aufnahmen von Vous,
qu'avez-vous fait de mon amour?
erscheint der Habanera-Rhythmus aber durchgehend ohne Differenzierung
von Abschnitt zu Abschnitt. So eine Anwendung eines rhythmischen
Schemas ist nicht typisch für argentinischen Tango, sonder eher für
europäische Tanzmusik. Die “argentinischen” Stilmittel in den
französischen Aufnahmen sind daher nicht mehr als eine Schablone.
Als
Vous, qu'avez-vous fait de mon amour?
mit einem spanischen Text als Sueño azul
in Argentinien veröffentlicht wurde, bezeichnete der Verleger das
Stück nicht einfach als „Tango“, sondern als „großen ungarischen Tango“. Da das Stück in Paris erfolgreich war, ist es
nicht verwunderlich, dass ein argentinischer Musiker wie Fresedo es in sein
Repertoire aufnahm. Man wundert sich allerdings, warum er jeglichen
Hinweis auf Tango—sein Metier—vermied und es nicht in einer
„authentischen“ (argentinischen) Form wiedergab.
(© 2017 Wolfgang Freis)
(© 2017 Wolfgang Freis)
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