Monday, October 23, 2017

Eine kurze Tango-Harmonielehre, Teil II


1. Einleitung


Unser letzter Artikel beschäftigte sich mit der Frage, wie Tonalität mit Hilfe von Tonleitern (Tonartschlüssel) und harmonischen Progressionen von der Dominante zur Tonika (in den folgenden Beispielen als V, beziehungsweise I angezeigt) ausgedrückt wird. (Siehe Eine kurze Tangoharmonielehre, Teil I für eine Erörterung der Bewertung von Tonarten.) Hier werden wir zwei weitere Begriffe der Dur- und Moll-Tonalität behandeln: die Subdominante sowie die Zwischen- oder Nebendominanten.

1a. Die Subdominante



Die Subdominante leitet ihren Namen von ihrem Verhältnis zur Tonika ab. Während die Dominante sich eine Quinte (d.h. fünf Tonleiterstufen) über dem Grundton befindet, liegt die Subdominante eine Quinte unter dem Grundton. Durch Umkehrung ist sie auch wieder auf der vierten Stufe über dem Grundton zu anzutreffen. Sie wird daher üblicherweise durch die römischen Ziffern IV angezeigt.



Beispiel 1: Tonleiter mit Tonika, Dominante und Subdominante


Die Subdominante ist ein gewöhnlicher Bestandteil von Kadenzen, in denen sie oft vor der Dominante anzutreffen ist. Eine Progression von der Tonika zur Subdominante, dann zur Dominante und schließlich wieder zur Tonika ist typisch als Kadenzformel (I-IV-V-I, siehe das folgende Beispiel).


Darüber hinaus findet man die Subdominante im sogenannten Plagalschluss (auch Plagalkadenz), der als Subdominant-Tonika-Progression an eine normale Kadenz angehängt wird ( … V-I-IV-I). Diese Figur ist oft am Schluss von Kirchenliedern zu finden.





Beispiel 2: Kadenzen mit Subdominanten

1b. Nebendominanten


Das Konzept einer Nebendominante ist einfach: man richtet einen Akkord so ein, dass er als Dominante für einen anderen Akkord fungiert, der nicht die Tonika ist. Um zu einer Nebendominante zu werden, muss zumindest ein Ton des Akkordes verändert werden. Der daraus resultierende Dominant-Akkord gehört nicht zu den natürlichen Zusammenklängen der Tonart, in der er verwendet wird. Er ist sozusagen eine Dominante, die (vorübergehend) von einer anderen Tonart ausgeborgt wird.

Nebendominanten werden dazu verwendet, die Harmonien eines Stückes zu bereichern und die Spannung vor der Auflösung zur Tonika zu steigern. Dies wird häufig dadurch erreicht, dass der Dominante eine Nebendominante vorgesetzt wird (im folgenden Beispiel als V/V angezeigt). Die Nebendominante löst sich in der Dominante auf, die dann wiederum ihre Auflösung in der Tonika findet.


Als Beispiel für eine einfache harmonische Progression in Dur folgt eine kurze Kadenz, die mit Dominante und Tonika endet:




Beispiel 3: einfache Kadenz (zur Vereinfachung sind nur Dominante und Tonika angegeben)


Um die Empfindung von Spannung und Auflösung zu erhöhen, kann die Dominante von ihrer eigenen Dominante (angezeigt als V/V in folgenden Beispiel) eingeführt werden. Der Klavierauszug zeigt, dass der Akkord nicht in seiner natürlichen Form gesetzt wurde, sondern das ein Ton (der tiefste) um einen Halbton erhöht wurde. Diese Erhöhung erzeugt einen Leitton, d.h., die durch die Erhöhung erzeugte Spannung bedingt eine Auflösung in dem darauffolgenden Ton.




Beispiel 4: Kadenz mit Nebendominante


Es wurde obern erwähnt, dass eine Nebendominante auf jedem Akkord gebildet werden kann. Selbst Nebendominanten können das Zielobjekt einer weiteren Nebendominante werden, wie das nächste Beispiel zeigt. Vom zweiten bis zum vierten Takt folgen vier Dur-Akkorde aufeinander. Jeder von diesen bildet eine Dominante zum darauffolgenden Akkord. So bildet sich die folgende Progression: H-Dur – E-Dur – A-Dur (Dominante) – D-Dur (Tonika).




Beispiel 5: Kadenz mit zwei Nebendominanten

2. “El Himno Bonaerense”



Angel Villoldos El Porteñito gehört zu den bekanntesten Tangos. Schon bald nach seiner Komposition im Jahre 1903 war er einer der ersten, die auf Schallplatte aufgenommen wurde. Villoldo bezeichnete das Stück als tango criollo, aber seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre wird er auch als Milonga aufgeführt. So gut wie alle argentinische Filme, die in Buenos Aires um die Wende des 20th Jahrhunderts spielen, weisen eine Tanzszene auf, in der El Porteñito—oft in halsbrecherischem Tempo—gespielt wird. Wenn es einen Tango gibt, der mehr als jeder andere Buenos Aires repräsentiert, dann ist es sicherlich El Porteñito.

3. Die formale Struktur


El Porteñitos formale Struktur ist einfach und sehr symmetrisch. Sie besteht aus drei Teilen mit einer Länge von 16 Takten (im Folgenden als A, B beziehungsweise C angezeigt). Die drei Teile sind „durchkomponiert“, d.h., sie wurden durchgehend ohne Angabe von Wiederholungen notiert. Dessen ungeachtet endet jeder Teil mit einer klaren und starken Kadenz, die einen Einschnitt in den Ablauf der Musik bewirkt und damit den Wechsel von einem Teil zu anderen anzeigt.

Die Teile ihrerseits teilen sich in zwei acht-taktige Phrasen auf (im Folgenden A1, A2, B1, usw.). Diese Vorder- und Nachsätze sind sich melodisch und harmonisch sehr ähnlich und unterscheiden sich nur im Abschluss. Teil A zeichnet sich durch lebhafte Motive mit kurzen Notenwerten in absteigender Bewegung aus, die zu kleinen Figuren im typischsten Tangorhythmus führen, der síncopa (im folgenden Beispiel durch eckige Klammern über dem Notensystem angezeigt).


Section A1, antecedent

Beispiel 6: Teil A1, Vordersatz


Section A2, consequent

Beispiel 7: Teil A2, Nachsatz




Beispiel 8: Teil A



Auch die Vorder- und Nachsätze des B-Teils ähneln sich. Um Gegensatz zu A ist die melodische Bewegung durch längere Notenwerte allerdings ruhiger, und die síncopa wird fast vollkommen vermieden.

Section B1, antecedent
Beispiel 9: Teil B1, Vordersatz

Section B2, consequent

Beispiel 10: Teil B2, Nachsatz






Beispiel 11: Teil B



Es muss angemerkt werden, dass die fundamentale Struktur der Melodien in den Teilen A und B sich nur gering voneinander unterscheiden. Die Richtung der melodischen Bewegung ist die gleiche (abwärts), und die Zielnoten der absteigenden Motive decken sich. Ein Vergleich des melodischen Grundrisses der Teile A und B veranschaulicht die Gemeinsamkeiten der beiden Teile.

Melodic Outline of sections A and B

Beispiel 12: Teile A und B, melodischer Grundriss

Im Gegensatz dazu zeigt sich im Teil C eine größtenteils aufsteigende Bewegung der Melodie ohne síncopas.



Section C1, antecedent

Beispiel 13: Teil C1, Vordersatz

Section C2, consequent

Beispiel 14: Teil C2, Nachsatz



Beispiel 15: Teil C


Der melodische Grundriss bestätigt die aufsteigende Tendenz der Melodie und damit den Kontrast zu den Teilen A und B.


4. Die tonale Struktur


Es wurde oben bemerkt, dass jeder Teil von einer starken Kadenz abgegrenzt wird. Die jeweiligen Schlussakkorde stimmen mit dem Notenschlüssel des dazugehörigen Teiles überein. Darüberhinaus sind auch die Übergänge vom Vorder- zum Nachsatz durch Kadenzen markiert, deren Schlussakkorde auch den Schlusskadenzen entsprechen. Daraus kann man schließen, dass die Tonart die Teile A und B in D-Dur gesetzt sind, während Teil C in G-Dur steht.


Notenschlüssel
Phrase:
beginnt auf
endet auf
Schlussakkord
D-Dur
A1
I
V-I
D-Dur
A2
I
V-I
D-Dur
B1
(I)
V-I
D-Dur
B2
(I)
V-I
G-Dur
C1
(I)
V-I-IV-I
G-Dur
C2
(I)
V-I

Alle Kadenzen der Vor- und Nachsätze sind Progressionen von der Dominante zur Tonika (V-I), mit einer Ausnahme: der Vordersatz C1 endet mit einem Plagalschluss (IV-I). Die Bedeutung dieses einzigartigen Auftretens wird noch dadurch betont, dass allen Kadenzen mit Dominante und Tonika von Nebendominanten vorbereitet werden. Wir wiederholen, dass die Subdominante (IV) sich eine Quinte unter der Tonika (I) befindet, die Dominante (V) aber eine Quinte über der Tonika liegt. Entsprechend befindet sich die Nebendominante der Dominante wiederum eine weitere Quinte über der Tonika, usw.

Eine Untersuchung der harmonischen Progressionen, die den Kadenzen in den Teilen A1 und B1 vorangehen, zeigt in den letzten vier Takten die folgende Progression auf: H-Dur, E-Dur, A-Dur (V) und schließlich D-Dur (I).



Teil A1, Vordersatz
Beispiel 17: Teil A1, Vordersatz
Teil B1, Vordersatz
Beispiel 18: Teil B1, Vordersatz




Beschreiben wir diese Progression rückschreitend in ihrer funktionalen Bedeutung, so können wir feststellen, dass der Tonika (I) die Dominante (V) vorangeht, dieser die Dominante der Dominante (E) und dieser noch einmal eine weitere Dominante (H) vorgesetzt ist.


Die Harmonien in C1 verbleiben dagegen innerhalb der Grenzen von Tonika und Dominante. Nur am Ende schwingt der harmonische Impuls mit dem Plagalschluss in die entgegengesetzte Richtung zur Subdominante.

Section C1

Beispiel 19: Teil C1, Vordersatz

Betrachtet man den größeren Zusammenhang, in dem dieser einmalige Plagalschluss erscheint, so fällt auf, dass er nicht zufällig oder willkürlich eingesetzt wurde. Teil C entspricht einem „Trio“, einem Abschnitt, der in instrumentalen Tangos so komponiert wurde, dass er sich stilistisch von den anderen Teilen unterschied. Wir haben bereits festgestellt, dass sich Teil C von den anderen beiden Teilen in der Richtung der melodischen Bewegung abhebt. In A und B verläuft diese Bewegung abwärts, in C aber aufwärts. Entsprechend macht sich auch ein Unterschied in der harmonischen Richtung bemerkbar: A und B bewegen sich im Raum der Dominante und ihrer Nebendominanten, während C in der Subdominant-Tonart steht und in der Mitte einen Plagalschluss aufweist. Die harmonische Bewegung in Teil C entfaltet sich damit in der entgegengesetzten Richtung von A und B.

5. Die Wiederholungen


Wir haben anfangs erwähnt, dass El Porteñito “durchkomponiert” wurde, d.h., Teile A bis C wurden ohne Angaben von Wiederholungen in der Partitur niedergeschrieben. Allerdings werden Kompositionen dieser Art immer auf eine oder andere Weise mit Wiederholungen gespielt. Ein einfaches, normales Wiederholungsschema besteht darin, die Teile A bis C durchzuspielen und dann A und B zu wiederholen. Damit wird die kontrastierende Anlage von C betont und dem ganzen Stück eine symmetrische Struktur verliehen (ABCAB). Das Quarteto Roberto Firpo hat dieses Schema in einer Aufnahme aufgegriffen und durch eine zusätzliche Wiederholung aller drei Teile erweitert (AB C AB C AB).





Beispiel 20: El Porteñito, Quarteto Roberto Firpo (1936)


Man trifft das Standardschema oder eine Variation davon oft in den vielen Aufnahmen El Porteñitos an. Tango-Orchester verstanden sich allerdings darauf, ihre eigenen, bezeichnenden Arrangements aufzunehmen. Zwei interessante Versionen von Villoldos Tango mit abweichenden Wiederholungsschemen sollen hier erwähnt werden.


Die erste ist Aufnahme mit dem Orquesta Típica Victor aus dem Jahre 1928. (Wir möchten dazu auffordern, dem hervorragenden ersten Geiger dieser Aufnahme besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Leider ist uns sein Name nicht bekannt, aber es handelt sich wahrscheinlich um Elvino Vadaro oder Agesilao Ferrazano, die im Típica Victor zu Ende der 20er Jahre mitwirkten.)



Beispiel 21:  El Porteñito, Orquesta Típica Victor 


Auffallend an dieser Version ist, dass sie mit Teil C, also in der Subdominant-Tonart, beginnt. Das ganze Wiederholungsschema ergibt sich wie folgt: CABCA.


Francisco Canaro hat El Porteñito mindestens dreimal eingespielt. Zwei dieser Aufnahmen folgten dem Standardschema in den Wiederholungen, aber eine Aufnahme mit dem Quinteto Pirincho aus den 50er Jahren weicht entschieden davon ab.



Beispiel 22:  El Porteñito, Quinteto Pirincho 


Canaro wiederholt in dieser Version alle drei Teile der Reihe nach. Damit beginnt das Stück in D-Dur, endet aber in G-Dur, der Subdominant-Tonart.

Die Versionen von Canaro und der Típica Victor werfen die Frage auf, ob die Umgestaltung der drei Teile den formalen und tonalen Zusammenhang des Stückes verändern. Die Wiederholungen im Standardschema folgen der kompositionstechnischen Logik: Teile A und B artikulieren eine musikalische Idee (D-Dur), Teil C präsentiert ein Gegenstück (G-Dur) und die Wiederholung von A und B kommt auf die Anfangsidee zurück. Formal und tonal ist der Unterschied zwischen AB und C offensichtlich: das Stück endet dort, wo es begann und stellt eine geschlossene Einheit dar.


Die Victor und Canaro Versionen lösen den formalen und tonalen Zusammenhang auf. Aber diese Orchester standen damit nicht allein da. Es war keineswegs ungewöhnlich, ein Stück mit einer „falschen“ Tonart anzufangen oder zu beenden. Stücke wie El Porteñito waren dem Publikum bekannt genug, um schnell als besonderes Arrangement erkannt zu werden. Der Zweck heiligte offensichtlich die Mittel.


© 2017 Wolfgang Freis

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