Das 20. Jahrhundert war
ein Zeitraum beispielloser technischer Fortschritte, und es hat unser
Leben vielgestaltig beeinflusst. Technologische Entwicklungen
bedingen generell Veränderungen im Ablauf der Dinge unseres
täglichen Lebens. Manche Veränderungen sind vielversprechend,
andere stellen sich als nachteilig heraus.
Ohne die Erfindung des
Phonographen würde sich Tango heute nicht einer so großen
Beliebtheit erfreuen. Es gab natürlich Tanzmodewellen bevor sich
Tango zu einem weltweitem Phänomen entwickelte, aber mit dem Tango
geschah es zum ersten Mal, dass die Begründer des Musikstils
aufgenommen und ihre Musik für die Nachwelt erhalten blieben. Die
unübertroffene Qualität der Aufführungen der großen
Tango-Orchester des „goldenen Zeitalters“ fesselt noch heute
Tänzer und Musikliebhaber der ganzen Welt.
1. Musikaufnahmen
Die Möglichkeit, Musik
aufzunehmen, ist an und für sich eine bemerkenswerte Tatsache. Zur
Zeit, als die Aufnahmen gemacht wurden (von ungefähr 1910 bis in die
vierziger Jahre), war die Technologie noch primitiv, und so war das
Ergebnis: gemessen am heutigen Standard ist die Klangqualität der
alten Technik dürftig (ganz abgesehen von der Abnutzung, der die
Platten im Laufe der Zeit unterlagen). Trotzdem ist es die Qualität
der Aufführungspraxis, die hervorsticht und die modernen Hörer bald
über die oberflächliche Zerkratztheit hinweghören und den
künstlerischen Wert schätzen läßt.
Die Aufnahmetechnologie
verbesserte sich im Laufe der Zeit, aber ein Faktor blieb bis in die
fünfziger Jahre unverändert: eine einmal gemachte Aufnahme konnte
nicht mehr geändert werden. Aufnahmen wurden in Wachs- oder
Lack-Platten geschnitten, von denen dann Matrizen hergestellt wurden.
Eine geschnittene Wachsplatte konnte nicht modifiziert werden. Wurden
während der Aufnahme schwerwiegende Fehler gemacht, musste man die
Aufnahme wiederholen. Mit anderen Worten: Aufnahmen, die vor den
späten fünfziger Jahre gemacht wurden, sind im Prinzip
Live-Mitschnitte.
Für Musiker ist das
Spielen bei einer Aufnahme anstrengender als vor einem Publikum. Ein
Patzer während eines Konzertes ist schnell vergessen, wenn er
überhaupt bemerkt wird. In einer Aufnahme wird er aber für immer
erhalten. Aufnahmetechniker aus der Zeit der Wachsplatten haben
berichtet, dass Aufnahmesitzungen für Musiker klassischer Musik
besonders aufreibend sein konnten, da sie gewöhnlich Stücke
spielten, die wesentlich länger waren als ein Tango. Die Musiker
wurden leicht so nervös, dass sich die Fehler mit jeder Wiederholung
vermehrten. Am Ende entschloss man sich oft, die erste Aufnahme zu
nehmen, da sie die wenigsten Fehler aufwies.
Im Vergleich zu modernen
Standards waren auch die Aufnahmeverfahren primitiv. Zur Zeit der
akustischen Aufnahmen (als die ersten Tangos aufgenommen wurden)
mussten die Ausführenden mehr oder weniger direkt in einen großen
Trichter singen oder spielen, der den Schall auffing.
Elektromagnetische Mikrophone kamen erst in den späten zwanziger
Jahren auf. Diese waren wesentlich aufnahmefähiger und erlaubten den
Musikern eine größere Distanz während der Aufnahme. Orchester
wurden in einem Kreisausschnitt vor dem Mikrophon platziert. Die
Klangbalance wurde durch die Verteilung der Musiker im Studio
erreicht: die Solisten wurden dem Mikrophon am nächsten aufgestellt,
um sie klanglich hervortreten zu lassen, und die Instrumentalgruppen
und lauten Instrumente wurden im Hintergrund platziert.
Das Mikrophon fungierte
somit als „stellvertretender Zuhörer“, zu dem das Orchester
spielte. Die Instrumente wurden so aufgestellt, dass dieser Zuhörer
den Klang in der gewünschten Balance empfing. Heutzutage werden die
Instrumente während einer Aufnahme isoliert, entweder indem sie von
individuellen Mikrophonen aufgenommen, durch Zwischenwände getrennt,
oder als einzelne Stimmen nacheinander aufgenommen werden. Diese
Aufnahmetechniken sind wesentlich ökonomischer, da sich Fehler
einzeln nacheinander korrigieren lassen. Ihre Entwicklung hatte aber
auch einen folgenschweren—und unserer Meinung nach
negativen—Nebeneffekt: es verschob die Kontrolle (und damit auch
zum Teil die Verantwortung) über den Vortrag in zunehmendem Maße
von den Musikern zu den Technikern. Tatsächlich ist es heute in der
populären Musik nicht ungewöhnlich, dass die Musiker auf die letzte
Phase des Aufnahmeprozesses, die Tonmischung, keinen Einfluss haben.
Diese Phase wird oft völlig den Klangingenieuren überlassen.
Vor den späten fünfziger
Jahren lag die Verantwortung, gut und fehlerlos zu spielen, bei den
Musikern. Gut zu spielen hieß nicht nur, das Publikum zu
beeindrucken, es hieß auch, eine Aufgabe schnell zu erledigen und
zur nächsten überzugehen. Die Tango-Aufnahmen des „goldenen
Zeitalters“ sind ein Zeugnis für hervorragend ausgebildete und
erfahrene Musiker, die von Musikern anspruchsvollerer Musikgattungen
nicht in den Schatten gestellt werden.
2. Singen ohne Mikrophon
Mikrophone gab es schon
vor der Entwicklung von Schallplatten. Das Telephon wäre z.B. ohne
Mikrophon undenkbar. Die Aufnahmequalität der ersten Mikrophone
machte sie allerdings für Musik untauglich. Erst in den späten
zwanziger Jahren wurden Mikrophone entwickelt, die Musik so gut
wiedergaben, dass sie für Musikaufnahmen benutzt werden konnten.
Es mag heute kaum
glaubhaft erscheinen, aber es war eine Realität bis mindestens in
die dreißiger Jahre: Sänger populärer Musik benutzten bei
Aufführungen keine Mikrophone. Ihre Stimme musste laut genug sein,
um auch mit Orchesterbegleitung und in einem größeren Saal gehört
zu werden.
Ein weiterer
bemerkenswerter Aspekt des „goldenen Zeitalters“ ist die
Tatsache, wie viele Tangosänger mit hervorragend klarer Diktion
sangen. Die Texte sind ohne weiteres zu verstehen und die Worte so
klar artikuliert, als wären sie für ein Diktat bestimmt.
Eine tragende Stimme und
klare Diktion gehören zu den Anzeichen ausgebildeter Sänger. Das
sollte nicht überraschen: viele Tango-Instrumentalisten waren
Absolventen von Konservatorien oder hatten mit ihr Metier von anderen
bekannten Instrumentalisten gelernt. Das allgemein übliche Bild
eines Sängers populärer Musik ist allerdings nicht das eines
klassisch ausgebildeten Musikers. Im Gegensatz zu Opernsängern z.B.,
die mit einem gewissen Stolz einer Gesangsschule angehören, geben
sich Sänger populärer Musik eher als Intuitionskünstler. Wir haben
daher kaum Informationen wie Tangosänger singen lernten.
Es besteht allerdings kein
Grund anzunehmen, dass Sänger nicht formell ausgebildet wurden.
Canaro nahm z.B. Sänger unter Vertrag, die in den Theaterstücken,
die er mit Ivo Pelay inszenierte, auftreten konnten. In einem Theater
ohne Verstärkung zu singen und einen Text mit klarer Diktion bis in
die hinteren Reihen zu projizieren erfordert eine Stimmtechnik, die
man erlernen muss.
Uns ist aber auch eine
Tangosängerin bekannt, die keinen Gesangsunterricht erhalten hatte:
Tita Merello. Tita Merello war Schauspielerin, allerdings zu einer
Zeit, in der man von Schauspielern erwartete, dass sie auch sangen.
Zu Anfang ihrer Karriere hatte sie einmal ihr Glück als Sängerin in
einem Varieté versucht. Sie fiel allerdings damit so durch, dass sie
den Gedanken an eine Gesangskarriere aufgab. Als sie aber
Fortschritte auf der Theaterbühne machte, sang sie auch, wenn es im
Stück verlangt wurde. 1932 wurde sie für La muchachada del
centro, einem Stück von Ivo
Pelay mit Musik von Francisco Canaro, engagiert und musste in der
Rolle zwei Lieder mit Canaros Orchester singen. Während der Proben
beklagte sie sich, dass das Orchester zu laut wäre. Sie hatte Angst,
nicht gehört zu werden, da sie keine große Stimme hatte. Canaro
beruhigte sie und versprach ihr, das Orchester zurückzuhalten. Tita
Merello hatten einen durchschlagenden Erfolg; das Stück in der
gleichen Besetzung wurde fast 600 Mal aufgeführt. Aber zwei Jahre
später berichtete die Wochenzeitschrift Caras y caretas:
„Tita Merello hat sich endlich entschlossen, Gesangsstunden unter
der Leitung von Maestro Longomuto zu nehmen.“
3. Die Gesangstradition
Zur Zeit als der Tango
sich zur bodenständigen Musik von Buenos Aires entwickelte, erlebte
Argentinien „die große europäische Einwanderungswelle“. Die
größten Gruppen von Einwanderern kamen aus zwei Ländern: Italien
und Spanien. Der Einfluss dieser Einwanderungsgruppen war maßgebend.
Eine große Mehrzahl der Tangomusiker waren, wenn sie nicht selbst in
Europa geboren waren, Kinder von eingewanderten „tanos“ und
„gallegos“.
Die Immigranten brachten
ihre musikalischen Traditionen mit; aber nicht nur das: unter ihnen
befanden sich auch Musiker und Musiklehrer, die die Ästhetik und
Stile ihrer Musikkultur weiter kultivierten und weitervermittelten.
Überdies war Buenos Aires kein provinzieller Marktflecken, sondern
eine wachsende Metropole in der besuchende und wohnhafte Künstler
aus Europa alltäglich waren.
Der gewöhnliche
Gesangsstil, der im 19 und frühen 20. Jahrhundert praktiziert und
gelehrt wurde, entwickelte sich aus der italienischen bel canto
Oper. Die Klangqualität des Gesangs ist in diesem Stil von höchster
Bedeutung. Das Ziel ist die Intensität und Farbe des Tones so zu
gestalten, dass sie im ganzen Umfang der Stimme gleich bleiben.
Melodien müßen als größere musikalische Einheiten artikuliert
werden, die sich durch einen ununterbrochenen, geschmeidigen Übergang
von einer Note zur anderen auszeichnen und in einem Theater selbst
wahrnehmbar sind, wenn sie leise gesungen werden.
Singen besteht nicht nur
aus Tönen und musikalischen Noten, sondern auch aus Texten, die
Satzstrukturen und Sinngehalt aufweisen. Im Gesangsstil des bel
canto ist eine deutliche Artikulation von Wörtern und Verszeilen
höchstes Gebot. Um den geschmeidigen Übergang von Note zu Note
nicht zu unterbrechen, bediente man sich einer besonderen
rhythmischen Vortragsweise: des tempo rubato („gestohlene
Zeit“). Eine Melodie rubato
zu singen bedeutet, betonte Noten länger als den angegeben Notenwert
zu singen. Diese zusätzliche Länge wird von den angrenzenden Noten
„gestohlen“, die dadurch kürzer gesungen werden müssen, damit
der Vortrag im Takt und Tempo bleibt.
Tango war zu Beginn vor
allem Instrumentalmusik, entwickelte sich aber zu einer hauptsächlich
vokalen Musik mit der „Erfindung“ des tango canción in
der Mitte der zwanziger Jahre. Hört man heute die vielen Aufnahmen
von Tangos und verwandten Musikformen, die in den folgenden 20 Jahren
aufgenommen wurden, kann man über die schiere Anzahl der
ausgezeichneten Sängern zur damaligen Zeit nur staunen. Carlos
Gardel, ein außergewöhnlicher Sänger, der auch Gitarre spielte,
einige bezaubernde Lieder komponierte und zu Idolen des
argentinischen Films gehörte, überragt rückblickend alle, aber es
gab noch andere, die hinter Gardel nicht zurückstanden. Einem von
ihnen, Oscar Serpa—der zwar nicht vergessen, aber häufig nur
„unter anderem“ erwähnt wird—gebührt unserer Meinung nach
viel größere Anerkennung.
4. Oscar Serpa (1919-1982)
Über Oscar Serpas
musikalische Ausbildung wissen wir leider nur sehr wenig. Seine
Eltern schickten ihn auf ein Konservatorium, wo er Gitarre spielen
und wahrscheinlich auch singen lernte. Mit 17 Jahren wurde er von
Abel Pelaia „entdeckt“. Pelaia hatte seinen Partner verloren und
war auf der Suche nach einem Ersatz auf Serpa aufmerksam gemacht
worden. Pelaia und Serpa studierten ein Repertoire ein und traten
nach ein paar Monaten als Gesangsduo auf. Als Tangosänger trat Serpa
zum ersten Mal 1942 auf, als er sich dem Orchester von Osvaldo
Fresedo anschloss.
Alberto Podestá über Oscar Serpa (2012)
Serpa verdankt seinen Gesangsstil einer jahrhundertealten Tradition, die im Laufe des 20. Jahrhunderts aus der populären Musik durch die Einführung des Mikrophons und technologischen Fortschritt langsam aber unaufhaltsam verschwunden ist. Seine Stimme zeichnet sich durch elegante Phrasierung und Homogenität der Klangfarbe aus. Die Klangerzeugung ist rein und leicht, ununterbrochen und natürlich vibrierend. Serpas Gesang strebt nicht nach dramatischen Effekten, und es finden sich keine Anzeichen von Härten oder trüben Klänge. Seine Stimme hinterläßt den Eindruck, dass sie trotz des Mikrophons grossartig klingt, nicht aber durch das Mikrophon. Serpa lernte zu singen, als Mikrophone noch nicht zur Gesangstechnik gehörten, und seine Aufnahmen, die sich über 20 Jahre hinstreckten (von 1937, Niebla del Riachuelo, bis 1955, Verdemar), bezeugen, dass er seinen Stil über die Jahre beibehielt.
5. Niebla del Riachuelo
Mit nur 18 Jahren, ein Jahr
nachdem er berufsmäßig als Sänger in Erscheinung trat, nahm Serpa
Niebla del Riachuelo auf. Die Aufnahme verdeutlicht, wie seine
klare Diktion den Text aufleben läßt. Es ist eine ehrliche
Tenorstimme, die nicht versucht anders zu klingen, als es ihr gegeben
ist, die keine Effekte anstrebt und—vielleicht entgegen dem
heutigen Geschmack—nie Klänge erzeugt, die einem klassisch
ausgebildetem Gehör als unangenehm auffallen würden. Ein Vergleich
mit der moderneren Aufnahme von Niebla del Riachuelo des
spanischen Flamenco-Sänger Diego „El Cigala“ veranschaulicht den
Unterschied.
Man könnte einwenden,
dass Diego „El Cigala“ in einem ganz anderen musikalischen Stil
singt—einem Stil, der Spontanität über Kontrolle schätzt und
einer eigenen Ästhetik folgt. Sicherlich stehen Serpa und Diego an
entgegengesetzten Enden eines Spektrums. Serpas Ziele—klarer und
weicher Klang, musikalische Phrasierung, deutliche Diktion—sind
nicht El Cigalas. Cigalas Stimme is kratzig, er verschluckt Silben,
verwischt Vokalklänge und ändert Worte. Seine starken „K“-Kehllaute
(z.B. in der Textzeile „... barcos
carboneros que
...“), die sich vielleicht aus dem Umstand ergeben, dass er direkt
in das Mikrophone singt, verhindern eine kontinuierliche Klanglinie.
Es ist auch unmöglich, eine Vorstellung vom Volumen seiner Stimme zu
gewinnen, da das Mikrophon die Unterschiede zwischen lauten und
leisen Passagen ausgleicht und der Stimme ein künstlicher Halleffekt
zugemischt wurde.
Serpas Aufnahme war ein
„Live“-Mitschnitt, d.h., sein Vortrag wurde in eine Wachsplatte
geschnitten. Alle Musiker (wir schätzen: der Sänger und drei
Gitarristen) waren vor dem Mikrophon platziert: der Sänger am
nächsten, aber immer noch mit einem gewissen Abstand, und dahinter
die Instrumentalisten. Soweit es die damalige Technologie
ermöglichte, ist die Aufnahme eine natürliche Wiedergabe, d.h., es
wurden keine technischen Effekte hinzugefügt.
In Serpas Version ist der
Text einerseits dadurch leicht verständlich, dass Serpa klare und
gleichbleibende Vokale hervorbringt: ein „O“-Klang klingt immer
wie ein „O“. Der Klang kann länger oder kürzer sein, aber er
ist immer ein „O“. Andererseits artikuliert Serpa die Konsonanten
selbst wenn sie am Ende eines Wortes erscheinen. Man hört
unmissverständlich „recalar“, „quedar“ und „dolor“, aber
nicht „recalá“, „quedá“ oder „doló“. Serpa singt „auf
den Vokalen“ wie ein guter, klassisch ausgebildeter Sänger: er
trägt die Vokalklänge in den nächsten Ton und läßt die
Konsonanten nur einen Augenblick vor dem nächsten Vokal erklingen.
Dadurch erscheinen Serpas „k“-Klänge weniger auffällig als El
Cigalas.
6. Uno
In der
Tango-Tanzmusik machte sich Serpa mit zwei der wichtigsten
Tanzensembles der vierziger und fünfziger Jahre einen Namen: den
Orchestern von Osvaldo Fresedo and Carlos Di Sarli. Fresedo und Di
Sarli kultivierten beide einen weichen, vollen, von Geigen
dominierten Orchesterklang, dem sich Serpas feinfühlige und elegante
Stimme wunderbar anpasste. Vielleicht war es die Folge
unterschiedlicher Aufnahmetechniken, aber Serpas Stimme mischte sich
besonders vorteilhaft mit Fresedos Klangfarbe: so, als wäre sie ein
weiteres Instrument im Orchester. In Fresedos Einspielung von Mariano
Mores' Tango Uno, die
sechs Jahre nach Niebla del Riachuelo
aufgenommen wurde, präsentiert sich Serpa als ein herangereifter
Sänger mit einer bemerkenswerten Gesangstechnik und Ausdruckskraft.
Oscar
Serpa (links) und Osvaldo Fresedo
|
Die
formale Struktur von Uno
entspricht einem tango
canción. Er besteht
aus zwei Abschnitten, von denen der erste Abschnitt die Strophe
setzt, der zweite den Refrain. Der erste Abschnitt ist wiederum in
zwei Sätze aufgeteilt—einem Vordersatz von 8 Takten und einem
Nachsatz mit einer Länge von 15 Takten. Im Folgenden untersuchen wir
nur nur den Vordersatz und den Übergang zum Nachsatz als ein
Beispiel für Serpas Gesangsstil. Wir möchten aber unsere Leser
auffordern, sich die ganze Aufnahme anzuhören und sie mit den
Versionen anderer Sänger zu vergleichen (viele können als
Internet-Resource abgerufen werden).
Der
Vordersatz setzt sich aus zwei vier-taktigen melodischen Motiven
zusammen, die eine chromatische Skala (Halbtonschritte) in relativ
schnellen Notenwerten entfalten. Diese aufsteigende melodische Phrase
wird bis in den Nachsatz hinein entwickelt, wo sie ihren Höhepunkt
erreicht und dann schrittweise wieder absteigt.
Der
melodischen Bewegung wird durch die Dynamik Nachdruck verliehen. Der
Vordersatz beginnt im piano und führt über ein crescendo
zum forte im fünften Takt, steigert sich dann
bis zu einem fortissimo
zu Beginn des Nachsatzes und nimmt dann allmählich wieder ab. Die
melodische und dynamische Intensität verlaufen so parallel
zueinander. Der musikalische Aufbau diese Abschnittes ähnelt
einer Welle, die langsam anschwillt und dann allmählich wieder
verebbt.
Die
Aufnahme des Fresedo Orchesters vermittelt dieses Aufwallen und
Abflauen mit großem Feingefühl. Die Geigen spielen die einzelnen
Noten der aufsteigenden Melodie mit breiten tenuto Strichen
(sie werden nur kurz zur Abwechslung von einer staccato
Passage unterbrochen), die nach und nach an Stärke und Intensität
zunehmen. Der Höhepunkt des Anschwellens im Nachsatz, das
fortissimo, wird effektvoll durch die Schlaginstrumente
unterstrichen. Es scheint fast, als wäre Uno auf die
Besetzung des Fresedo Orchesters zugeschnitten.
Serpas
Wiedergabe von Uno in
der Fresedo Aufnahme ist ein Paradebeispiel klarer Diktion. Sie
deutet auf einen weiteren Aspekt der hervorragenden Gesangstechnik
Serpas hin: seine Atemkontrolle, die die langen aufsteigenden
Melodien mit spielerischer Leichtigkeit erklingen läßt. Er atmet
nur, wenn die zwangsläufige Unterbrechung des Klanges nicht die
musikalische (oder dichterische) Phrasierung beeinträchtigt. Die
Aufnahme verdeutlicht auch Serpas makellose Intonation und sein
freies, gleichbleibendes Vibrato. Er zeigt große Sensibilität für
Text und Musik und akzentuiert nur Silben, die dem musikalischen und
dichterischen Sinn verdeutlichen.
Serpas
Stimme fügt sich wunderbar in den Orchesterklang ein. Sie klingt
fast mehr wie ein Instrument als die Stimme eines Gesangssolisten.
Serpa singt geschmackvolle Portamentos (eine gleitende Verbindung von
einem Ton zum anderen) und rubato
Passagen (siehe oben). Die Phrase beim zweiten Auftreten des Wortes
„uno“, dem fortissimo
Höhepunkt des ersten Abschnitts, ist atemberaubend. Anstelle das
Wort nach dem langen crescendo
im fortissimo
herauszudröhnen, singt er das „u-no“ leicht, wie auf einem
Silbertablett serviert, und fährt mühelos bis zum Ende der Phrase
fort („... amor“), atmet dann kurz, um die Phrase zu beenden
und die nächste vorzubereiten. Tango kann nicht schöner gesungen
werden.
Wir
haben uns entschlossen, Oscar Serpa zu besprechen, da er unserer
Meinung nach die Gesangskunst seiner Zeit vorbildlich repräsentierte.
Serpa beherrschte die jahrhundertealte Kunst des Singens mit der
Erzeugung eines klaren, leichten Klanges. Seine natürlich
virbrierende Stimme war mit einer außerordentlich deutlichen Diktion
ausgestattet, der Konsonanten kein Hindernis waren, sondern die
Vokale unterstützten, Worte zu aussagefähigem Text und damit zu
Liedern zu formen. Dieser Gesangsstil ist in der populären Musik
verloren gegangen. Die moderne Technologie—Mikrophone,
elektronische Klangbereicherung, Schneidetechniken, usw.—hat es
kleinen Stimmen leicht gemacht, groß zu klingen; und das hat auch
den allgemeinen Geschmack beeinflusst. Dennoch können wir der
Technologie dankbar sein, dass sie so viele historische Aufnahmen
erhalten hat, die wir noch heute genießen können.