Wednesday, February 21, 2018

Über das Singen, Technologie und Oscar Serpa


Ein gemeinsamer Beitrag von Daniela Pastina und El Victrolero


Das 20. Jahrhundert war ein Zeitraum beispielloser technischer Fortschritte, und es hat unser Leben vielgestaltig beeinflusst. Technologische Entwicklungen bedingen generell Veränderungen im Ablauf der Dinge unseres täglichen Lebens. Manche Veränderungen sind vielversprechend, andere stellen sich als nachteilig heraus.


Ohne die Erfindung des Phonographen würde sich Tango heute nicht einer so großen Beliebtheit erfreuen. Es gab natürlich Tanzmodewellen bevor sich Tango zu einem weltweitem Phänomen entwickelte, aber mit dem Tango geschah es zum ersten Mal, dass die Begründer des Musikstils aufgenommen und ihre Musik für die Nachwelt erhalten blieben. Die unübertroffene Qualität der Aufführungen der großen Tango-Orchester des „goldenen Zeitalters“ fesselt noch heute Tänzer und Musikliebhaber der ganzen Welt.


1. Musikaufnahmen


Die Möglichkeit, Musik aufzunehmen, ist an und für sich eine bemerkenswerte Tatsache. Zur Zeit, als die Aufnahmen gemacht wurden (von ungefähr 1910 bis in die vierziger Jahre), war die Technologie noch primitiv, und so war das Ergebnis: gemessen am heutigen Standard ist die Klangqualität der alten Technik dürftig (ganz abgesehen von der Abnutzung, der die Platten im Laufe der Zeit unterlagen). Trotzdem ist es die Qualität der Aufführungspraxis, die hervorsticht und die modernen Hörer bald über die oberflächliche Zerkratztheit hinweghören und den künstlerischen Wert schätzen läßt.

Die Aufnahmetechnologie verbesserte sich im Laufe der Zeit, aber ein Faktor blieb bis in die fünfziger Jahre unverändert: eine einmal gemachte Aufnahme konnte nicht mehr geändert werden. Aufnahmen wurden in Wachs- oder Lack-Platten geschnitten, von denen dann Matrizen hergestellt wurden. Eine geschnittene Wachsplatte konnte nicht modifiziert werden. Wurden während der Aufnahme schwerwiegende Fehler gemacht, musste man die Aufnahme wiederholen. Mit anderen Worten: Aufnahmen, die vor den späten fünfziger Jahre gemacht wurden, sind im Prinzip Live-Mitschnitte.

Für Musiker ist das Spielen bei einer Aufnahme anstrengender als vor einem Publikum. Ein Patzer während eines Konzertes ist schnell vergessen, wenn er überhaupt bemerkt wird. In einer Aufnahme wird er aber für immer erhalten. Aufnahmetechniker aus der Zeit der Wachsplatten haben berichtet, dass Aufnahmesitzungen für Musiker klassischer Musik besonders aufreibend sein konnten, da sie gewöhnlich Stücke spielten, die wesentlich länger waren als ein Tango. Die Musiker wurden leicht so nervös, dass sich die Fehler mit jeder Wiederholung vermehrten. Am Ende entschloss man sich oft, die erste Aufnahme zu nehmen, da sie die wenigsten Fehler aufwies.

Im Vergleich zu modernen Standards waren auch die Aufnahmeverfahren primitiv. Zur Zeit der akustischen Aufnahmen (als die ersten Tangos aufgenommen wurden) mussten die Ausführenden mehr oder weniger direkt in einen großen Trichter singen oder spielen, der den Schall auffing. Elektromagnetische Mikrophone kamen erst in den späten zwanziger Jahren auf. Diese waren wesentlich aufnahmefähiger und erlaubten den Musikern eine größere Distanz während der Aufnahme. Orchester wurden in einem Kreisausschnitt vor dem Mikrophon platziert. Die Klangbalance wurde durch die Verteilung der Musiker im Studio erreicht: die Solisten wurden dem Mikrophon am nächsten aufgestellt, um sie klanglich hervortreten zu lassen, und die Instrumentalgruppen und lauten Instrumente wurden im Hintergrund platziert.


Ernesto Famá während einer Aufnahme mit dem Orchester von Francisco Canaro. Famá steht dem Mikrophon am nächsten. In der ersten Reihe hinter ihm sitzen die Bandoneons, dahinter die Geigen. Am Weitesten entfernt vom Mikrophon sind die gedämpfte Trompete (links) und der Flügel (rechts).

Das Mikrophon fungierte somit als „stellvertretender Zuhörer“, zu dem das Orchester spielte. Die Instrumente wurden so aufgestellt, dass dieser Zuhörer den Klang in der gewünschten Balance empfing. Heutzutage werden die Instrumente während einer Aufnahme isoliert, entweder indem sie von individuellen Mikrophonen aufgenommen, durch Zwischenwände getrennt, oder als einzelne Stimmen nacheinander aufgenommen werden. Diese Aufnahmetechniken sind wesentlich ökonomischer, da sich Fehler einzeln nacheinander korrigieren lassen. Ihre Entwicklung hatte aber auch einen folgenschweren—und unserer Meinung nach negativen—Nebeneffekt: es verschob die Kontrolle (und damit auch zum Teil die Verantwortung) über den Vortrag in zunehmendem Maße von den Musikern zu den Technikern. Tatsächlich ist es heute in der populären Musik nicht ungewöhnlich, dass die Musiker auf die letzte Phase des Aufnahmeprozesses, die Tonmischung, keinen Einfluss haben. Diese Phase wird oft völlig den Klangingenieuren überlassen.


Vor den späten fünfziger Jahren lag die Verantwortung, gut und fehlerlos zu spielen, bei den Musikern. Gut zu spielen hieß nicht nur, das Publikum zu beeindrucken, es hieß auch, eine Aufgabe schnell zu erledigen und zur nächsten überzugehen. Die Tango-Aufnahmen des „goldenen Zeitalters“ sind ein Zeugnis für hervorragend ausgebildete und erfahrene Musiker, die von Musikern anspruchsvollerer Musikgattungen nicht in den Schatten gestellt werden.


2. Singen ohne Mikrophon


Mikrophone gab es schon vor der Entwicklung von Schallplatten. Das Telephon wäre z.B. ohne Mikrophon undenkbar. Die Aufnahmequalität der ersten Mikrophone machte sie allerdings für Musik untauglich. Erst in den späten zwanziger Jahren wurden Mikrophone entwickelt, die Musik so gut wiedergaben, dass sie für Musikaufnahmen benutzt werden konnten.


Es mag heute kaum glaubhaft erscheinen, aber es war eine Realität bis mindestens in die dreißiger Jahre: Sänger populärer Musik benutzten bei Aufführungen keine Mikrophone. Ihre Stimme musste laut genug sein, um auch mit Orchesterbegleitung und in einem größeren Saal gehört zu werden.


Libertad Lamarque während eines Konzertauftritts (1931). Sie singt ohne Mikrophon im Teatro Colón, dem Opernhaus von Buenos Aires. Begleitet wird sie von fünf Gitarristen. Im Hintergrund ist Orchester Canaro zu sehen, das auch die Sängerinnen während des Konzertes begleitete.

Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt des „goldenen Zeitalters“ ist die Tatsache, wie viele Tangosänger mit hervorragend klarer Diktion sangen. Die Texte sind ohne weiteres zu verstehen und die Worte so klar artikuliert, als wären sie für ein Diktat bestimmt.

Eine tragende Stimme und klare Diktion gehören zu den Anzeichen ausgebildeter Sänger. Das sollte nicht überraschen: viele Tango-Instrumentalisten waren Absolventen von Konservatorien oder hatten mit ihr Metier von anderen bekannten Instrumentalisten gelernt. Das allgemein übliche Bild eines Sängers populärer Musik ist allerdings nicht das eines klassisch ausgebildeten Musikers. Im Gegensatz zu Opernsängern z.B., die mit einem gewissen Stolz einer Gesangsschule angehören, geben sich Sänger populärer Musik eher als Intuitionskünstler. Wir haben daher kaum Informationen wie Tangosänger singen lernten.

Es besteht allerdings kein Grund anzunehmen, dass Sänger nicht formell ausgebildet wurden. Canaro nahm z.B. Sänger unter Vertrag, die in den Theaterstücken, die er mit Ivo Pelay inszenierte, auftreten konnten. In einem Theater ohne Verstärkung zu singen und einen Text mit klarer Diktion bis in die hinteren Reihen zu projizieren erfordert eine Stimmtechnik, die man erlernen muss.

Uns ist aber auch eine Tangosängerin bekannt, die keinen Gesangsunterricht erhalten hatte: Tita Merello. Tita Merello war Schauspielerin, allerdings zu einer Zeit, in der man von Schauspielern erwartete, dass sie auch sangen. Zu Anfang ihrer Karriere hatte sie einmal ihr Glück als Sängerin in einem Varieté versucht. Sie fiel allerdings damit so durch, dass sie den Gedanken an eine Gesangskarriere aufgab. Als sie aber Fortschritte auf der Theaterbühne machte, sang sie auch, wenn es im Stück verlangt wurde. 1932 wurde sie für La muchachada del centro, einem Stück von Ivo Pelay mit Musik von Francisco Canaro, engagiert und musste in der Rolle zwei Lieder mit Canaros Orchester singen. Während der Proben beklagte sie sich, dass das Orchester zu laut wäre. Sie hatte Angst, nicht gehört zu werden, da sie keine große Stimme hatte. Canaro beruhigte sie und versprach ihr, das Orchester zurückzuhalten. Tita Merello hatten einen durchschlagenden Erfolg; das Stück in der gleichen Besetzung wurde fast 600 Mal aufgeführt. Aber zwei Jahre später berichtete die Wochenzeitschrift Caras y caretas: „Tita Merello hat sich endlich entschlossen, Gesangsstunden unter der Leitung von Maestro Longomuto zu nehmen.“


3. Die Gesangstradition


Zur Zeit als der Tango sich zur bodenständigen Musik von Buenos Aires entwickelte, erlebte Argentinien „die große europäische Einwanderungswelle“. Die größten Gruppen von Einwanderern kamen aus zwei Ländern: Italien und Spanien. Der Einfluss dieser Einwanderungsgruppen war maßgebend. Eine große Mehrzahl der Tangomusiker waren, wenn sie nicht selbst in Europa geboren waren, Kinder von eingewanderten „tanos“ und „gallegos“.

Die Immigranten brachten ihre musikalischen Traditionen mit; aber nicht nur das: unter ihnen befanden sich auch Musiker und Musiklehrer, die die Ästhetik und Stile ihrer Musikkultur weiter kultivierten und weitervermittelten. Überdies war Buenos Aires kein provinzieller Marktflecken, sondern eine wachsende Metropole in der besuchende und wohnhafte Künstler aus Europa alltäglich waren.

Der gewöhnliche Gesangsstil, der im 19 und frühen 20. Jahrhundert praktiziert und gelehrt wurde, entwickelte sich aus der italienischen bel canto Oper. Die Klangqualität des Gesangs ist in diesem Stil von höchster Bedeutung. Das Ziel ist die Intensität und Farbe des Tones so zu gestalten, dass sie im ganzen Umfang der Stimme gleich bleiben. Melodien müßen als größere musikalische Einheiten artikuliert werden, die sich durch einen ununterbrochenen, geschmeidigen Übergang von einer Note zur anderen auszeichnen und in einem Theater selbst wahrnehmbar sind, wenn sie leise gesungen werden.

Singen besteht nicht nur aus Tönen und musikalischen Noten, sondern auch aus Texten, die Satzstrukturen und Sinngehalt aufweisen. Im Gesangsstil des bel canto ist eine deutliche Artikulation von Wörtern und Verszeilen höchstes Gebot. Um den geschmeidigen Übergang von Note zu Note nicht zu unterbrechen, bediente man sich einer besonderen rhythmischen Vortragsweise: des tempo rubato („gestohlene Zeit“). Eine Melodie rubato zu singen bedeutet, betonte Noten länger als den angegeben Notenwert zu singen. Diese zusätzliche Länge wird von den angrenzenden Noten „gestohlen“, die dadurch kürzer gesungen werden müssen, damit der Vortrag im Takt und Tempo bleibt.

Tango war zu Beginn vor allem Instrumentalmusik, entwickelte sich aber zu einer hauptsächlich vokalen Musik mit der „Erfindung“ des tango canción in der Mitte der zwanziger Jahre. Hört man heute die vielen Aufnahmen von Tangos und verwandten Musikformen, die in den folgenden 20 Jahren aufgenommen wurden, kann man über die schiere Anzahl der ausgezeichneten Sängern zur damaligen Zeit nur staunen. Carlos Gardel, ein außergewöhnlicher Sänger, der auch Gitarre spielte, einige bezaubernde Lieder komponierte und zu Idolen des argentinischen Films gehörte, überragt rückblickend alle, aber es gab noch andere, die hinter Gardel nicht zurückstanden. Einem von ihnen, Oscar Serpa—der zwar nicht vergessen, aber häufig nur „unter anderem“ erwähnt wird—gebührt unserer Meinung nach viel größere Anerkennung.


4. Oscar Serpa (1919-1982)



Über Oscar Serpas musikalische Ausbildung wissen wir leider nur sehr wenig. Seine Eltern schickten ihn auf ein Konservatorium, wo er Gitarre spielen und wahrscheinlich auch singen lernte. Mit 17 Jahren wurde er von Abel Pelaia „entdeckt“. Pelaia hatte seinen Partner verloren und war auf der Suche nach einem Ersatz auf Serpa aufmerksam gemacht worden. Pelaia und Serpa studierten ein Repertoire ein und traten nach ein paar Monaten als Gesangsduo auf. Als Tangosänger trat Serpa zum ersten Mal 1942 auf, als er sich dem Orchester von Osvaldo Fresedo anschloss.

Alberto Podestá über Oscar Serpa (2012)

Serpa verdankt seinen Gesangsstil einer jahrhundertealten Tradition, die im Laufe des 20. Jahrhunderts aus der populären Musik durch die Einführung des Mikrophons und technologischen Fortschritt langsam aber unaufhaltsam verschwunden ist. Seine Stimme zeichnet sich durch elegante Phrasierung und Homogenität der Klangfarbe aus. Die Klangerzeugung ist rein und leicht, ununterbrochen und natürlich vibrierend. Serpas Gesang strebt nicht nach dramatischen Effekten, und es finden sich keine Anzeichen von Härten oder trüben Klänge. Seine Stimme hinterläßt den Eindruck, dass sie trotz des Mikrophons grossartig klingt, nicht aber durch das Mikrophon. Serpa lernte zu singen, als Mikrophone noch nicht zur Gesangstechnik gehörten, und seine Aufnahmen, die sich über 20 Jahre hinstreckten (von 1937, Niebla del Riachuelo, bis 1955, Verdemar), bezeugen, dass er seinen Stil über die Jahre beibehielt.


5. Niebla del Riachuelo



Mit nur 18 Jahren, ein Jahr nachdem er berufsmäßig als Sänger in Erscheinung trat, nahm Serpa Niebla del Riachuelo auf. Die Aufnahme verdeutlicht, wie seine klare Diktion den Text aufleben läßt. Es ist eine ehrliche Tenorstimme, die nicht versucht anders zu klingen, als es ihr gegeben ist, die keine Effekte anstrebt und—vielleicht entgegen dem heutigen Geschmack—nie Klänge erzeugt, die einem klassisch ausgebildetem Gehör als unangenehm auffallen würden. Ein Vergleich mit der moderneren Aufnahme von Niebla del Riachuelo des spanischen Flamenco-Sänger Diego „El Cigala“ veranschaulicht den Unterschied.



Man könnte einwenden, dass Diego „El Cigala“ in einem ganz anderen musikalischen Stil singt—einem Stil, der Spontanität über Kontrolle schätzt und einer eigenen Ästhetik folgt. Sicherlich stehen Serpa und Diego an entgegengesetzten Enden eines Spektrums. Serpas Ziele—klarer und weicher Klang, musikalische Phrasierung, deutliche Diktion—sind nicht El Cigalas. Cigalas Stimme is kratzig, er verschluckt Silben, verwischt Vokalklänge und ändert Worte. Seine starken „K“-Kehllaute (z.B. in der Textzeile „... barcos carboneros que ...“), die sich vielleicht aus dem Umstand ergeben, dass er direkt in das Mikrophone singt, verhindern eine kontinuierliche Klanglinie. Es ist auch unmöglich, eine Vorstellung vom Volumen seiner Stimme zu gewinnen, da das Mikrophon die Unterschiede zwischen lauten und leisen Passagen ausgleicht und der Stimme ein künstlicher Halleffekt zugemischt wurde.

Serpas Aufnahme war ein „Live“-Mitschnitt, d.h., sein Vortrag wurde in eine Wachsplatte geschnitten. Alle Musiker (wir schätzen: der Sänger und drei Gitarristen) waren vor dem Mikrophon platziert: der Sänger am nächsten, aber immer noch mit einem gewissen Abstand, und dahinter die Instrumentalisten. Soweit es die damalige Technologie ermöglichte, ist die Aufnahme eine natürliche Wiedergabe, d.h., es wurden keine technischen Effekte hinzugefügt.

In Serpas Version ist der Text einerseits dadurch leicht verständlich, dass Serpa klare und gleichbleibende Vokale hervorbringt: ein „O“-Klang klingt immer wie ein „O“. Der Klang kann länger oder kürzer sein, aber er ist immer ein „O“. Andererseits artikuliert Serpa die Konsonanten selbst wenn sie am Ende eines Wortes erscheinen. Man hört unmissverständlich „recalar“, „quedar“ und „dolor“, aber nicht „recalá“, „quedá“ oder „doló“. Serpa singt „auf den Vokalen“ wie ein guter, klassisch ausgebildeter Sänger: er trägt die Vokalklänge in den nächsten Ton und läßt die Konsonanten nur einen Augenblick vor dem nächsten Vokal erklingen. Dadurch erscheinen Serpas „k“-Klänge weniger auffällig als El Cigalas.


6. Uno



In der Tango-Tanzmusik machte sich Serpa mit zwei der wichtigsten Tanzensembles der vierziger und fünfziger Jahre einen Namen: den Orchestern von Osvaldo Fresedo and Carlos Di Sarli. Fresedo und Di Sarli kultivierten beide einen weichen, vollen, von Geigen dominierten Orchesterklang, dem sich Serpas feinfühlige und elegante Stimme wunderbar anpasste. Vielleicht war es die Folge unterschiedlicher Aufnahmetechniken, aber Serpas Stimme mischte sich besonders vorteilhaft mit Fresedos Klangfarbe: so, als wäre sie ein weiteres Instrument im Orchester. In Fresedos Einspielung von Mariano Mores' Tango Uno, die sechs Jahre nach Niebla del Riachuelo aufgenommen wurde, präsentiert sich Serpa als ein herangereifter Sänger mit einer bemerkenswerten Gesangstechnik und Ausdruckskraft.

Oscar Serpa (links) und Osvaldo Fresedo


Die formale Struktur von Uno entspricht einem tango canción. Er besteht aus zwei Abschnitten, von denen der erste Abschnitt die Strophe setzt, der zweite den Refrain. Der erste Abschnitt ist wiederum in zwei Sätze aufgeteilt—einem Vordersatz von 8 Takten und einem Nachsatz mit einer Länge von 15 Takten. Im Folgenden untersuchen wir nur nur den Vordersatz und den Übergang zum Nachsatz als ein Beispiel für Serpas Gesangsstil. Wir möchten aber unsere Leser auffordern, sich die ganze Aufnahme anzuhören und sie mit den Versionen anderer Sänger zu vergleichen (viele können als Internet-Resource abgerufen werden).

Der Vordersatz setzt sich aus zwei vier-taktigen melodischen Motiven zusammen, die eine chromatische Skala (Halbtonschritte) in relativ schnellen Notenwerten entfalten. Diese aufsteigende melodische Phrase wird bis in den Nachsatz hinein entwickelt, wo sie ihren Höhepunkt erreicht und dann schrittweise wieder absteigt.

Der melodischen Bewegung wird durch die Dynamik Nachdruck verliehen. Der Vordersatz beginnt im piano und führt über ein crescendo zum forte im fünften Takt, steigert sich dann bis zu einem fortissimo zu Beginn des Nachsatzes und nimmt dann allmählich wieder ab. Die melodische und dynamische Intensität verlaufen so parallel zueinander. Der musikalische Aufbau diese Abschnittes ähnelt einer Welle, die langsam anschwillt und dann allmählich wieder verebbt.

Die Aufnahme des Fresedo Orchesters vermittelt dieses Aufwallen und Abflauen mit großem Feingefühl. Die Geigen spielen die einzelnen Noten der aufsteigenden Melodie mit breiten tenuto Strichen (sie werden nur kurz zur Abwechslung von einer staccato Passage unterbrochen), die nach und nach an Stärke und Intensität zunehmen. Der Höhepunkt des Anschwellens im Nachsatz, das fortissimo, wird effektvoll durch die Schlaginstrumente unterstrichen. Es scheint fast, als wäre Uno auf die Besetzung des Fresedo Orchesters zugeschnitten.




Serpas Wiedergabe von Uno in der Fresedo Aufnahme ist ein Paradebeispiel klarer Diktion. Sie deutet auf einen weiteren Aspekt der hervorragenden Gesangstechnik Serpas hin: seine Atemkontrolle, die die langen aufsteigenden Melodien mit spielerischer Leichtigkeit erklingen läßt. Er atmet nur, wenn die zwangsläufige Unterbrechung des Klanges nicht die musikalische (oder dichterische) Phrasierung beeinträchtigt. Die Aufnahme verdeutlicht auch Serpas makellose Intonation und sein freies, gleichbleibendes Vibrato. Er zeigt große Sensibilität für Text und Musik und akzentuiert nur Silben, die dem musikalischen und dichterischen Sinn verdeutlichen.



Serpas Stimme fügt sich wunderbar in den Orchesterklang ein. Sie klingt fast mehr wie ein Instrument als die Stimme eines Gesangssolisten. Serpa singt geschmackvolle Portamentos (eine gleitende Verbindung von einem Ton zum anderen) und rubato Passagen (siehe oben). Die Phrase beim zweiten Auftreten des Wortes „uno“, dem fortissimo Höhepunkt des ersten Abschnitts, ist atemberaubend. Anstelle das Wort nach dem langen crescendo im fortissimo herauszudröhnen, singt er das „u-no“ leicht, wie auf einem Silbertablett serviert, und fährt mühelos bis zum Ende der Phrase fort („... amor“), atmet dann kurz, um die Phrase zu beenden und die nächste vorzubereiten. Tango kann nicht schöner gesungen werden.


Wir haben uns entschlossen, Oscar Serpa zu besprechen, da er unserer Meinung nach die Gesangskunst seiner Zeit vorbildlich repräsentierte. Serpa beherrschte die jahrhundertealte Kunst des Singens mit der Erzeugung eines klaren, leichten Klanges. Seine natürlich virbrierende Stimme war mit einer außerordentlich deutlichen Diktion ausgestattet, der Konsonanten kein Hindernis waren, sondern die Vokale unterstützten, Worte zu aussagefähigem Text und damit zu Liedern zu formen. Dieser Gesangsstil ist in der populären Musik verloren gegangen. Die moderne Technologie—Mikrophone, elektronische Klangbereicherung, Schneidetechniken, usw.—hat es kleinen Stimmen leicht gemacht, groß zu klingen; und das hat auch den allgemeinen Geschmack beeinflusst. Dennoch können wir der Technologie dankbar sein, dass sie so viele historische Aufnahmen erhalten hat, die wir noch heute genießen können.







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