Tuesday, May 3, 2016

Wider das Gedrängel auf der Tanzfläche

Tanz am Berliner Hof


Einführung


Der folgende Text ist ein Kapital aus Franz Wolfgang Koebners und Robert L. Leonards Tanz-Brevier, das 1913 veröffentlicht wurde. Das Buch übte nach seiner Erscheinung großen Einfluß auf das Tanzgeschehen in Deutschland aus. Es ist eine Anleitung zu den modernen Tänzen der Zeit: u.a. dem One-step, Boston-waltz und dem neuesten Modetanz in Paris, dem Tango. Die Tänze, die Koebner und Leonard darstellen, sowie ihre Musik kamen alle aus der Neuen Welt. Sie gehörten nicht zum Standardprogramm der Tanzschulen und waren daher wahrscheinlich außerhalb der großen Metropolen nicht weit verbreitet. Das Tanz-Brevier versprach die neuen Tänze im Selbstunterricht erlernen zu können und trug damit entscheidend zum „Tangofieber“ der Ballsaison 1913/14 bei.

Koebner und Leonard engagierten sich für die modernen Tänze. Die übertragenden Formen des Tanzes empfanden sie als beengend, die modernen als dynamisch und befreiend. In diesem Sinne ist das folgende Kapitel als Gegenstück zum Thema ihres Buches zu verstehen. Daß dafür der „Tanz bei Hof“ gewählt wurde, sollte nicht verwundern: es stellt einen Extremfall da, in dem mehr auf Form und Zeremoniell geachtet wurde, als bei anderen Tanzveranstaltungen. So veranschaulicht es den Kontrast zwischen starrer Tradition und dynamischer Moderne.



Marie Gräfin Heide: Der Tanz bei Hof

Tanz bei Hof! Drei sehr inhaltsschwere Wörtchen; denn wehe demjenigen, an dessen Wiege Terpsichore nicht Pate gestanden und wem vielleicht schon wieder die einfachsten Regeln der Tanzkunst schwer fallen, der hat bei Hof einen bösen Stand, seitdem unser jetziger Kaiser die alten Tänze, als da sind die Gavotte und das Menuett, wieder aufleben ließ. Unter dem alten Kaiser wurden außer Lanciers und Françaisen lediglich Galoppwalzer getanzt, ein spezifisch höfischer Tanz, der auch heute noch beibehalten wird, da der richtige langsame Links- und Rechtsherum-Walzer mit all seinen mehr oder minder schönen modernen Abarten ja leider nicht hoffähig ist. Galoppwalzer ist eine Art ziemlich schneller und nur nach rechts herum und ohne zu schieben oder zu wackeln getanzter Two-step, der seinerzeit mit unerreichter Eleganz und Verve unter anderem von dem jetzigen Oberstallmeister des Kaisers und damaligem Vortänzer Freiherrn Hugo von Reisbach getanzt wurde. Die Lanciers und Françaisen werden auch heute noch wie überall üblich getanzt, aber unter den alten Tänzen gibt es eine besondere Française und noch verschiedene Abarten des Menuetts. Es werden auf jedem Hofball eine Gavotte, die Menuette á la Reine, die alte Française und die sogenannte Prinzengavotte getanzt, die, wie ich glaube, Frau Wolden seligen Andenkens kreierte, und zu der der Prinz Joachim Albrecht von Preußen die Musik komponierte. Außerdem der Menuettwalzer; letzterer bietet den tanzenden Paaren die einzigste erlaubte Gelegenheit, nach einigen Tanzformen, die sie hintereinander auszuführen haben, einmal herum Walzer zu tanzen, aber immer nur rechts, beileibe nicht linksherum. Dies ist hauptsächlich deshalb verboten, weil man leichter angetanzt wird, was bei Hof als ein direkter Verstoß gilt. Während z. B. auf Privatfesten die königlichen Prinzen und Prinzessinnen einen mehr oder weniger gelinden Puff, wie er sich bei vielen links- und rechtsherum tanzenden Paaren à conto mancher nicht ganz taktfesten Tänzer manchmal nicht vermeiden läßt, gnädigst lächelnd quittieren, halten bei Hof die Vortänzer, sobald eine königliche Prinzeß tanzt, die übrigen Tanzenden an, resp. klopfen die Zeremonienmeister und Hofmarschälle erst mit ihren Stäben, um die Tanzenden darauf aufmerksam zu machen. Wie jeder Ball mit dem Galoppwalzer beginnt, den immer der erste Vortänzer mit der jeweilig jüngsten Hofdame seiner Majestät der Kaiserin eröffnet, so schließt jeder Ball mit dem sogenannten Schlußreigen, der hier die Stelle des sonst üblichen Kotillon vertritt. Es ist dieses eine Art von Polonaise, in der die Hunderte von Paaren aus der Bildergalerie kommend, im Weißen Saal systematisch aufmarschieren, um sich dann strahlenförmig über den ganzen Saal zu verbreiten und auf das Kommando: “en avant les Dames” resp. les Cavaliers ihre Schlußreverenz vor den Majestäten zu machen. Der Schlußreigen macht auf den Beschauer einen fast militärisch strammen Eindruck, der dadurch noch erhöht wird, daß die Tänzer regimenterweise aufgestellt werden.
aus Das Tanz-Brevier

herausgegeben von F.W. Koebner und R.L. Leonard
Verlag Dr. Eysler & Co., Berlin, 1913


Anmerkungen


Obwohl Koebner und Leonard die höfischen Tänze als überholt ansahen, kam ihnen der Hof bei der Verbreitung ihres Buches sehr zur Hilfe. Nach dessen Veröffentlichung im Sommer 1913 wurde der Tango der Publikumserfolg der folgenden Tanzsaison. In Paris hatte sich dieser während der vorhergehenden zwei Jahre etabliert und wachsender Popularität erfreut. In Berlin wollte man dem nicht nachstehen. Koebner spielte dabei eine entscheidende Rolle. Als Herausgeber der Mode-Zeitschrift Elegante Welt berichtete er regelmäßig über Mode und Ereignisse in der französischen Hauptstadt. Die eleganten Tango-Tees, die sich in Paris großer Beliebtheit erfreuten, wurden schließlich im Herbst 1913 auch in Berlin und Wien eingeführt.

Es gab aber auch konservative Stimmen, die den neuen Tänzen kritisch gegenüber standen. Unter diesen war Kaiser Wilhelm II., der im preussischen Offizier seinen Ideal-Deutschen sah. Es verwundert nicht, daß er, der selbst zum Faschingsball in Uniform erschien, am „wackeln und schieben“ der modernen Tänzen kein Gefallen fand. Im November 1913 ging dann eine Meldung durch die Presse, daß auf Grund einer kaiserlichen Anordnung alle Offiziere, die in Uniform Tango tanzten, aus dem Militär entlassen würden. Was für ein gefundenes Fressen für die Presse: Dem Kaiser waren Tango-schiebende Leutnants nicht stramm genug! Es half nichts, daß die Meldung umgehend dementiert und darauf hingewiesen wurde, daß es sich nicht um eine Anordnung handle, sondern daß die Nachricht lediglich auf eine private Äußerung des Kaisers zurückging. Die Meldung ging durch die internationale Presse, satirische Zeitschriften und Witzblätter hatten Material für Monate, jeder hatte eine Meinung über Tango oder wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Eine wunderbare Werbekampagne für das Tanz-Brevier!

Le Matin, Paris, 1913: „Kein Tango mehr! In Berlin wird er nicht mehr getanzt. Warum der Kaiser all seinen Offizieren den Tango verboten hat.“

Ein Tänzer war der Kaiser sicher nicht. Das obige Kapitel veranschaulicht auch, daß beim Tanz zu Hof das Zeremoniell dem Vergnügen vorging. Man hat dem preussischem Hof Prüderie nachgesagt, da der Walzer selbst im 20. Jahrhundert dort nicht zugelassen war. Gräfin Heide stellt allerdings klar, daß dieser Ausschluß nicht auf moralischen Überlegungen beruhte, sondern der Wahrung der Form diente: einen Walzer mit Links- und Rechtsdrehungen in Formation zu tanzen, ohne an die führenden und folgenden Paare anzustoßen, setzt geschickte Tänzer voraus, die man nicht als gegeben vorrausetzen konnte. Und um dem vorzubeugen, wurden „schwierige“ Tänze gar nicht erst auf das Programm gesetzt.

„Über Nacht ist der Tanz vom Amüsement zum Sport geworden“, heißt es im Vorwort des Tanz-Breviers. Der Tanz bei Hof war weder das Eine, noch das Andere. Koebners und Leonards Vergleich mit den modernen Tänzen ist daher vielleicht nicht ganz gerechtfertigt, und vielleicht sollte man auch nicht das Hofzeremoniell summa summarum ablehnen. Wenn man sich das Gedrängel und Geschubse auf vielen Milongas heute ansieht, fragt man sich, ob es nicht vorteilhaft wäre, wieder einen Zeremonienmeister einzuführen, der Tänzer anhält, Abstand zu wahren.

Robert Leonard,
1. Preisträger in der Amateur-Kategorie des Tanzwettbewerbs Berlin-Paris im Admirals Palast,
Berlin, März 1913.



Nachtrag


Inzwischen ist uns ein Video von der Eröffnung des Wiener Opernballs von 2014 zugekommen, das eindrücklich das Problem einer fehlenden "Verkehrsordnung" auf der Tanzfläche illustriert. Der Ball wurde mit einer Choreographie eingeleitet. Die Tänzer sind ausgewählte Schüler renommierter Tanzschulen. Während der Choreographie wird noch auf Tanzrichtung und Abstand geachtet. Ein ganz anderes Bild zeigt sich aber mit der Eröffnung der Tanzfläche für das Publikum. Wo geht's denn lang, bitte?