Thursday, December 20, 2018

Von der Habanera zum Tango, Teil 1



Die Habanera war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ausgesprochen beliebte Musikgattung. Trotzdem findet man kaum Beschreibungen von dem, was Stücken, die als Habanera bezeichnet werden, zu eigen ist. Ausschlaggebend scheint nur eins zu sein: eine bestimmte rhythmische Figur, die dem Stück als durchgehende Begleitung zu Grunde liegt.

Habanera-Rhythmus

Die rhythmische Figur ist in der Habanera so vorherrschend, dass der Rhythmus selbst nach ihr benannt wurde. Mehr noch: die meisten Beschreibungen der Habanera als Musikform beschränken sich auf eine Erwähnung des Rhythmus. Die Anwesenheit des Rhythmus erlaubt es aber nicht, Rückschlüsse auf die Form des Stückes zu ziehen, denn er ist nur ein Teil des Ganzen, das die Form ausmacht. Die Habanera-Form muss daher ausführlicher beschrieben werden.

Eine etwas detailliertere Beschreibung stellt fest, dass eine Habanera normalerweise aus zwei Teilen besteht und dass sich diese durch unterschiedliche Dur- und Moll-Tonarten unterscheiden. Tatsächlich findet man oft Stücke, auf die diese Beschreibung zutrifft. Dabei handelt es sich meistens um Habanera-Lieder, und es stellt sich heraus, dass die zweiteilige Form eine Konsequenz der Textstruktur ist: der erste Teil setzt die Strophe, der zweite Teil den Refrain. Darüber hinaus war die Differenzierung von Formteilen durch Dur- und Moll-Tonarten in der Musik des 19. Jahrhunderts ein durchaus gebräuchliches Verfahren und nicht auf die Habanera begrenzt. Eine differenziertere Darstellung der musikalischen Form der Habanera steht daher noch aus.

Der Begriff Habanera weist deutlich auf etwas hin, das seinen Ursprung in der kubanischen Stadt Havana hatte. Man sagt, dass die Habanera eine Adaption des französischen contredanse sei. Daher wird sie normalerweise der Tanzmusik zugeschrieben. Durch ihrem kubanischen Ursprung galt sie im 19. Jahrhundert auch als eine Musik von „Farbigen“. Die Personen, die in Habaneratexten auftreten sind normalerweise negros oder mulatos.

Die Popularität der Habanera nahm in den 1850iger Jahren in Spanien ihren Anfang. Die ersten bekannten Stücke wurden als Klavierstücke oder Lieder veröffentlicht und als contradanza habaneradanza habaneracanción habanera oder einfach nur habanera benannt. Die Komponisten waren ausgebildete Musiker, die sich als Pianisten oder Musik-Professoren einen Namen gemacht hatten. Heute wird die Habanera vor allem mit einem Komponisten in Verbindung gebracht: Sebastián Iradier (1809-1865). Unter seinen Habaneras gibt es zwei Kompositionen, die auch heute noch überall wiedererkannt werden. Die erste, La Paloma, hat den Ruf, die größte Anzahl von Schallplattenaufnahmen vorweisen zu können. Die zweite, El arreglito, wurde von Georges Bizet zur berühmten Habanera seiner Oper Carmen umgearbeitet.


1. La Paloma


Das Kompositionsdatum von La Paloma ist ungewiss. Die früheste bekannte Druckausgabe erschien 1859 in Madrid. Zu der Zeit hatte Iradier einige Jahre als Professor in Madrid unterrichtet; später lebte er zeitweise in Paris und Madrid.

Iradier widmete La Paloma Sarolta Bujanovics, die z.Zt. die erste Sängerin am königlichen Theater in Madrid war. Das Stück wurde als canción americana bezeichnet. (In der spanisch-sprechenden Welt wurde dies als ein Anzeichen kubanischen Ursprungs verstanden.) Der Text ist ein strophisches Gedicht, das Iradier selbst verfasst hatte.

Mlle. Sarolta Bujanovics
Die musikalische Form La Palomas besteht aus drei Teilen (in der Tabelle unten als A, B, bzw. C wiedergegeben) von leicht unregelmäßiger Länge, sowie einer Einleitung und einer Coda. Die grundlegende Länge der einzelnen Teile (einschließlich der Coda) erstreckt sich über 16 Takte, aber die effektive Länge kann auf Grund von Verlängerungen durch Begleitfiguren oder Überschneidung an Übergängen variieren. Die Einleitung entspricht einer Verlängerung des Vordersatzes im Teil A.


Teil
Effektive Länge 
(in Takten)
Grundlegende Länge
(in Takten)
Einleitung (a)
14
8
A
18
16
B
15
16
C
16

Coda
16


Teil A setzt die Strophe des Gedichtes und Teile B und C den Refrain. Im Gegensatz zur oben angegebenen Beschreibung der Habanera sind die Teile hier nicht tonartlich differenziert. Das Stück ist durchgehend in C-Dur komponiert.



Der Habanera-Rhythmus, der in der tiefen Stimmlage von der linken Hand gespielt wird, ist das auffallendste Merkmal des Stückes. Der Rhythmus erklingt durchgehend und unveränderlich. Da La Paloma ein Lied ist, wird durch ihn auch am deutlichsten eine Verbindung zum Tanz hergestellt.

La Paloma zeigt noch ein weiteres Charakteristikum der Habanera, das aber merkwürdigerweise nie in Erörterungen der musikalischen Form erwähnt wird: die rhythmische Anordnung der Melodie. Es ist auffallend (und ein immer wiederkehrendes Merkmal der „amerikanischen“ Kompositionen Iradiers), dass die Melodie wiederholt Triolen gegen den punktierten Habanera-Rhythmus setzt. Daraus ergibt sich eine ganz bestimmte rhythmische Spannung, ein sogenannter Kreuzrhythmus. Ein Kreuzrhythmus tritt auf, wenn verschiedene Stimmen nicht gleichzeitig auf einer Unterteilung des Taktes erklingen, sondern leicht verschoben.

Kreuzrhythmen, markiert mit roten Pfeilen

Mehr noch als die bloße Anwesenheit des Habanera-Rhythmus ist der Kreuzrhythmus, die Übereinanderlagerung von divergenten rhythmischen Figuren, ein Charakteristikum der Habanera. Dies trifft besonders auf Iradiers „amerikanische“ Stücke (ob Habanera oder anders betitelt) zu, aber auch für das Genre als Ganzes. In La Paloma ist ist der Habanera-Rhythmus mit den überlagernden Triolen die Kernidee der Melodien der drei Phrasen.
La Paloma, Auszüge.
Die Klammern markieren die Kreuzrhythmus-Motive.

2. El Arreglito


Obwohl Iradiers Habanera El Arreglito nie die Popularität von La Paloma erreichte, wird sie vielen Hörern auch heute noch bekannt vorkommen, denn sie war das Modell für die berühmte Habanera aus Bizets Oper Carmen.

Das Veröffentlichungsdatum von El Arreglito, ist ungewiss, aber eine spanische Ausgabe erschien 1864. Das Stück wurde als canción habanera mit Klavierbegleitung bezeichnet und war, wie das Titelblatt feststellt, zu großem Applaus im “königlichen italienischen Theater” (wahrscheinlich das Théâtre-Italien) in Paris von Mlle. Treveli aufgeführt.


Der musikalische Aufbau von El Arreglito ist dem von La Paloma sehr ähnlich. Hörer werden die charakteristischen Merkmale der Habanera ohne Weiteres wiedererkennen: den typischen Rhythmus in der Bass-Begleitung und und die Kreuz-Rhythmen, die durch Triolen in der Melodie realisiert werden.

Entgegen der stropischen Struktur des Textes von La Paloma weist der von El Arreglito eine erzählerische Form auf. Dies hat zur Folge, dass die musikalische Struktur keine dreiteilige Aufgliederung mit Strophe und Refrain ergibt, sondern eine längere, sechsteilige Form (in der Tabelle unten als A bis F wiedergegeben) nebst einer Einleitung und einer Coda.

Teil
Effektive Länge 
(in Takten)
Grundlegende Länge
(in Takten)
Tonart
Einleitung
8

D-Moll
A
16
16
D-Moll
B
25
24 = 16+8
D-Dur
C
16
16
D-Moll
D
17
16
D-Dur
E
17
16
D-Moll
F
17
16
D-Dur
Coda
12

D-Dur

Die ordentlichen Phrasen sind alle auf einer sechzehn-taktigen Grundstruktur aufgebaut, von der nur Teil B abzuweichen scheint. Dessen erweiterte Länge ergibt sich aber lediglich durch eine Wiederholung des Nachsatzes der Phrase. Demzufolge ist El Arreglito zwar länger und weist im Vergleich zu La Paloma ein unterschiedliches Format auf, aber die Ausführung der Komposition deckt sich in beiden Stücken.

Um den Übergang von einem Teil zum nächsten in El Arreglito zu betonen, griff der Komponist auf ein Mittel zurück, das man häufig in Habaneras findet: gegensätzliche Tonarten. Die sechs Teile wechseln einander in den Varianttonarten (Dur und Moll) ab. Dementsprechend ist Teil A in D-Moll gesetzt, Teil B in D-Dur, der dritte wiederum in D-Moll, usw. Um den Wechsel der Tonarten zu verdeutlichen, gibt das folgende Beispiel einen Auszug des Stückes vom Beginn bis zu den ersten Takten des Teils D wieder.


Unser Vergleich von Iradiers Habaneras hat aufgezeigt, dass sich die Stücke einerseits sehr ähneln. Die Grundstruktur beider Stücke baut sich auf sechzehn-taktigen Phrasen auf, stützen sich als Begleitfigur auf den typischen Habanera-Rhythmus, der mit Kreuzrhythmen in der Melodie bereichert wird. Andererseits sind sie aber auch deutlich unterschiedliche Stücke: La Paloma ist ein strophisches Lied, El Arreglito dagegen durchkomponiertes Gesangstück ohne Wiederholungen.

Musikstücke auf sechzehn-taktigen Phrasen aufzubauen gehört zu den gebräuchlichsten Kompositionsverfahren der in der westlichen Musik, und die Art und Weise, in der Iradier seine Stücke zusammensetzte, ist typisch für Vokalkompositionen. Dies deutet eine Schlussfolgerung an (die allerdings noch weiterer Ermittlung zur Bestätigung oder Ablehnung bedarf): die Habanera ist eher ein musikalischer Stil als eine musikalische Form, d.h., ein Stil, in dem Komponisten konventionelle Formen der westlichen Musik mit exotischen Elementen „ausschmückten“.

3. La Cubana


Florencio Lahoz (1815-1868) danza habanera La Cubana ist eines der frühesten Stücke, die „Habanera“ im Untertitel führten. Lahoz war ein spanischer Organist und Komponist, der zahlreiche Klavierstücke und einige Orchesterwerke veröffentlichte. Er verfasste auch Klavierauszüge von spanischen Bühnenwerken. Die meisten seiner bekannten Klavierstücke lehnen sich an Gattungen der spanischen Volksmusik an, insbesondere der jota aus seiner Heimatregion Aragón, aber es gibt auch „amerikanische“ Beispiele. Es ist nicht bekannt, dass Lahoz außerhalb Spaniens reiste. Seine Kenntnis der Habanera muss daher von den „amerikanischen“ Kompositionen seiner Landsleute stammen.

La Cubana ist ein bescheidenes Klavierstück, dessen Entstehungsdatum auch unsicher ist. Es wurde wahrscheinlich um 1850 komponiert, als die Habanera in Spanien sich zunehmender Beliebtheit erfreute. Das Stück ist durchgehend in G-Dur geschrieben und besteht aus zwei sechzehn-taktigen Teilen (A und B) und einer zehn-taktigen Coda.



La Cubana ist zweifelsohne eine anspruchslose Komposition. Teil A präsentiert die musikalische Hauptidee des Stückes, während Teil eine kontrastierende Melodie darbietet, dies allerdings nur im Vordersatz. Der Nachsatz des Teils B nimmt wiederum die Melodie des ersten Teils auf.

Wie in Iradiers Kompositionen zieht sich der Habanera-Rhythmus als fortlaufende Begleitfigur durch das ganze Stück. Teil B weist auch Kreuzrhythmen auf, die durch melodische Triolen hervorgerufen werden. Die auffälligste Figur in der Melodie ist aber ein anderer Rhythmus: die síncopa (Synkope).

Die síncopa, markiert durch Klammern.

Als Rhythmus ist die síncopa für die Habanera nicht ganz so charakteristisch wie der Habanera-Rhythmus mit Kreuzrhythmen, aber man trifft sie dennoch häufig an. Interessanterweise sollte sich die síncopa später zum charakteristischsten Rhythmus des argentinischen Tangos entwickeln.

La Cubana ist das faszinierende Beispiel einer Habanera, die stilistisch dem argentinischen Tango—so wie er um die 50 Jahre später in Erscheinung treten sollte—sehr ähnlich ist. Bis spät in die zweite Dekade des 20. Jahrhunderts wurden Tangos noch mit dem Habanera-Rhythmus als Begleitfigur komponiert. Das waren dann aber längere Stücke, die normalerweise aus drei Teilen bestanden, mit Vorliebe in Moll-Tonarten gesetzt waren und eine prägnante, etwas abgehackte Melodik aufwiesen. Im Vergleich zu diesen ist La Cubana zu kurz, und die Dur-Tonart mit ihren parallelen Terzen und Sexten klingt zu „süß“ für einen argentinischen Tango. Gerade letzteres macht, in Verbindung mit der taumelnden Unbestimmtheit der Kreuzrhythmen, den Charme der „sinnlichen“ Habanera aus, ist aber zu flauschig für den tango criollo. Gleichwohl, die stilistische Verwandtschaft zwischen La Cubana und argentinischem Tango is offensichtlich und faszinierend.





© 2019 Wolfgang Freis








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