Saturday, July 4, 2020

„El viejo tango que nació en el arrabal”, oder: Die Enthüllung des Mythos von der niedrigen Herkunft des Tangos, Teil 2,1



Zusammenfassung: Dieser Teil gibt weiteren Aufschluss über die Herkunft des argentinischen Tango. Eine Auswertung von Quellendokumenten aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stellt den Tanz in den Mittelpunkt. Wir folgern, dass der Tanz nicht in den armen Vierteln von Buenos Aires, sondern auf der Bühne der Boulevardtheater entstand. Dies geschah als Folge eines Prozesses, in dem die Vorbilder spanischer Theatertruppen, Schauspiele, und Tänze von argentinischen Künstlern assimiliert und als endemisch präsentiert wurden. Zeitungsartikel und Photoserien zum Thema Tango deuten darauf hin, dass Schauspieler abgebildet und als compadritos und comadritas einer legendären Vergangenheit präsentiert wurden, als ob sie authentische Charaktere von den Straßen von Buenos Aires wären. Tatsächlich handelte es sich dabei um Inszenierungen von Rollentypen aus dem teatro criollo. Die breite Öffentlichkeit von Buenos Aires wurde durch das Erscheinens solcher Rollentypen in Theater und Presse mit Tango vertraut gemacht. Das Theater war nicht nur der Schauplatz, an dem Tango von einem breiten Publikum bewundert werden konnte, es war auch der Ort, an dem Tango während der Karnevalsbälle als Gesellschaftstanz getanzt wurde. Presseberichte über die Bälle der Jahre 1904-5 unterstreichen die Beliebtheit des Tangos als Modetanz. Bilddokumente veranschaulichen, dass sich Tango zu einem ausgeprägten Gesellschaftstanz entwickelt hatte. 


IV. Die Podestás und das Apolo-Theater


Als De Marías Bohemia criolla uraufgeführt wurde (1902), hatten sich die Podestá Brüder in festen Platz unter den Theaterensembles von Buenos Aires erobert. Ihr Wechsel von der Zirkusarena auf die Bühne zum Ende des 19. Jahrhunderts fiel mit wichtigen Veränderungen im Theaterleben der Stadt zusammen. Das Ende der Vorherrschaft der spanischen Theatergruppen im teatro criollo bahnte sich an. José Podestá (*1858, Montevideo, UR) ließ sich schnell in der Presse auf ein Polemik ein und behauptete, dass das einzige Mittel, „den wahren Charakter und Geschmack“ von „originären Werken von criollo oder ansässigen Autoren“ zu bewahren, eine Interpretation von argentinischen Schauspielern wäre. 

1. Die “Capos” der Podestá Familie: Antonio, Jerónimo, José und Pablo

Die Podestás waren außerordentlich geschäftstüchtig, wenn man von der Anzahl der Stücke, die sie auf die Bühne brachten, ausgehen kann. Während des ersten Jahrzehnts der 20. Jahrhunderts inszenierten die verschiedenen Theatergruppen, die die Podestás zusammen, getrennt oder in Verbindung mit anderen Ensembles bildeten, Hunderte von Schauspielen. Viele davon spielten vor dem städtischen Hintergrund von Buenos Aires, und der conventillo diente als beliebtes Bühnenbild. Da viele Stücke zum lyrischen Musiktheater mit Orchestermusik, Liedern und Tanz gehörten, wurde der Tango tanzende compadrito ein dem Publikum geläufiger Bühnencharakter.

Leider sind viele dieser Stücke verlorengegangen oder nicht erhältlich, sodaß es unmöglich ist, die Entfaltung des Tangos im Detail zu verfolgen. Sicher ist aber, dass einige relevante Stücke sich großer Beliebtheit erfreuten. In den zwei Spielzeiten von 1901-3, in denen eine Inszenierung bei den Podestás im Durchschnitt 16 Mal aufgeführt wurde, gab es zwei Wiederaufnahmen von Ensalada criolla mit insgesamt 64 Aufführungen. Bohemia criolla, 1902 uraufgeführt, feierte 32 Vorstellungen in einer Spielzeit. Fumadas, ein Stück von Enrique Buttaro, in dem Tango zu sehen war, wurde 46 bzw. 36 Mal gespielt.

Das Apolo Theater, das 1901 das Stammtheater der von José Podestá geleiteten Theatergruppe wurde, spielte eine entscheidende Rollen in der Verbreitung des Tangos. Der Sänger Juan Carlos Marambio Catán erinnerte sich in seiner Autobiographie, daß er als Kind seine ersten Tangos im Apolo hörte, als ein Dienstmädchen ihn dort in die Nachmittagsvorstellungen schmuggelte. Die ersten Tangos von Arturo De Bassi, der sich 1903 mit 13 Jahren dem Orchester als Klarinettist anschloss, wurden im Apolo als Pauseneinlagen gespielt, einschließlich seines berühmten El Incendio. Das Orchester war auch eines der ersten, die Tangos auf Schallplatte aufnahmen.

Zur gleichen Zeit, als sich die Podestás als Theaterensemble im Apolo etablierten, erschienen in Buenos Aires die ersten tangos criollos im Druck und wurden als Klavierstücke der Öffentlichkeit zugänglich. So wie sich die argentinischen Theatergruppen das teatro criollo zu eigen machten, so adoptierten nun Komponisten den Tango als „einheimische“ Musikform. In diesem Zeitraum finden wir auch die ersten Belege dafür (daß heißt Belege, die sich dokumentieren lassen), dass Tango von der Theaterbühne in das gesellschaftliche Leben von Buenos Aires vordrang. Sowohl in Bezug auf die Musik als auch auf den Tanz veränderte sich die Wahrnehmung des Tangos. Und die Podestás, denen ein großes Publikum Aufmerksamkeit schenkte, spielten dabei eine entscheidende Rolle.

IV. Enrique Buttaro


Alle sieben Schauspiele von Enrique Buttaro (*1882, Montevideo, UR – 1904) wurden von den Podestás im Apolo aufgeführt. Zwei dieser Stücke, ¡Abajo la careta! und Fumadas, für die Antonio Podestá die Musik komponierte, gehörten zu den erfolgreichsten Komödien der beiden Spielzeiten von 1901-3. Die Handlung der beiden lyrischen sainetes spielt in einem conventillo mit der typischen Bewohnerschaft, die sich aus  criollos und Immigranten zusammensetzt.

¡Abajo la careta! (1902) enthält drei Tanzszenen, die aber keinen Hinweis darauf geben, als Tango konzipiert worden zu sein. Nur der letzte Tanz, das große Finale, wurde im Libretto gekennzeichnet. Es ist eine jota, die im teatro criollo der emblematische Tanz der spanischen Immigranten war. Tango wird nur einmal beiläufig in einem Dialog erwähnt. Figurita, eine männliche Partie, erzählt einem Freund über eine frühere Beziehung zu einer Frau, mit der er Tango tanzte:

Te acordás vos de la china 
...
Aquella, hombre, que tenía
un pelo que le llegaba
más abajo de las corvas
y unos ojazos que el alma
repicaba si los veía...
 
Aquella que envidia daba
cuando yo al compás de un tango,
la cadera le quebraba;
mientras que ella, comadriando
su cara ponía en mi cara.
...
------------------
(Erinnerst du dich an das Mädchen … Die, Mann, deren Haare bis unter die Kniekehlen reichten, und mit großen Augen, so wunderschön, dass die Seele zersprang, wenn du sie ansahst... Die, die Neid ausstrahlte, wenn ich ihr zum Rhythmus eines Tangos die Hüfte beugte, während sie, wie eine comadre, ihre Wange and die meine legte.)

Dieser Bezug auf Tango folgt einem schon bekannten Muster: ein Mann erzählt einem anderen über das sinnliche Erlebnis eines Tanzes. Der Tanz ist Teil eines „Paarungsverhaltens“, das in einem berauschenden Moment kulminiert, in dem der Mann die Frau in eine quebrada führt. (Siehe auch Sorias Justicia criolla, Szene 14.)

In Buttaros Fumadas (1902) wird dagegen wirklich mit corte y quebrada getanzt. Pucho, der Rosa den Hof macht, möchte mit ihr tanzen gehen, aber sie kann nur „modern“ tanzen. Um ihr Tango beizubringen, tanzt Pucho ihr die Tanzschritte allein vor.

PUCHO: ... ¡Ah! Décime: ¿sabes bailar? 
ROSA: ¡Ya lo creo!
PUCHO: Entonces la semana que viene te viá llevar a un baile 
pa que nos calentemos los chifles.
ROSA: Bueno, bueno... 
PUCHO: ¿Sabés meterle de aquí? (Hace un corte).
ROSA: Qué es eso? 
PUCHO: No ves, otaria, que es un quiebro?
ROSA: ¡Ah, no!... Yo bailo a la moda. 

Música

PUCHO: (Mientras baila solo). Poné atención: 
Echale arroz a este guiso. 
Este golpe es pa lo que después te viá a decir. En esta güelta tenés 
que tener cuidao de no caerte. Aquí medio entrecruzás los chifles y 
te venís pa delante... ¡así! 
Y en esta refistolada te preparás pal golpe. ¿Te enteraste? 

(Segunda). 

¡Echale arroz a este guiso!... 
En esta cáida te venís pa un lao y movés... lo que después vas a saber.
Aquí, hacés una media luna... así.
Depués te hacés un ovillo y ponés en juego... (Le habla al oído). ¿Sabés? 
Cuando yo me quiebre así, por ejemplo, vos te preparás pal golpe y 
hacés un firulete... con lo que te dije.
En esta refistolada, te preparás pal golpe, ¿Entendíste?

ROSA: Un poco. 
PUCHO: Bueno; cuando güelva te daré otra lición y entretanto... 
¡mangiá, nena!
(Hace un corte hacia el foro. Rosa por lateral segunda).



------------------

(PUCHO: Sag mir: Kannst du tanzen? 
ROSA: Ich glaube schon!
PUCHO: Dann werde ich dich nächste Woche zu einem Tanz ausführen,
damit wir uns die Läufe aufwärmen können.
ROSA: So, so ...
PUCHO: Weißt du, wie du da hineinkommst? [Er posiert einen „corte”.]
ROSA: Was ist das?
PUCHO: Dummkopf, siehst du nicht, das es eine Beugung [quiebro] ist?
ROSA: Ach, nein! Ich tanze modern.

Musik.

PUCHO: [Während er alleine tanzt.] Pass auf:

Schütt' Reis in den Eintopf!...
Dieser Trick ist für das, was ich dir später sagen werden. In dieser Drehung 
musst du aufpassen, dass du nicht hinfällst. Hier wirst du deine Beine halb 
überkreuzen und vorwärts gehen... Nämlich so!
Und mit diesem Dreh bereitest du dich für den Trick vor. 
Hast du verstanden?

[Zweite Strophe]

Schütt' Reis in den Eintopf!...
Bei diesem Fall [caída] kommst du zur einen Seite und bewegst dich... 
was du dann sehen wirst. Hier machst du eine media luna... Nämlich so! 
Dann machst du ein Knäuel (ovillo) und bringst dich ins Spiel... 
[Er spricht ihr ins Ohr.] Weißt du, wenn ich eine Beugung [me quiebre] mache, 
zum Beispiel so, dann bereitest du dich auf den Trick vor und machst eine 
Verzierung [firulete]... wie ich es dir gesagt habe.
Und mit diesem Dreh bereitest du dich für den Trick vor. 
Hast du verstanden?

ROSA: Ein bisschen.
PUCHO: Gut. Wenn ich wiederkomme, gebe ich dir noch eine Stunde, 
und bis dahin... Iss, Kleine!
[Er markiert einen “corte” zum Publikum. Rosa zum zweiten Flügel links raus.])


Diese Tanzszene folgt einem weiteren Muster, nämlich der Tango-Vorführung: ein Mann markiert die Tanzschritte, um sie einem Freund oder einer Tanzpartnerin zu zeigen oder beizubringen. Man muss dazu anmerken, dass Nachahmungen dieser Art, die zu Übertreibungen geradezu einladen, zu den Kunstgriffen von Slapstick-Komödien gehören. Pablo Podestá, der die Rolle in der ersten Inszenierung des Stückes spielte, machte sich als Pucho einen Namen als komischer Schauspieler.

Das Wort „Tango“ wird in Fumadas ebensowenig erwähnt wie in De Marías Schauspielen. Die Darstellung des Tanzes ist aber in diesem Text wesentlich technischer. Worte des früheren Tango-Vokabulars wie „corte”, „quebrada”, oder „firulete” wurden in einem allgemeineren, nicht unbedingt Tango-spezifischem, Sinn gebraucht. (Man beachte, dass auch in diesem Text „corte” und „quiebro” [quebrada] auf die gleiche Tanzbewegung angewendet werden.) Hier finden wir aber auch Begriffe wie „media luna”, „ovillo“, „caída”, eine Aufforderung zum Überkreuzen der Beine, usw. Daraus läßt sich schließen, dass der Tanz konkreter geworden ist. Es handelt sich nicht mehr um einen Tanzstil mit corte y quebrada, sondern um einen Tanz mit bestimmten Schrittfolgen und Posen, der bald durchgehend bei seinem Namen genannt werden wird: Tango.

V. Tango Reklame


1903 veröffentlichte der Journalist José Ciriaco Álvarez (*1858, Gualeguaychú) unter dem Pseudonym „Sargento Pita” (Wachtmeister Pfeift) einen Artikel mit dem Titel El tango criollo. Dieser Artikel ist eines der wichtigsten Dokumente in der Geschichte des argentinischen Tangos, denn es ist der erste ganzseitige Pressekommentar, der sich dem Tanz widmet und verlauten läßt, dass Tango criollo Wurzeln hat und in Buenos Aires entstand. Der Artikel erschien als Folge einer Kolumne in der Illustrierten Caras y caretas, in der Álvarez/„Sargento Pita” über eine Vielzahl aktueller Themen hinsichtlich Buenos Aires berichtete.


2. „Photographische Spaziergänge durch die Stadtgemeinde“: Der Tango Criollo

Álvarez' Artikel ist für uns interessant, weil er den tango criollo mit den Podestás in Verbindung bringt. Tango wird mit einem unverständlichen Hinweis auf die Zeit von Mitre und Alsina (d.h. den 1860iger Jahren) als eine Sache vergangener Tage präsentiert. In alten Zeiten, so liest man, wurde er in den Randgebieten von Buenos Aires vom compadrito und dessen Gefährtin, der „comadrita mit dem Dolch im Strumpfband“, mit corte y quebrada getanzt. Zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels wurde Tango—Álvarez zu Folge—nur noch auf „dem Trottoir der conventillos von einigen armseligen Paaren gelangweilter Faulenzer“ als „Zeitvertreib müßiger Kumpane auf offener Straße“ zum Klang des Leierkastens ausgeübt. Die klassischen Tango-Tänzer, betont Álvarez, wären verschwunden, aber die Erinnerung an den Tango wurde von den Podestás aufbewahrt und wachgehalten.

Die Beschreibung des Tangos in diesem Text ist problematisch und hat Wissenschaftlern zu denken gegeben. Sie ist in sich widersprüchlich und stellt historische Behauptungen auf, die, einfach gesagt, keinen Sinn ergeben. (Für eine Übersetzung des Texts siehe Tango im Theater) Tatsächlich spiegeln sich in den Behauptungen nur die Darstellungen der Einwohner der Unterklasse von Buenos Aires wieder, die sich im Theater zur Konvention entwickelt hatte: der compadrito , die „comadrita mit dem Dolch im Strumpfband“, der conventillo und Männer, die mit Männern tanzen. Es ist daher naheliegend, dass Álvarez' Darstellung des vergangenen und aktuellen Tangos geradewegs dem Theater entsprang, insbesondere der Inszenierungen der Podestás. Der Artikel sollte deshalb nicht als sachbezogene Äußerung zur Geschichte des Tangos interpretiert werden. Von entscheidender Bedeutung ist nicht der Text, sondern die Photographien, die abgebildet wurden.

Zeitschriften, illustriert mit Photographien wie Caras y caretas, waren 1903 noch eine Neuheit. Der Titel der Kolumne, in der der Artikel erschien, „Photographische Spaziergänge durch die Stadtgemeinde“, weist auf den Vorrang der Bilder hin. Die Kolumne berichteten über eine Vielzahl von Themen, auf die Álvarez aufmerksam machen wollte (daher das Pseudonym „Wachtmeister Pfeift“): die schlechten Zustände von Straßen, Unfälle, Straßenhändler, Bettler, Betrunkene, usw. Auf Grund der Vielzahl der Themen ist anzunehmen, dass die Texte erst nach der Entstehung der jeweils verfügbaren Photoserien abgefasst wurden.

Diese Anschauung wird durch ein weitere Photoserie unterstützt, die sechs Monate später in Caras y caretas erschien. Die Aufnahmen, die einen Mann und eine Frau beim Tanzen zeigen, illustrieren die Klavier-Partitur eines tango criollo von Miguel Tornquist, El Maco


3. “Tango Criollo”, El Maco von Miguel Tornquist

Die beiden Serien mit Tango-Tänzern (Abbildungen 2 und 3) gehören offensichtlich zusammen: der „Führende“ ist in beiden Bildfolgen derselbe. Er trägt die gleiche Kleidung, und Licht und Schatten in den Bildern deuten darauf hin, dass sie am gleich Ort und zur gleichen Zeit aufgenommen wurden.

Die Thematik des tango criollo als Photoserie ist ein eigenartiger Beitrag zur „Sargento Pita“ Kolumne, die sonst auf alltägliche Probleme in Buenos Aires aufmerksam machte—es sei denn, man möchte glauben, dass Tango-tanzende Männer damals in Buenos Aires eine öffentliche Belästigung darstellten. Álvarez behauptet aber, dass die abgebildeten Szenen eine Sache der Vergangenheit wären, dessen Erinnerung in den Inszenierungen der Podestás wachgehalten wurde. Außerdem: Warum tanzten die beiden Männer am helllichten Tage in einer menschenleeren Straße, noch dazu ohne Musik?

Zur damaligen Zeit arbeiteten Photographen mit sperrigen Apparaten und großformatigen Negativplatten. Um eine Aufnahme zu machen, musste man die Kamera in Stellung bringen und für jedes Bild eine Negativplatte einschieben. Die Bilder wurden bevorzugt bei hellem Tageslicht aufgenommen, da es die Aufnahme und die Entwicklung der Photos erleichterte. Die abgedruckten Bilder zeigen, dass der „Führende“ mit nur einer Ausnahme immer auf die Kamera ausgerichtet ist. (Der Ausnahmefall zeigt die Rückenansicht einer anderen Aufnahme. Siehe Abbildung 5 unten.) Dazu trägt er dunkle Kleidung, die einen guten Kontrast zum Hintergrund und den anderen Tänzern bietet. Diese Beachtung von Details legt nahe, dass es sich bei den Bildern um sorgfältig gestellte Photographien handelt.

Vier der fünf Photos aus der „Sargento Pita”-Serie wurden mit der gleichen Kameraperspektive aufgenommen. Weder die Position der Tänzer, noch die der Kamera wurde verändert, sodass die Ausrichtung von Kamera und Objekt immer einander zugewandt ist. Wir folgern daraus, dass die Tänzer nicht tanzten, sonder für die Kamera posierten.


4. Tango criollo Tanzposen

Das gleiche gilt auch für die andere Serie von Tanz-Photographien. Wichtig im Vergleich der beiden Serien ist, dass es Übereinstimmungen in den Posen gibt. Drei dieser Posen erscheinen in beiden Serien.

5. Vergleichbare Tango-Posen

Was für Posen abgebildet sind, oder ob sie Namen haben, wird in den Artikeln nicht erwähnt. Die Bildlegenden sind lunfardo Ausdrücke, die sich des Tanzvokabulars bedienen. Aber anstatt die Bilder zu erläutern, sind es Redewendungen und Wortspiele, die die Leser amüsieren sollen. Zum Beispiel:

„Eine alte Axt ist nutzlos. Hier ist eine Schere für einen Schnitt (corte).

„Warum willst du 'Es werde Licht', wenn deine Mutter im Dunkeln sieht?“ („Es werde Licht“ war angeblich eine Anweisung an Tanzpaare, eine schickliche Distanz zueinander einzuhalten.)

„Auf Grund so eines Stopps (parada) fing mein Onkel an zu schielen.“

„Ständig kräht der Hahn, aber es gibt keine Gehörlosen, die ihn hören.“, usw.

Die obige Bildfolge läßt darauf schließen, dass die Posen zu einer Tango-Choreographie gehörten, mit der die Tänzer vertraut waren. Analog zur „technischen“ Tanzstunden in Buttaros Fumadas zeigen auch diese Bilder, dass Tango kein Tanzstil mit corte y quebrada mehr ist, sondern ein ausgeprägter Tanz.

Der Tänzer in der dunklen Jacke, der in beiden Bildsequenzen als „Führender“ zu sehen ist, könnte Arturo de Navas sein. (Siehe „El viejo tango que nació en el arrabal”, Teil 1.) Zur Zeit als die Podestás im Apolo auftraten und die Photographien aufgenommen wurden, war de Navas Mitglied des Ensembles. In der ersten Inszenierung von Justicia criolla in 1897 spielte de Navas den Gitarristen und stand während der Tango-Tanzszene auf der Bühne—und tanzte höchstwahrscheinlich mit. Es gibt daher gute Gründe anzunehmen, dass de Navas in den Photos abgebildet ist, aber wir haben bisher keinen Nachweis finden können, der es sicher belegt. Der Umstand aber, dass Álvarez in seinem Artikel so betont auf die Podestás und deren „Bewahrung“ des tango criollo hinweist, führt uns zu dem Schluß, dass es sich bei den Bildern, wenn nicht um de Navas selbst, so doch zumindest um Schauspieler aus dem Podestá Ensemble handelt.

VI. Tango breitet sich aus


Unser Versuch, die Entwicklung des Tangos als eigenständigen Tanz nachzuverfolgen, hat einen Zeitpunkt erreicht (um 1903), in der die Idee, dass der tango criollo in Buenos Aires beheimatet sei, im Allgemeinwissen Fuß gefasst hatte. Was wir aber dokumentiert haben ist nicht die Entwicklung des Tanzes, sondern die Entfaltung einer schauspielerischen Tradition der Darstellung. Tango, mit corte y quebrada tanzen, war komödiantische Schauspielerei, eine Parodie des „korrekten“ Tanzens. Gleichwohl, irgendwann begannen normale Menschen zum Vergnügen tango criollo zu tanzen. Wann geschah das?

1904, nur kurz nachdem die Photoserien über den Tango veröffentlicht wurden, zeigen sich die ersten Spuren einer Tanztradition, in der Tango in Buenos Aires für Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielen sollte: die Karnevalsbälle. In einem Bericht über die Tanzfeste in den Theatern lesen wir:


Entre los teatros populares, ha sido el Argentino el más favorecido por el elemento criollo. Allí el tango con «corte y quebrada» ha sido el predominante, notándose algunas parejas verdaderamente notables que arrancaron entusiastas aplausos al público de los palcos.

(Von den populären Theatern bevorzugten die criollos das [Teatro] Argentino. Dort überwiegte der Tango mit „corte y quebrada“, und es fielen einige wirklich beachtenswerte Paare auf, die stürmischen Applaus im Publikum der Logen auslösten.)


Dem Artikel zufolge wurde Tango in mehreren Theatern getanzt. Dies ist eine überraschende Aussage. Unserer Einschätzung nach ist es die früheste Erwähnung einer öffentlichen Veranstaltung in Buenos Aires, in der Tango als Gesellschaftstanz getanzt wurde. Nur ein Jahr früher wies Álvarez—sicherlich mit Ironie—Tango geringschätzend als Zeitvertreib „gelangweilter Faulenzer“ ab. Nun, 1904, wird Tango mit Orchesterbegleitung auf einem öffentlichen Ball von versierten Tänzern vor einem verständnisvollen Publikum getanzt.

Im folgenden Jahr, 1905, hatte sich der Enthusiasmus für Tango sogar noch gesteigert. In einem Rückblick auf die Karnevalstänze in Caras y caretas dieses Jahres heißt es:

Los tangos populares, con corte y quebrada, hicieron furor entre los bailarines, descollando en el Victoria por sus habilidades coreográficas una vieja que lo hacía a las mil maravillas, lo que demuestra que hasta en el tango es cierto el dicho de Martín Fierro: «El diablo sabe por diablo, pero más sabe por viejo»
...
En los programas de todos los teatros predominaron los tangos, los que, como el teatro nacional, están de moda...


(Für die Tänzer waren die populären Tangos mit „corte y quebrada“ der letzte Schrei. Eine alte Frau, die ihn fabelhaft tanzte, stach im Victoria hervor. Daran zeigt sich, wie sich das Sprichwort des Martín Fierro selbst beim Tango bewahrheitet: „Der Teufel weiss, weil er der Teufel ist, aber er weiss mehr, weil er alt ist.“
In den Programmen aller Theater dominierten die Tangos, der, wie das nationale Theater, in Mode ist...)

Der letzte Satz des Ausschnitts unterstreicht den wichtigsten Punkt unseres Argumentes, nämlich die untrennbare Verbindung des teatro criollo (d.h. des „nationalen Theaters“) und des tango criollo. Aber da ist mehr: In der gleichen Ausgabe von Caras y caretas wurde Ein modischer Tanz in einem ganz-seitigen Artikel beschrieben:


6. “Ein modischer Tanz” im Victoria Theater

Der Artikel enthält einen Text von Goyo Cuello, einem Redakteur für Theater und Musik, und fünf Photographien, die im Victoria Theater, vermutlich während Karnevalstänze, aufgenommen wurden.

Baile de Moda 
Llegado el carnaval, el tango se hace dueño y señor de todos los programas de baile, y la razón es, que siendo el baile más libertino, sólo en estos días de locura puede tolerarse. No hay teatro donde no se anuncien tangos nuevos, lo que es un gran aliciente para la clientela de bailarines que deseosa de lucirse con las compadradas y firuletes á que da lugar tan lasciva danza, concurre á ellos como moscas á la miel. 
Como espectáculo es algo original; en el Victoria, sobre todo, es donde tiene que admirar más...


(Ein modischer Tanz  
Mit der Ankunft des Karnevals wird Tango der Herr und Meister all Tanzprogramme. Der Grund: er ist der zügelloseste Tanz, den man nur in diesen Tagen der Narrheit billigen kann. Es gibt kein Theater, das nicht neue Tangos anpreist. Wie Honig für Fliegen sind sie ein großer Anreiz für ein Tanzpublikum, das sich mit der Frechheit und Übertriebenheit, zu der dieser laszive Tanz einlädt, auszeichnen möchte. 
Als Darbietung hat er etwas Originelles; insbesondere im Victoria muss man ihn bewundern...)

Mit dieser Einleitung ist die Verbindung zwischen dem Text, den Photographien und der vorangegangenen Reportage über die Karnevalstänze (siehe oben) hergestellt. Die übrige Beschreibung des Tanzes und der Veranstaltung stehen aber in starkem Kontrast zu den abgebildeten Photographien:

… La sala llena de gente alegre, por todas partes se oyen frases capaces de enrojecer el casco de un vigilante. En el fondo el malevaje de los suburbios con disfraces improvisados, en los palcos mozos bien y muchachas más bien todavía. De pronto, arranca la orquesta con un tango, y empiezan á formarse las parejas. El chinerío y el compadraje se unen en fraternal abrazo, y da principio la danza, en la que los bailarines ponen un arte tal, que es imposible describir las contorsiones, cuerpeadas, desplantes y taconeos á que da lugar el tango.

(… Der Saal ist voll mit fröhlichen Leuten, und von überall hört man Phrasen, die den Helm eines Polizisten erröten ließen. Im Hintergrund die Gauner der Vororte in improvisierten Kostümen, in den Logen die schicken Jungs und die noch schickeren Mädels. Plötzlich beginnt das Orchester mit einem Tango und die Paare fangen an, sich aufzustellen. Chinas und compadres umschließen sich in brüderlicher Umarmung. Und es beginnt der Tanz, in den die Tänzer eine derartige Kunstfertigkeit an den Tag legen, dass es unmöglich ist, die Verrenkungen, Flexionen, Beugungen und Stampfen zu beschreiben, zu denen der Tango Anlass gibt.)

Anstatt der „Gauner der Vororte in improvisierten Kostümen“, die sich beim Tango tanzen durch „Verrenkungen, Flexionen, Beugungen und Stampfen“ auszeichnen, sieht man in den Photographien eher gut gekleidete Paare, die in einwandfreier Haltung tanzen.


7. Tango-tanzenden „Gauner”?

War Goyo Cuello selbst auf dem Ball im Victoria anwesend? Wir glauben nicht. Seine Beschreibung der Veranstaltung ähnelt einer Szene aus dem teatro criollo mehr als einem Augenzeugenbericht. Der Text strotzt vor Klischees: die „Gauner“, die sich im Hintergrund halten (als hätten sie etwas zu verbergen); Söhne reicher Eltern und Frauen zweifelhaften Rufes in den Logen; Tango-Tänzer sind compadres und chinas aus den armen Vorstädten. Ebenso wird Tango als ein „zügelloser“ und „lasziver“ Tanz mit „wollüstig wiegenden Bewegungen“ bezeichnet. Diese Begriffe entstammen einem Vokabular, das nicht nur speziell auf Tango angewendet wurde, sondern allgemein zur Charakterisierung des Tanzens von Menschen der unteren sozialen Klassen herangezogen wurde. Anstatt einer wirklichen Tanzveranstaltung spiegelt sich in Cuellos Text die Darstellungsweise des Tangos im teatro criollo. So wie in Álvarez' Beitrag über den Tango criollo sind es auch in diesem Artikel die Photographien, die von Bedeutung sind. Der Text erläutert nicht die Bilder, sondern gibt Klischees wieder, die sich auf den Tanz beziehen, aber nichts mit der abgebildeten Veranstaltung zu tun haben.

Wir bezweifeln aber nicht, dass die Paare in den Photos Tango tanzen. Ein Vergleich der Photoserien in den Artikeln von Álvarez und Cuello läßt Übereinstimmungen in den Tanzposen erkennen. Man beachte die gekreuzten Beine der „Führenden“ in den folgenden Bildern.


8. Tango Tanzposen: gekreuzte Beine der „Führenden“

Die nächste Bildfolge zeigt vermutlich einen der „skandalösen“ Schritte des Tanzens „con corte”, der „meter pierna” (das Bein hineinschieben) genannt wurde.


9. Tango Tanzposen: “meter pierna



Unsere Dokumentierung der Entwicklung des Tangos im teatro criollo der 1890iger Jahre bis zu den Karnevalsberichte in Caras y caretas von 1905 verdeutlicht die entscheidende Verbindung zwischen Theater und Tango. Der erste Hinweis auf Tango als ein criollo Tanz kommt aus dem Theater (1897, Justicia criolla). Der erste Nachweis, dass Tangos als Gesellschaftstanz von criollos getanzt wurde, kommt auch aus dem Theater (1904, die Karnevalstänze im Victoria). Bis zum darauffolgenden Jahr (1905) hatte sich Tango zum modischen Tanz der Karnevalsbälle, dem Höhepunkt der jährlichen Tanzsaison, entwickelt. Der Zeitraum von 1897 bis 1905 umfasst den Aufstieg des teatro criollo von den Anfängen bis zu dessen großer Popularität. In dieses Zeitfenster können wir ebenso die Entwicklung des argentinischen Tangos von einem Stil des Tanzens mit „corte y quebrada” zum eigenständigen Gesellschaftstanz verorten.







© 2020 Wolfgang Freis

Saturday, June 27, 2020

“El viejo tango que nació en el arrabal”. Or, Debunking the myth of the lowly birth of tango, Part 2.1






Abstract: This section sheds further light on the origins of Argentine tango, focusing on the dance, by analyzing the available sources from the turn of the 20th century. The author argues that the dance, rather than rising out of the lowly streets of Buenos Aires, was in fact born on the Argentinian theater stage, as part of the same process which saw Spanish plays, companies, and dances replaced by local ones in the plays of the teatro criollo. The available magazine articles on the topic, with their revealing photographic material, point to the fact that stage actors were portrayed and presented as the compadritos and comadritas of a legendary past, as if they were real Buenos Aires street characters, while in reality, those characters were stage personas of the teatro criollo. It was thanks to these theatrical characters and performances that tango became disseminated among the general public in Buenos Aires.
The theater was not only the place where tango could be seen by a broad audience,  it was also the site where the public could dance it as a ball room dance during the carnival festivities. The press coverage of the carnival dances of 1904-5 bespeak tango's popularity as a fashionable dance. Furthermore, photographic records suggest that tango had developed from a comedy act to a discrete ballroom dance.



IV.3 The Podestás and the Apolo Theater


By the time De María's Bohemia criolla was first performed, the Podestá brothers had become a fixture among theater companies in Buenos Aires. Their move from the circus arena to the theater stage at the end of the 19th century portended to significant changes in the theater scene of the city. It signified the end of the hegemony of Spanish theater companies in the teatro criollo. The Podestás claimed the teatro criollo as their own. José Podestá (*1858, Montevideo, UR) quickly entered into public controversy via the press, claiming that the only “means to preserve the true character and the true flavor” of “original works by criollo or resident writers“ was an interpretation by Argentinian actors.

1. The “Capos” of the Podestá Family: Antonio, Jerónimo, José, and Pablo

The Podestás were remarkably enterprising, if one can judge by the number of plays they performed. Within the first decade of the 20th century, the various theater companies that the Podestá brothers formed together, separately, or jointly with other troupes, staged hundreds of plays. Many of these were set in urban Buenos Aires. The conventillo provided a popular scenery and—since many plays were lyrical music theater with orchestra music, song, and dance—the tango-dancing compadrito became a common character on stage. 

Unfortunately, many of the plays are lost or unavailable, so that it is impossible to trace the proliferation of tango in detail. It is certain, however, that some of the relevant plays were very successful. During the two theater seasons spanning 1901-3, for example, when a play produced by the Podestás had a run of 16 performances on average, Ensalada criolla was shown 64 times in two revivals, and Bohemia criolla was given 32 times after it premiered in 1902. Another play in which dancing tango made an appearance, Fumadas by Enrique Buttaro, was played 46 and 36 times, respectively.

The Apolo theater, which in 1901 became the home theater of the company managed by José Podestá, played an important role in the proliferation of tango. In his autobiography, the tango singer Juan Carlos Marambio Catán remembered that he heard his first tangos as a child when a maid smuggled him into the afternoon shows at the Apolo. Arturo De Bassi, after joining the Apolo theater orchestra as a clarinetist at age 13, in 1903, had his first tangos performed at the Apolo during intermissions, including his celebrated El Incendio of 1906. The orchestra was also also among the first in Buenos Aires to record tangos on disk. 

At the same time as the Podestás established their theater company at the Apolo, the first tangos criollos were printed in Buenos Aires and offered as piano scores to the general public. Just as Argentinian theater companies had made the teatro criollo their own, so composers now seized upon tango as a ”native” music form. During this period we also find the first evidence—evidence, that is, that can be documented—of tango making inroads from the theater stage into the social life of the city. Both in terms of the music and the dance, the perception of tango was changing. And the Podestás were right in the thick of it due to their exposure to the large audience that frequented the Apolo.

IV.4 Enrique Buttaro


All seven plays of Enrique Buttaro (*1882, Montevideo, UR – 1904) were performed by the Podestás at the Apolo theater. Two of them, ¡Abajo la careta! and Fumadas, with music composed by Antonio Podestá, were very successful comedies given repeatedly during the two seasons spanning 1901-3. Both pieces are lyrical sainetes set in conventillos, with their typical population of criollos and immigrants.

¡Abajo la careta! (1902) contains three dancing scenes, none of which gives an indication of being a tango. Only the last dance, the grand finale, is identified in the libretto. It is a jota, the emblematic dance of Spanish immigrants in the teatro criollo. Tango is only mentioned incidentally in a dialogue. One of the male characters, Figurita, tells a friend about a past relationship with a woman he used to dance tango with:

Te acordás vos de la china 
...
Aquella, hombre, que tenía
un pelo que le llegaba
más abajo de las corvas
y unos ojazos que el alma
repicaba si los veía...
 
Aquella que envidia daba
cuando yo al compás de un tango,
la cadera le quebraba;
mientras que ella, comadriando
su cara ponía en mi cara.
...

(Do you remember that girl
...
The one, man, whose hair
reached down 
to her knees,
and such eyes that struck your soul
when you saw them …

She that inspired envy
when I, to the cadence of a tango,
bent her hip, 
while she, comadriando [assuming a comadre's attitude],
leaned her cheek against mine.
...)

This reference to tango follows an already familiar pattern: one man telling another about the sensual experience of a dance. The dance is part of a “courtship ritual” that culminates in the rapturous moment when the man leads the woman into a quebrada. (See Soria's Justicia criolla, scene 14.)

Buttaro's Fumadas (1902) contains an actual dance with corte y quebrada. In the scene, a male character, Pucho, wants to take his girlfriend, Rosa, to a dance, but she can only dance “in style”. As the libretto indicates, Pucho dances alone to teach his tango moves to Rosa.

PUCHO: ... ¡Ah! Décime: ¿sabes bailar? 
ROSA: ¡Ya lo creo!
PUCHO: Entonces la semana que viene te viá llevar a un baile pa que 
nos calentemos los chifles.
ROSA: Bueno, bueno... 
PUCHO: ¿Sabés meterle de aquí? (Hace un corte).
ROSA: Qué es eso? 
PUCHO: No ves, otaria, que es un quiebro?
ROSA: ¡Ah, no!... Yo bailo a la moda. 

Música

PUCHO: (Mientras baila solo). Poné atención: 
Echale arroz a este guiso. 
Este golpe es pa lo que después te viá a decir. En esta güelta tenés 
que tener cuidao de no caerte.
Aquí medio entrecruzás los chifles y te venís pa delante... ¡así! 
Y en esta refistolada te preparás pal golpe. ¿Te enteraste? 

(Segunda). 

¡Echale arroz a este guiso!... 
En esta cáida te venís pa un lao y movés... lo que después vas a saber.
Aquí, hacés una media luna... así.
Depués te hacés un ovillo y ponés en juego... (Le habla al oído).
¿Sabés? Cuando yo me quiebre así, 
por ejemplo, vos te preparás pal golpe y hacés un firulete... con lo que te dije.
En esta refistolada, te preparás pal golpe, ¿Entendíste?

ROSA: Un poco. 
PUCHO: Bueno; cuando güelva te daré otra lición y entretanto... ¡mangiá, nena!
(Hace un corte hacia el foro. Rosa por lateral segunda).

[
PUCHO: Tell me: Do you know how to dance? 
ROSA: Sure I do!
PUCHO: Then I am going to take you to a dance next week
so that we may warm up our legs.
ROSA: Well, well...
PUCHO: Do you know how to get into this? (He poses a “corte”.)
ROSA: What is that?
PUCHO: Bumpkin, don't you see that it's a break (quiebro)?
ROSA: Ah, no! I dance in style.

Music.

PUCHO: (While he is dancing alone.) Pay attention:

Add rice to the stew!...
This clincher is what I am going to tell you later. In this turn 
you must watch out not to fall. Here you will half cross your legs
and move forward... Like this! 
And with this show move, you'll get ready for the clincher. 
Did you understand?

(Second)

Add rice to the stew!...
In this drop (caída) you come to one side and move... 
which you will know later. Here, you make a media luna... 
Like this! Then you move into a bundle (ovillo) 
and put yourself into the game... 
(He speaks into her ear.) You know, when I do a break (quiebre) 
like this, for example, you'll get ready for the clincher 
and make an adornment (firulete)... like I have told you.
And with this show move, you'll get ready for the clincher. 
Did you understand?

ROSA: A little bit.
PUCHO: Well, when you come back I'll give you another lesson, 
and in the meantime... Eat, baby!
(He poses a “corte” towards the audience. 
Rosa out to second wing left.)
]

This dancing scene follows another common pattern, the “tango demonstration”: a male dancer pantomimes the moves to show or teach them to a friend. It must be noticed that this kind of mimicry, which downright invites exaggeration, is typical of physical comedy. Pablo Podestá, who played Pucho the first time the sainete was given, established himself as a comic actor with this role.

Just as in De María's plays, in Fumadas the word “tango” is not even mentioned. Nevertheless, the presentation of the dance in this text has become considerably more technical. Words of the earlier tango vocabulary like “corte”, “quebrada”, or “firulete” seem to have been employed as general, not necessarily tango-specific terms. (Note that in this text, too, “corte” and “quiebro” [quebrada] are used to refer to the same dance move.) Here we also find “media luna”, “ovillo“ and “caída”, and instructions to “cross the legs”, etc. This demonstrates that the dance is becoming concrete: it is no longer a style of dancing with corte y quebrada but it is developing into a dance with specific choreographed movements—soon to be called consistently by its name: tango.

V. Tango Publicity


In 1903 the journalist José Ciriaco Álvarez (*1858, Gualeguaychú) published an article entitled El tango criollo under the pseudonym “Sargento Pita” (Sergeant Whistles). This article is one of the most important documents on Argentine tango: it is the first ever full-page commentary dedicated to the dance, claiming that it had criollo roots and that it was born in Buenos Aires. The essay appeared as an installment of a regular column of Caras y caretas, in which Álvarez/“Sargento Pita” reported on a variety of issues concerning Buenos Aires. 

2. “Photographic Strolls Through the Municipality: The Tango Criollo

Álvarez' article is interesting to us as it establishes a connection between tango criollo and the Podestás. Through a cryptic reference to the days of Mitre and Alsina (1860s), tango is presented as a matter of bygone times. In the past, so it says, it was danced in the outskirts of Buenos Aires with corte and quebrada by the compadrito and his companion, the “comadrita with the dagger in the garter”. At the time the article was published, according to Álvarez, tango was only “practiced on the sidewalk of conventillos by some miserable couples of bored loafers” as a “street entertainment among idle fellows at nightfall” to the sound of the barrel organ. The traditional dancers, he points out, have disappeared, but the memory of tango has been “saved and preserved” by the Podestás.

The assertions made about tango in the text are problematic and have left scholars befuddled. They are contradictory in themselves and make historical claims that, simply speaking, make no sense at all. (For a full translation of the article, see Tango in the Theater.) In fact, these assertions do nothing but describe the conventional representation given of Buenos Aires's lower-class inhabitants on the theater stage: the compadrito and “comadrita with the dagger in the garter”; the conventillo; men dancing with men. It stands to reason, therefore, that Álvarez' description of tango past and present comes straight from the theater; in particular, from the Podestás. We suggest, therefore, that the content of the article should not be taken as a factual statement on the history of tango. Important are the photographs that were printed with the article.

Magazines illustrated with photographs—like Caras y caretas, from which the article is taken—were still a novelty in 1903. The title of the column, “Photographic Strolls Through the Municipality”, suggests that it was the pictures that mattered most. The articles informed on a variety of issues to which the Álvarez wanted to call attention: from streets in poor condition, to accidents, street vendors, beggars, drunkards, etc. (hence the pseudonym “Sargent Whistles”). As the articles were not always dedicated to same topic, the text seems to have been written to accompany whatever photos were available for a particular issue of the magazine.

This notion is supported by another set of photographs that was published six months later, also in Caras y caretas. Showing a man and a woman dancing, the pictures illustrate a piano score of the tango criollo El Maco by Miguel Tornquist.

3. “Tango Criollo”, El Maco by Miguel Tornquist

The two series of tango dancers (illustrations 2 and 3) obviously belong together: one of them, the “leader”, appears in both series and is wearing the same clothes. Light and shadows in the pictures indicate that both sets were shot at the same location and time.

As a subject matter, the tango criollo photographs are an odd addition to the “Sargento Pita” column, as it usually focussed on the problems of everyday life in Buenos Aires, unless one wants to believe that men dancing tango were a public nuisance in Buenos Aires at the time. But, Álvarez wrote that those scenes were a thing of the past, something whose memory was kept alive by the Podestàs' shows. In addition, why would these two men dance in broad daylight in a deserted street, obviously without music? 

Moreover, at the time, photographers worked with bulky cameras and large-format sheet film. Taking a picture involved setting up the camera and inserting a film cassette for every image. The images were taken in broad daylight, thus, making the photographs easier to take and process. If we look at the photographs, we can see that, with only one exception, the “leader” of the couple is always facing the camera. (In this exceptional case, a companion shot is included so that the couple is shown in the same dance pose with a front and back view. See illustration 5 below.) He is wearing darker clothes to contrast against the background and the clothing of the other dancer. This attention to detail suggests that the pictures were carefully staged photographs.

Four of the five photos of the “Sargento Pita” series were taken from the same camera position. Camera and dancers remained in the same spot while maintaining the same orientation towards each other. Hence, the two men actually were not dancing but posing in front of the camera as if they were dancing.

4. Tango criollo dance poses

The same is true of the other dance picture series. The fact that the dancers are striking poses is significant. Three of the dance positions are repeated in both sets of photographs.

5. Common tango poses

What these positions are, if they had names, has not been conveyed in either publication. The captions are lunfardophrases, some of which draw on dance vocabulary. In fact, rather than elucidating the pictures, the texts are probably just plays on words intended to perplex and amuse the reader. For example:

“An old axe is useless. For the cut (corte), here are the scissors.”
“Why do you want to 'let there be light' if your mom sees in the dark?” (“Let there be light!” was a directive to dancers to keep a proper distance to each other.)
“Because of a stop (parada) like this one, my uncle stayed cross-eyed.”
“The rooster crows forever but there are no deaf to hear it.”, etc.

The picture sequence above suggests that the poses were part of a tango choreography that the dancers were familiar with. Analog to the “technical” dance lesson in Buttaro's play Fumadas, the photographs evince that tango has developed from a style of dancing with corte y quebrada to a distinct dance.

The dancer in the dark jacket, who appears as the “leader” in both series, might be Arturo de Navas. (See “El viejo tango que nació en el arrabal”. Or, Debunking the myth of the lowly birth of tango, Part 1) When the Podestás performed at the Apolo theater (at the time the photographs were taken), de Navas was a member of the company. In the first production of Justicia criolla, back in 1897, he played the guitarist and was on stage during the tango scene—and most likely participated in the dance. It seems reasonable, therefore, that the photos show de Navas, but we have not found a reliable source that identifies him. At any rate, the fact that Álvarez' article puts such an emphasis on the Podestás and their “preservation” of the tango criollo (and for no apparent reason except perhaps because the photos show members of the Podestás' company) leads us to believe that the dancers shown were indeed actors of that company.

VI. Tango Spreads beyond the Theater Stage


Our attempt to trace the emergence of Argentine tango as an independent dance has reached a point in time, around 1903, where the idea of tango criollo being native to Buenos Aires had taken root in the public awareness. For all that, what we have documented is not the development of the dance but the unfolding of a theatrical tradition of representation. Tango, dancing with corte y quebrada, was a comical act, a parody of a “proper” dance. Nevertheless, at some point ordinary people started to dance tango criollo for personal enjoyment. When did this happen?

In 1904, not long after the photograph series of tango criollo had been published, we find evidence of an emerging tango dance tradition: at the carnival dances. In a report on the dance festivities at he theirs of Buenos Aires we read,


Entre los teatros populares, ha sido el Argentino el más favorecido por el elemento criollo. Allí el tango con «corte y quebrada» ha sido el predominante, notándose algunas parejas verdaderamente notables que arrancaron entusiastas aplausos al público de los palcos.

(Among the popular theaters the [Teatro] Argentino was the most favored by criollos. Tango with “corte y quebrada” was the prevailing dance there, with some truly remarkable couples showing themselves who drew enthusiastic applauses from the spectators in the boxes.)


According to the article, tango was danced at several theaters. This is a surprising piece of information. In any case, to our knowledge, this is the earliest reference to tango being danced as a ballroom dance at a formal public event in Buenos Aires. Just a year earlier, Álvarez had brushed off the tango criollo (surely tongue-in-cheek) as a street entertainment of “idle loafers”. Here and now, at a public ball in 1904, it is danced by accomplished dancers, to music arranged for orchestras, and in front of an appreciative audience.

In the following year, 1905, the enthusiasm for tango at the carnival dances seems to have even increased. A review of the carnival dances in Caras y caretas observed:


Los tangos populares, con corte y quebrada, hicieron furor entre los bailarines, descollando en el Victoria por sus habilidades coreográficas una vieja que lo hacía a las mil maravillas, lo que demuestra que hasta en el tango es cierto el dicho de Martín Fierro: «El diablo sabe por diablo, pero más sabe por viejo»
...
En los programas de todos los teatros predominaron los tangos, los que, como el teatro nacional, están de moda...

(Among the dancers, the popular tangos with “corte y quebrada” were all the rage. One old woman, doing it marvelously, stood out at the Victoria [Theater]. It shows that the saying of Martín Fierro holds true even in tango: “The devil knows by being the devil, but he knows more by being old”.

The programs of all the theaters were dominated by tangos which, like the national theater, is in fashion...)


The closing sentence of our excerpt confirms the point of our argument, namely, the inseparable connection between the teatro criollo (that is, the “national theater”) and the tango criollo. But there is more: In the same issue, Caras y caretas devoted a whole article to A Fashionable Dance

6. “A Fashionable Dance” at the Victoria Theater

The article consists of five photographs and a text written by Goyo Cuello, a music and theater editor of the magazine. The photographs were taken at the Victoria Theater, presumably during the carnival dances. 

Baile de Moda 
Llegado el carnaval, el tango se hace dueño y señor de todos los programas de baile, y la razón es, que siendo el baile más licentious, sólo en estos días de locura puede tolerarse. No hay teatro donde no se anuncien tangos nuevos, lo que es un gran aliciente para la clientela de bailarines que deseosa de lucirse con las compadradas y firuletes á que da lugar tan lasciva danza, concurre á ellos como moscas á la miel. 
Como espectáculo es algo original; en el Victoria, sobre todo, es donde tiene que admirar más...

(A Fashionable Dance 
Carnival having arrived, the tango becomes the lord and master of all dance programs. The reason is: being the most libertine dance, it can only be tolerated in these days of folly. There is no theater that does not announce new tangos, which is a great enticement for the clientele of dancers that wants to impress with the insolence and flamboyance this lascivious dance engenders. It attracts them like honey does flies. 
As a show, it is something original. One has to admire it most at the Victoria, above all...)

With this introduction, the connection between the text, the photographs, and the preceding report on the carnival dances (see above) is established. The remaining description of the dance and the event contrasts blatantly with the photographs:


… La sala llena de gente alegre, por todas partes se oyen frases capaces de enrojecer el casco de un vigilante. En el fondo el malevaje de los suburbios con disfraces improvisados, en los palcos mozos bien y muchachas más bien todavía. De pronto, arranca la orquesta con un tango, y empiezan á formarse las parejas. El chinerío y el compadraje se unen en fraternal abrazo, y da principio la danza, en la que los bailarines ponen un arte tal, que es imposible describir las contorsiones, cuerpeadas, desplantes y taconeos á que da lugar el tango.

(… The hall is filled with cheerful people and from everywhere one hears phrases that would make the helmet of a police man blush. In the back the miscreants of the suburbs in improvised costumes, in the boxes well-off young men and (even better off) women. Suddenly the orchestra starts up a tango and the pairs compose. The fellowships of chinas and compadres join in brotherly embrace and the dance gets underway. The dancers display such artfulness that it is impossible to describe the contortions, swaying, stumbling, and stomping that tango incites.)


Instead of the “miscreants of the suburbs in improvised costumes”, performing “contortions, swaying, stumbling, and stomping” while dancing tango, the pictures show rather well-dressed couples dancing with proper postures.

7. “Miscreants” dancing tango?

Did Goyo Cuello actually attend the dance at the Victoria? We think not. His account of the event resembles a scene from a teatro criollo play more than a report by an eyewitness. The text is replete with stereotypes: that the miscreants stayed in the back (as if they had a reason to hide); that the theater boxes were occupied by rich kids and women of questionable repute; that tango dancers were compadres and chinas from the poor outskirts of the city. Likewise, tango is called a “lascivious” and “libertine” dance with “voluptuously swaying” movements. Such terms are part of a vocabulary with which dancing of lower-class people was commonly described. Cuello's text reflects the representation of tango in teatro criollo plays rather than an actual dance event. Just as in Álvarez's piece on the Tango criollo, it is the photographs that matter. The text is not an explication of what is taking place in the pictures, but seems to have been written independently.

We have no reason to doubt, however, that the couples in the pictures were dancing tango. Comparing the pictures of the Álvarez and Cuello articles, one can even discern similarities in the dancing positions. Note the crossed legs of the “leader” in the following pictures:

8. Tango dancing positions: crossed legs of the “leader”

The following sequence seems to show one of the more “scandalous” moves of dancing “con corte”, called “meter pierna” (introducing the leg).

9. Tango dancing positions: “meter pierna

Our documentation of the development of tango in the teatro criollo from the 1890s to the carnival reports in Caras y caretas from 1905 evince the crucial connection between tango and theater. The first evidence of tango as a criollo dance (1897, Justicia criolla) comes from the theater stage. The first evidence of tango being danced as a ballroom dance by criollos comes from the theater, too: the carnival dances of 1904. By 1905, tango had become the fashionable dance of the carnival balls, the highpoint of the annual dancing season. This period from 1897 to 1905 circumscribes the ascend of the teatro criollo from its beginnings to great popularity. Within this time frame, we can safely place the development of Argentine tango from a general style of dancing with “corte y quebrada” to a discrete ballroom dance.






© 2020 Wolfgang Freis

Friday, June 26, 2020

„El viejo tango que nació en el arrabal”, oder: Die Enthüllung des Mythos von der niedrigen Herkunft des Tangos, Teil 2


ZUSAMMENFASSUNG: Der Begriff „Tango“ war im spanischen Operettentheater gleichbedeutend mit „Habanera“, bevor er im argentinischen Kulturbereich adoptiert wurde. Im späten 19. Jahrhundert, als der argentinische Tango angeblich auf der Straßen als Ausdruck eines nationalen Zeitgeistes entstand, dominierten ausländische Ensembles das Musiktheater von Buenos Aires und Montevideo. Spanische Schauspiele lieferten die Vorlagen für Rollen und Handlungen des neu entstehenden teatro criollo. Ein Tanz mit corte y quebrada , anfangs noch nicht einmal Tango genannt, wurde auf der Bühne zuerst erwähnt (im neuen regionalen Dialekt des lunfardo) und dann in Komödien von argentinischen Theaterautoren getanzt. Durch Emulation von analogen Tänzen und ihrem sozialen Umfeld in spanischen Schauspielen entwickelte sich Tango zum sinnbildlichen Tanz der criollo Einwohner von Buenos Aires und Montevideo. Offensichtlich entstand Tango im Theater als verklärte Darstellung des Lebens in den Mietskasernen der Unterschicht, der conventillos.


Wie in unserem vorhergehenden Artikel dargestellt, fiel die Entstehung des Tangos mit der Entwicklung des Schallplattenspielers zusammen. Vor der Erfindung von Musikaufzeichnungsgeräten gehörten Theater, Cafés und andere Veranstaltungsorte zu den wenigen Stätten, wo man Musik hören konnte—wenn man sie nicht selber zu Hause spielen konnte. Im Theater wurde die größte Vielfalt von musikalischer Unterhaltung angeboten. Für die Bedeutung des Theater in der Verbreitung von Musik spricht der Umstand, dass Theaterkünstler die ersten waren, die auf Grund ihrer Bekanntheit und der Beliebtheit ihres Repertoires auf Schallplatten aufgenommen wurden. Die Victor Talking Machine Company warb für ihre Produkte daher mit dem Slogan „Das Theater zu Hause“.



1. Aus einer Annonce der Victor Talking Machine Company, 1905

Die Rolle des Theater in der Entwicklung und Verbreitung des musikalischen repertorio criollo darf nicht unterschätzt werden. Auf der Bühne wurden argentinische Musik und Tanz als Spielarten nationaler Volkskunst aufgeführt. Dementsprechend stehen die Anfänge argentinischer Tangomusik in direkter Verbindung mit dem Erscheinen von Tango-Tänzen auf der Theaterbühne. Die Entstehung des tango criollo ist untrennbar mit dem teatro criollo , einer Theatergattung, die im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts von Bühnenautoren und Schauspielern entwickelt wurde, verbunden. Tango entwickelte sich in diesen Theaterstücken, die in den bescheiden Vierteln von Buenos Aires und Montevideo spielten, zum sinnbildlichen Tanz der städtischen Unterklasse.

I. Populäre Musik in Buenos Aires


Ausländische Ensembles, insbesondere spanische Gruppen, dominierten die Theaterszene in Buenos Aires während des 19. Jahrhunderts. Spanische Schauspiele waren allgemein bekannt und erfreuten sich großer Beliebtheit. Es ist daher anzunehmen, dass argentinische Autoren und Musiker mit dem spanischen Musiktheater vertraut waren. In einem Artikel über populäre Musik in Argentinien aus dem Jahre 1912 erinnerte sich der Journalist Goyo Cuello an den enormen Erfolg, mit dem Lieder aus spanischen Bühnenstücken im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires aufgenommen wurden. Nach Cuello waren sie so populär, dass sie „in der Seele der Argentinier, die sie sich zu eigen machten, Wurzeln fassten“:

Las zarzuelas españolas han contribuido en gran parte a popularizar muchas canciones, que el pueblo [argentino] hizo suyas...  
El éxito de La Paloma también fue de los que hacen época; pero superó á todos, allá por el año 89, el de La Gran Vía. La música de Chueca se impuso desde el primer momento, y la Jota de los Ratas, la Habanera de la Menegilda y el Vals del Caballero de Gracia se cantaban á toda hora. El dúo de Madrid á París también tuvo la fortuna de hacerse popular. Luego le tocó el turno á los couplets de ¡Viva mi niña!, que daban ocasión á [Rogelio] Juárez para lucir su vis cómica. El tango del Certamen Nacional [El Tango del café] fue de los que lograron el favor popular desde el primer momento, así como elQuinteto de los Vinos de la misma obra. El tango de Toros de punta [¡Zangá!, ¡Zangá!], donde la [Elisa] Pocoví cantaba «Ay mamita de mi alma quiero casarme con un torero», era de los que se repetían hasta el cansancio; pero el éxito jamás superado en canciones populares correspondió á La Verbena de la Paloma; toda la música de esta obra se impuso desde el primer momento, contribuyendo las organillos á expandirlo por toda la república.

(Die spanische Zarzuela trug in großem Maße dazu bei, viele Lieder populär zu machen, die das [argentinische] Volk sich zu eigen machte... 
La Paloma war einer dieser Erfolge, die Geschichte machten, aber der von La Gran Vía, damals im Jahr 89, übertraf alle anderen. Die Musik von Chueca setzte sich von Anfang an durch, und die Jota der drei Ratas, die Habanera der Menegilda und der Walzer des taktvollen Kavaliers wurden fortwährend gesungen. Das Duett aus Von Madrid nach Parishatte auch das Glück, beliebt zu werden. Danach waren es die Couplets aus Viva mi niña!, die [Rogelio] Juárez die Möglichkeit gaben, mit seinem Talent für Komödie zu glänzen. Der Tango aus Certamen nacional [El Tango del café] setzte sich von Anfang an durch, genauso wie das Quintett der Weine aus dem selben Stück. Der Tango aus Toros de punta [¡Zangá!, ¡Zangá!], in dem [Elisa] Pocoví sang: “Liebste Mamma, ich möchte einen Torero heiraten”, war einer von denen, die bis zur Erschöpfung wiederholt wurden. Aber den unübertrefflichen Erfolg bezüglich populärer Lieder erzielte La Verbena de la Paloma. Die ganze Musik dieses Werkes setzte sich vom ersten Moment an durch, und die Leierkästen sahen dazu, dass sie sich in der ganzen Republik verbreitete.)
2. Elisa Pocoví singt “¡Zangá, zangá!”

Überraschend ist, dass so viele Lieder, an die sich Cuello erinnerte, Tangos waren. Man muss allerdings die Bedeutung des Wortes differenzieren, da es kein eindeutig festgelegter Begriff war. Die von Cuello erwähnte Habanera der Menegilda z.B. wurde oft als Tango der Menegilda bezeichnet. Im Klavierauszug wurde das Stück einfach als „Americana“ angeführt.

Als Tangos oder Habaneras gekennzeichnete Musikstücke sind in der spanischen Zarzuela des späten 19. Jahrhunderts keine Seltenheit. Sie stimmen stilistisch so überein, dass es unmöglich ist, sie sinnvoll von einander abzugrenzen. Daraus läßt sich schließen, dass „Tango“ und „Habanera“ sich im spanischen Musiktheater im Wesentlichen das Gleiche sind: eine Gesangskomposition mit einem Habanera-Rhythmus als Begleitfigur, mit Kreuzrhythmen in der Melodie, und einer formalen Aufgliederung in zwei Teile, die normalerweise (aber nicht immer) einen tonalen Kontrast darstellen.

Die gleichen stilistischen Merkmale gehören auch zu den gängigen Eigenschaften des frühen tango criollo. (Siehe z.B. Saboridos berühmte La Morocha.) Dadurch ist es oft unmöglich, bei argentinischen Stücken überzeugend von stilistischer Anpassung oder Neuheit zu sprechen.

Zwei Gesichtspunkte bildeten sich allerdings heraus, die den tango criollo von seinem spanischen Gegenstück unterschieden: der tango criollo war in erster Linie ein Instrumentalstück (zu dem ein Text später hinzugefügt werden konnte) und bestand aus drei anstatt zwei formalen Teilen.

Stilistische Unterschiede in der Musik des tango criollo und spanischer, Habanera-ähnlicher Stücke liegen außerhalb des Rahmens dieses Artikels und werden zu anderer Gelegenheit besprochen werden. Hier genügt es darauf hinzuweisen, dass das obige Zitat von Cuello Zeugnis darüber ablegt, dass sich spanische Musik in Argentinien großer Beliebtheit erfreute. Dass diese Musik stilistisch den frühen tango criollo beeinflusste, ist unabweisbar.

II. La Gran Vía: das große Modell


Das spanische Theater lieferte dem argentinischen Tango nicht nur musikalische Beispiele, sondern beeinflusste ihn auch auf ganz andere Weise. Es lieferte ein Modell für das soziale Umfeld, indem Tango in Schauspielen von criollo Autoren und Ensembles dargestellt wurde.

Bahnbrechend für das entstehende teatro criollo war die La Gran Vía, eine Revue von Felipe Pérez y González mit Musik von Federico Chueca und Joaquín Valverde. Innerhalb weniger Jahre nach der Erstaufführung in Madrid im Jahre 1886 eroberte das Stück die Theater in Europa, den Amerikas und Japan.

La Gran Vía folgte einer Entwicklung in der Dramatik des 19. Jahrhunderts, die Handlungen in den Lebensbereich gewöhnlicher oder marginalisierter Menschen verlagerte. Stücke wurden mit den Attributen einer Lokalität und deren Bewohner ausstaffiert, um eine geographische oder soziale Umgebung wiederzugeben. Die exotischen und ästhetischen Besonderheiten von Trachten, traditioneller Musik und repräsentativen Personen wurden dazu herangezogen. Dialekte und die Umgangssprache verschiedener sozialer Schichten spielten eine wichtige Rolle und wurden in Librettos oft durch kursive Schrifttypen hervorgehoben.

Wie viele Revuen hat auch La Gran Vía keine zusammenhängende oder logisch verbundene Handlung. Die Großstadt Madrid wird durch ein Folge von Personen dargestellt, die von einem Moderator vorgestellt werden und dann zu den Höhepunkten des Stückes, der Musiknummern, führen. La Gran Vía zeigt sich als typisches Stück dieser Kunstgattung, indem es leichte musikalische Unterhaltung bietet, ohne höhere künstlerische Ansprüche zu stellen. Gleichzeitig ist es aber auch eine Parodie der Operette. Rollen, die im traditionellen Theater zur humoristischen Auflockerung eingesetzt wurden, sind die Hauptdarsteller in dieser Revue. 

Die drei berühmtesten Musikstücke aus La Gran Vía, die auch in Cuello's Artikel oben erwähnt wurden, verdeutlichen den Sachverhalt. Im Vals del Caballero de Gracia rühmt sich ein älterer Kavalier seiner Tanzkünste, fühlt sich verwöhnt von Madrids besseren Gesellschaftskreisen und verfolgt junge Mädchen, die mit ihm liebäugeln. Der Chor dagegen kommentiert sein Eigenlob und nennt ihn einen Narren, Dummkopf und Maulhelden. Der Tango de la Menegilda ist das Lied des Dienstmädchens, das niemanden als sich selber dient, denn sie hatte schon früh feststellen müssen, dass sie im Leben nur durch Diebstahl und Betrug vorwärts kommen konnte. In der Jota de los Ratas stellen sich drei Taschendiebe vor, die ihrer Berufung mit bestem Handwerkerstolz nachgehen.

In der spanischen Zarzuela und dem teatro criollo wurden Tänze oft zur Bereicherung von Szenenbildern eingesetzt. Tänze dienten aber nicht nur zur pittoresken Unterhaltung, sondern hatten auch eine sinnbildliche Funktion in der Charakterisierung von Land und Leuten einer gegebenen Lokalität. Im teatro criollo z. B. tanzten Gauchos die Zamba oder den Malambo, Italiener die Tarantella und Spanier die Jota. Als Tango auf der argentinischen Bühne erschien, wurde er zum emblematischen Tanz von Buenos Aires und Montevideos im Allgemeinen und der Bewohner der Mietskasernen, der conventillos, im Besonderen. Interessanterweise lieferte schon La Gran Vía das Modell für einen Tanz, der repräsentativ für eine Stadt (Madrid) und eine bestimmte Bevölkerungsschicht steht.

Der Schottisch del Elíseo Madrileño stellt ein öffentliches Tanzetablissement in Madrid dar. Der Name „Elíseo madrileño” bezieht sich auf die „Campos Elíseos madrileños”, einem für Konzerte und öffentliche Tänze bekannter Vergnügungspark, der bis 1880 in Madrid in Betrieb war. Der „Schottische“ („chotis“ in moderner spanischer Schreibweise) war im 19. Jahrhundert ein beliebter Gesellschaftstanz in Europa und den Amerikas, einschließlich Argentiniens. Er wird auch heute noch in verschiedenen Volksmusiktraditionen gespielt und getanzt. In den 1850iger Jahren erreichte er Spanien und entwickelte sich in Madrid zu einer regionalen Abart und dem typischen Tanz der Stadt. Der Text des Schottisch del Elíseo Madrileño bezieht sich auf den „chulesco schottisch al estilo de Madrid”, wobei „chulesco“ andeutet, dass er von „chulos“ und „chulas“, den emblematischen Einwohnern Madrids aus bescheidenen Verhältnissen, getanzt wurde. 

In der Revue erscheint der Elíseo—gesungen von einer Frau—persönlich und beschreibt in ironischem Ton die Veranstaltungen im Tanzlokal. Sie berichtet, dass die Besucher, die sich um den Eintritt balgen, die erlesenste Gesellschaft widerspiegeln: nämlich Dienstmädchen, Köchinnen und Verkäuferinnen. Ihre Umgangssprache ist hoch kultiviert und Streitigkeiten sind unbekannt, obwohl viel Wein getrunken wird. Die Kleiderordnung ist tolerant; manchen jungen Damen hängen die Hemdzipfel heraus, Köchinnen tragen manchmal Handschuhe zum Kohlenschaufeln und schnelle Drehungen beim Tanzen lassen überraschende Einblicke in die Garderobe zu. Ohne sich viel um den Rhythmus zu kümmern, tanzen sie Habanera, Polka und Walzer. Und, nachdem sie sich ausgetanzt haben, gehen sie in ein Restaurant und suchen sich jemand, dessen Geldbeutel sie erleichtern können.

Der Schottisch del Elíseo Madrileño ist offensichtlich eine Parodie von Hautevolee-Bällen, die in der Operette eine lange Tradition haben. Imitationen von Personen und Gebräuchen der Oberschichten durch Repräsentanten der Unterschicht gehören zu den tradierten Kunstgriffen der Komödie. Der Humor des Schottisch del Elíseo Madrileño liegt aber nicht in einer „gescheiterten“ Imitation der Verhaltensweisen der Oberklasse, denn niemand versucht den Eindruck zu erwecken, einer anderen Gesellschaftsschicht anzugehören. Die Frauen, die sich im Elíseo einfinden, sind unangemessen bekleidet, trinken zu viel Wein, tanzen anstößig und suchen nach Männern, die sie ausnehmen können. Sie tendieren zur Zügellosigkeit und verletzen damit die Grenzen des bürgerlichen Anstands. Der humoristische Effekt liegt in der Gleichgültigkeit und Unverschämtheit, mit der sie diese Grenzen überschreiten. (Das gilt auch für die Menegilda und die „3 ratas“, die ihre Verfehlungen mit gleicher Dreistigkeit und Anmaßung zur Schau stellen.) Der Schottisch del Elíseo Madrileño verbindet somit Vertreter die volkstümlichen Typen Madrids („chulo” und „chula”) mit einem emblematischen Tanz (dem „Schottische”).

In der Zarzuela des 19. Jahrhunderts ist der “chulo” (Angeber), manchmal auch “golfo” (Schlingel) genannt, die typische volkstümliche Persönlichkeit (aus der Unterschicht) Madrids. Seine Haltung ist dreist und streitsüchtig; er lebt am Rande der Gesetzmäßigkeit, trägt auffallende Kleidung und bewegt sich mit einer eignen Gangart. Im teatro criollo erscheint später ein Bühnencharakter, der deutliche Ähnlichkeiten aufweist: es ist der compadrito aus Buenos Aires. Es ist arrogant und provokativ; er gerät oft mit dem Gesetz in Konflikt; er trägt einen Schlapphut, Halstuch und hochhackige Stiefel; und er bewegt sich mit einem wankenden Schritt, dem „Eiergang“. Der „chulo“ tanzt den Schottische, und der compadrito? Er tanzt Tango!

III. Nachklänge der La Gran Vía


Der internationale Erfolg von La Gran Vía machte sich in Buenos Aires bemerkbar bevor das Stück selbst dort 1889 aufgeführt wurde. Einerseits wurde die Revue ein beliebtes Format für Musiktheater. Andererseits wurde die Idee, die Hauptstadt der Nation im Zusammenhang jüngster Ereignisse auf der Bühne zu porträtieren, wiederholt aufgenommen. Aber selbst wenn das Thema einer Revue ein anderes war, Bühnenfiguren wie die „3 ratas“ aus La Gran Vía gehörten bald zum festen Bestand des teatro criollo, was den nachhaltigen Einfluss des spanischen Theaters bezeugt.

Die erste einer Serie von Revuen, die sich La Gran Vía zum Vorbild nahmen, wurde 1888 in Buenos Aires aufgeführt: De paseo en Buenos Aires von Justo López de Gomara (*1859, Madrid). Es ist nicht klar, ob die Musik von Isabel Orejón, einer sonst unbekannten Komponistin, überliefert wurde. Eine Reihe personifizierter musikalischer Gebilde erscheinen auf der Bühne (die italienische Oper, das französische Chanson, ein payador, der eine „Milonga“ singt, zu der eine Frau vom Lande tanzt), aber Tango wird nicht erwähnt. Allerdings singen drei Taschendiebe—hier „cuervitos“ (kleine Krähen) an Stelle von „ratas“—ein Lied und treten in weiteren Szenen auf. Ihrer Herkunft aus Buenos Aires entsprechend stellen sie sich als „compadritos“ vor:
Somos los cuervitos
unos compadritos
guapos y bonitos
como Uds. ven,
que a nadie envidiamos
y que progresamos
pues siempre tomamos
lo que no nos den.
(Wir sind die kleinen Krähen, schneidige [guapos] und schicke compadritos, wie Sie sehen können. Wir beneiden niemanden und kommen voran, denn wir nehmen uns, was man uns nicht gibt.)
Leider gibt das Libretto keinen Aufschluss darüber, zu welcher Musik das Lied der „cuervitos“ gesungen wurde. Die Übereinstimmung mit den „3 ratas” aus La Gran Vía ist aber offensichtlich: die „ratas“ sind für Madrid was die „cuervitos“ für Buenos Aires sind.

Das Wort „compadrito“ erschien 1910 zum ersten Mal in einem argentinischen Wörterbuch und bezeichnete einen „Mann der kleinen Leute, eitel, eingebildet und arrogant“, das städtische Gegenstück zum ländlichen Gaucho. Der „compadrito“ ist das Pendant des „chulo“ oder „majo“ der spanischen Zarzuela. „Rata“ ist gleichfalls ein spanisches Wort (von ratero, Dieb), während „cuervo“ in Argentinien geläufig ist. Heutzutage wird der Begriff auf skrupellose Rechtsanwälte angewendet. Auch das soziale Umfeld der „ratas“ und „cuervitos“ in den Schauspielen ist äquivalent. Nur wurde der Wortschatz der Örtlichkeit entsprechend umgewandelt. In Gomaras Revue gibt es keine Verbindung zwischen den „cuervitos“ und Tango. Sätze wie “unos compadritos guapos y bonitos” lassen aber schon spätere Tangotexte vorwegahnen.

IV. Criollo Revuen und Sainetes


Kurz vor der Premiere von La Gran Vía führten einige Theater in Buenos Aires ein Geschäftsmodell ein, das sich mit großem Erfolg in Madrid bewährt hatte. Das „Stundentheater“ oder „Abschnittstheater“ bot nicht nur eine Vorstellung pro Abend an, sondern eine Anzahl kürzerer Stücke, die hintereinander am Nachmittag und Abend gegeben wurden. Das verursachte einerseits eine große Nachfrage nach Schauspielen, da Theaterdirektoren fortwährend nach neuen Stücken suchten, um das Publikum wieder ins Theater zu locken. Dieser Bedarf wurde von jungen Dramatikern—criollos und gringos—gedeckt, die zum ersten Mal die Möglichkeit hatten, ihre Werke, die auf nationalen Themen basierten, dem allgemeinen Publikum vorzustellen. Daraus entstand das teatro criollo. Andererseits ermöglichten es mehrere Vorstellungen pro Abend, die Eintrittspreise niedrig zu halten. Dadurch entwickelte sich das teatro criollo zu einer äußerst populären Theaterform, die leichte Unterhaltung für alle Gesellschaftsklassen zu erschwinglichen Preisen anbot.

Eine klare Linie zwischen den spanischen Theater und dem entstehenden teatro criollo zu ziehen ist genauso schwierig, wie die Anfänge des tango criollo aufzuzeigen. La Gran Vía und die ersten argentinischen Revuen und criollo sainetes wurden alle von spanischen Theatertruppen und Schauspielern aufgeführt. Während des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts finden sich die Namen von spanischen Schauspielern wie Lola Millanes, Elisa Pocoví, Enrique Gil, Abelardo Lastra und Rogelio Juárez in einer Besetzung nach der anderen. Das teatro criollo verdankt diesen Schauspielern nicht nur die Aufführung der ersten Stücke argentinischer Autoren, sondern auch die Kreation der criollo-Rollen auf der Bühne, die späteren Schauspielern als Vorbild dienten.

IV.1 Ezequiel Soria


El año 92, das Schauspiel eines aufstrebenden jungen Autoren, Ezequiel Soria (*1873, Catamarca) feierte 1892 seine Premiere in Buenos Aires. Der herausragende argentinische Journalist und Schriftsteller Juan José de Soiza Reilly(*1880, Concordia, Entre Ríos) nannte die lyrische Revue
„die erste argentinische sainete, die den Maßstab alle folgenden sainetes criollos setzte... Es war das erste Mal, dass das Publikum in Buenos Aires—das Publikum von 1892—einem national Werk applaudierte, dessen pittoreske Charaktere geschickt von der Straße, dem Komitee, dem conventillo und dem öffentlichen Leben gezogen waren.“
Historisch gesehen ist Soiza Reillys Behauptung, El año 92 wäre die erste sainete criollo gewesen, nicht haltbar. Es war aber Sorias erstes Schauspiel, und es leitete seine sehr erfolgreiche Karriere als Theaterautor und Regisseur ein. Criollooder nicht, das Stück war von einer anderen spanischen Revue inspiriert worden: El año pasado por aguas von Chueca and Valverde aus dem Jahre 1889. Ein spanischer Einwanderer, Andrés Abad y Anton (* vor 1870, ES), komponierte die Musik zu El año 92, und die Aufführung fiel der spanischen Theatertruppe von Mariano Galé zu.

3. Ezequiel Soria

Tango wird in der Handlung von El año 92 nur einmal beiläufig erwähnt. Wie aber schon in López de Gomaras Revue De paseo en Buenos Aires (siehe oben), ist das „Tango-Vokabular“ Teil der Umgangssprache. Soria schrieb eine musikalische Szene für vier einheimischen Zeitungsverkäufer (“Los más diablos vendedores, hoy señores aquí están...”, “Meine Herren, heute sind die ausgekochtesten Verkäufer hier......”), deren aggressives Verhalten den diebischen „ratas“ aus La Gran Vía ähnelt.

Nach einem einleitenden Lied versuchen die vier Verkäufer ihre Zeitungen an das personifizierte „Jahr 1892“ zu verkaufen. Als sie sich bewusst werden, dass das Jahr neu in Buenos Aires ist, verlangen sie nicht nur einen überhöhten Preis für ihre Zeitungen, sie erleichtern es auch um seine Zigarren und Streichhölzer. Im folgenden Auszug geraten die Verkäufer in einen Streit mit einem Polizisten, der dem Jahr zu Hilfe kommt:

MARIANO (vigilante): (A los vendedores.) Largarse de aquí y no incomodar al señor.
VENDEDOR 1º: Si no lo incomodo.
MARIANO: (Amenazando.) Ea, largarse he dicho, que si no...
VENDEDOR 1º: Porque tiene machete viene á compadrear.
MARIANO: ¿No ven qué inservible?
VENDEDOR 1º: ¡Toma! y date corte con otra parada. (Le tira los diarios.)
VENDEDOR 2º: (Por otro lado.) ¡Eh! que se te cae el sable. (Se vuelve Mariano y el
vendedor 2º le tira los diarios
.) ¡Toma!
VENDEDOR 3º: A fuera el compadre.
VENDEDOR 4º: Saca el machete. (Todos lo acosan y Mariano los persigue hasta que desaparecen.)
(MARIANO [Polizist]: [Zu den Verkäufern.] Weg, und belästigt den Herren nicht. VERKÄUFER 1: Ich belästige ihn nicht. MARIANO: [Drohend.] Eh, weg, sagte ich. Wenn nicht... VERKÄUFER 1: Weil er eine Machete trägt, spielt er sich auf. MARIANO: Seht Ihr nicht, dass es nutzlos ist? VERKÄUFER 1: Nimm das, und protze mit einem anderen Kniff. [Wirft ihm die Zeitungen zu.] VERKÄUFER 2: [Zur anderen Seite.] He! Lass den Säbel fallen. [Mariano dreht sich um und Verkäufer 2 wirft ihm die Zeitungen zu.] Nimm das! VERKÄUFER 3: Weg mit dem Angeber! VERKÄUFER 3: Zieh die Machete. [Alle bedrängen ihn und Mariano verfolgt sie bis sie verschwinden.])

In vielen Libretti war es üblich, Regieanweisungen in kursivem Schriftbild wiederzugeben (siehe Auszug oben). Auch Wörter und Phrasen, auf die die Aufmerksamkeit der Schauspieler gelenkt werden sollte, wurden kursiv gedruckt. In der ganzen Szene werden fünf Worte durch Kursivdruck hervorgehoben; vier davon erscheinen im obigen Textausschnitt: compadre/compadrear, corte, and parada. “Parada” und “corte” sind beide Begriffe für Tanzfiguren, und der “compadre” ist die emblematische Figur des Tango-Tänzers. Getanzt wird in der Szene allerdings nicht. (Das Libretto gibt leider nicht an, zu welcher Musik das Lied gesetzt wurde.) Was ist an diesen Worten so besonders? Sie wurden kursiv gedruckt, weil sie aus dem bonaerensischem Dialekt, dem lunfardo, stammen. Dies weist auf die Herkunft und den sozialen Stand der Verkäufer hin, die der Unterklasse von Buenos Aires angehören. Die Wortauswahl veranschaulicht die enge Verbindung von Tango und lunfardo, die im Theater beide ein Zeichen von Klassenzugehörigkeit waren.

Ein direkter Hinweis auf Tango erfolgt später im Stück mit dem Auftritt der „Tucumana“, einer Frau aus der entfernten Provinz Tucumán. Auch in dieser Szene wird lunfardo gesprochen—vom Assistenten, der aus Buenos Aires stammt.

ASISTENTE: ... que viene una tucumanita que es una criolla (cerrando el puño) ¡así! ¡y si viera usted con qué corte baila un tango y qué firuletes hace! Esa no es una mistonguería como éstas. (Indicando las mujeres.) Y como se mueve, señor, ... digo cuando baila.
(ASSISTENT: … hier kommt eine Tucumana, die ist eine criolla, (Er ballt die Faust.) so! Und wenn Sie sehen könnten, mit welchem Auftreten [corte] sie Tango tanzt, und was für Verzierungen [firuletes] sie ausführt! Nicht wie diese miserablen da [Er zeigt auf die Frauen.] Und wie sie sich bewegt, Mann, … ich meine, wenn sie tanzt.)

In dieser Szene steht lunfardo im direkten Zusammenhang mit Tango. Doch auch hier wird nicht getanzt (von einer kurzen Pantomime des Assistenten abgesehen). Dem Publikum wird lediglich vermittelt, dass die „Tucumana“ eine verführerische und freizügige Frau ist, die Tango mit außergewöhnlichen “corte” und “firuletes” tanzt. Im Laufe ihres Auftritts raucht sie eine criollo Zigarre (cigarro de chala), verteilt großzügig Zigarren an die Umstehenden, und läßt sich auf eine Unterhaltung mit dem Assistenten ein. In einem Dialog voller sexueller Andeutungen, erzählt sie von ihrer Vorliebe für Soldaten und schlaflose Nächte und singt schließlich, sich auf der Gitarre begleitend, ein Lied über ihre schöne Heimat Tucumán.

Warum die „Tucumana“ als hervorragende Tango-Tänzerin vorgestellt wird, oder warum das von Bedeutung ist, ist nicht offensichtlich, denn sie tanzt nie. Die Verbindung von einer verführerischen Frau und Tango läßt allerdings vermuten, dass ein anderes bekanntes Bühnenwerk als Vorbild diente: Bizets Carmen. (Carmen singt eine Habanera [Tango], arbeitet in einer Zigarrenfabrik, verführt einen Soldaten und kokettiert mit einem Torero.) Tango spielt in El año 92 nur eine geringfügige Rolle. Er wird eindeutig mit Buenos Aires in Verbindung gebracht, ist aber nicht interessant genug, um aus ihm auf der Bühne etwas zu machen.

Eine ähnliche Erwähnung von Tango findet sich in Sorias El sargento Martín, einer Zarzuela aus dem Jahre 1896 mit Musik des argentinischen Komponisten Eduardo García Lalanne (*1863, Buenos Aires). Die Handlung spielt im Jahre 1866 während des Krieges zwischen Argentinien und Paraguay. Cartucho, der aus Buenos Aires im argentinischen Lager eingetroffen ist, möchte während einer Tanzveranstaltung einen Tango oder eine Milonga hören. Man sagt ihm, dass man in der Provinz nur Cuecas, Gatos oder Chacareras tanzt. Cartucho antwortet:

Amigo, allá en Buenos Aires ¡qué farras! Tango, mazurca y puro corte.
(Mein Freund, dort in Buenos Aires, was für Partys! Tango, Mazurka und reiner corte.)

Buenos Aires wird wieder mit Tango und corte verknüpft, hier allerdings ohne Hinweise auf Klassenzugehörigkeit. Die Gegenüberstellung der Tänze soll auf den Unterschied zwischen Stadt und Land hinweisen. “Tango, Mazurka y puro corte” stehen für ganz Buenos Aires. Zudem ist „corte“ nicht ausdrücklich mit Tango verbunden, sondern auch mit Mazurka. Tanzen mit „corte“ in diesem Sinne heißt nicht, einen bestimmten Tanz, sondern in einem bestimmten Stil zu tanzen.

Ein Jahr später, 1897, führte die Theatertruppe von Enrique Gil ein neues Stück von Soria auf:  Justicia criolla, eine “zarzuela cómico-dramática” mit Musik von Antonio Reynoso, einem spanischen Immigranten, der sich in Buenos Aires zu einem erfolgreichen Theaterkomponisten und Dirigenten entwickelte. Leider gibt es keine moderne Ausgaben der Partitur, was für die Stücke des teatro criollo die Regel ist. In diesem Falle ist es besonders bedauernswert, nicht nur weil Reynoso als Komponist mehr Aufmerksamkeit verdient, sondern auch, weil Justicia criolla einen Meilenstein in der Geschichte des Tangos darstellt: Tango ist keine Randbemerkung mehr, sondern spielt eine Rolle in der sich entwickelnden Handlung.

4. Antonio Reynoso

Für seine Interpretation des Benito, eines schwarzen Portiers im Kongressgebäude von Buenos Aires, sollte Enrique Gil, der diese Hauptrolle als erster spielte, berühmt werden. Soiza Reilly erinnerte sich:

Posiblemente Enrique Gil y Rogelio Juárez, fueron los primeros que comprendieron la necesidad de alentar con su ingenio a los autores aborígenes. Lo más admirable en esta actitud de los artistas españoles, era la paciencia, la constancia, el talento que ponían en la interpretación de los papeles criollos. ¡Con qué afán de realismo modelaban su máscara y con qué cariño adoptaban el lenguaje, la entonación, el dejo de los argentinos!... Me parece estar viendo a Enrique Gil—español auténtico—convertido en un negro legítimo del suburbio porteño. Aquel negro famoso—personaje de uno de los primeros sainetes hilarantes de nuestro genial Ezequiel Soria—pasó, en la persona de Enrique Gil, a ser más verdadero que los negros reales.

(Enrique Gil und Rogelio Juárez waren wahrscheinlich die ersten, die die Notwendigkeit erkannten, mit ihren Fähigkeiten die jungen einheimischen Autoren zu ermutigen. Besonders bewundernswert in der Einstellung der spanischen Künstler waren die Geduld, Ausdauer und Begabung, mit der sie die Interpretation von criollo-Rollen angingen. Mit wieviel Drang nach Realismus sie ihre Masken bildeten, mit wieviel Liebe sie die Sprache, die Intonation und den Tonfall der Argentinier adoptierten. Ich sehe immer noch Enrique Gil, authentischer Spanier, verwandelt in einen originalen Schwarzen der Vororte von Buenos Aires. Dieser berühmte Schwarze—eine Figur aus den ersten amüsanten Sainetes unseres genialen Ezequiel Soria—erschien in der Person von Enrique Gil authentischer als wirkliche Schwarze.)

Die erste Szene des Schauspiels zeigt den Hof eines conventillos, in dem die Frauen im Begriff sind, die Arbeiten des Tages zu beenden, und sich auf eine Geburtstagsfeier freuen, bei der getanzt werden soll.

ESCENA I
Coro de señoras 
En cuanto acaben nuestros quehaceres
a prepararnos para bailar,
porque esta noche de sus talleres
nuestros amigos aquí vendrán.
Con baile y vino, canto y guitarra
la noche pronto se pasará;
¡que alegre fiesta! ¡que hermosa farra!
¡que divertidas vamos a estar!
La vihuela su dulzura
lanzará en bordona y prima
y quebrando la cintura
habrá tangos y cuadrillas.

(SZENE I. Chor der Frauen. 
Sobald wir unsere Aufgaben beendet haben, laßt uns den Tanz vorbereiten, denn heute Abend kommen unsere Freunde aus ihren Werkstätten. 
Mit Tanz und Wein, Lied und Gitarre wird die Nacht schnell vergehen. Was für ein fröhliches Fest! Was für eine schöne Party! Wie fröhlich wir sein werden! 
Die Vihuela wird lieblich auf tiefen und hohen Saiten klingen, und, die Hüfte beugend, wird es Tangos und Quadrillen geben.)

In Sorias vorangehenden Theaterstücken war Tango mit einem gewissen Tanzstil oder Attitude verbunden, dem corte. Hier treffen wir einen anderen Begriff an, der sich auf die Körperhaltung bezieht und ein ergänzendes Kennzeichen des Tangos ist: die quebrada, ein „Bruch“. “Quebrando la cintura” (die Hüfte beugend) deutet an, dass gewöhnliche aufrechte Körperhaltung „gebrochen“ ist und die Frau (wahrscheinlich) eine Rückwärtsbeugung ausführte. Ob die beiden Begriffe in Justicia criolla zum ersten Mal zusammen als Kennzeichen des Tangos benutzt wurden, ist schwer zu sagen, aber danach wurde Tango mit „corte y quebrada“ zu einem Klischee.

Tango ist nicht der einzige Tanz, den die Feiernden zu tanzen erwarten. Die Frauen erwähnen auch Quadrillen. Später im Stück, wenn die Zeit zum Tanzen gekommen ist, wird noch ein anderer Tanz verlangt: ein Walzer.
ESCENA XVI 
Las gentes del baile y Gregorio, Antonio, Benito y José. 
GREGORIO: A ver si se anima esa mozada!
HOMBRE 1º: Un vals.
UNOS: No, no, tangos.
OTROS: ¡Cuadrillas!
BENITO: Un poquito de calma, señores, que todo se bailará. Como buenos criollos, propongo que se abra la sesión con un tango y si la mayoría está por la
afirmativa, ya pueden rascar sus cuerdas los guitarristas.
TODOS: ¡El tango, el tango!
BENITO: Qué pronto lo arreglé! Para manejar mayorías tengo muy buena muñeca. 
(Tocan y bailan el tango. Después del tango continúa la escena hablada...)
(SZENE XVI. 
Die Teilnehmer des Tanzes sowie Gregorio, Antonio, Benito und José. 
GREGORIO: Mal sehen, ob wir die jungen Leute auf die Beine bringen können.
EINIGE: Nein, nein, Tangos.
ANDERE: Quadrillen!
BENITO: Meine Herren, Ruhe bitte! Wir werden sie alle tanzen. Ich schlage aber vor, dass wir als gute criollos die Sitzung mit einem Tango beginnen. Und wenn die Mehrheit zustimmt, können die Gitarristen anfangen, auf ihren Gitarren zu klimpern.
ALLE: Den Tango, den Tango!
BENITO: Wie schnell ich das eingelenkt habe! Ich habe ein gutes Gespür für Mehrheiten.
ERSTER MANN: Ein Walzer.
[Sie spielen und tanzen den Tango. Die gesprochene Szene wird nach dem Tango fortgesetzt...])
Dass Tango nicht der einzige Tanz ist, der bei den Bewohner des conventillos Zuspruch findet, sollte nicht überraschen. Dass sie aber als „gute criollos“ zuerst und vor Allem Tango tanzen wollen, ist eine Ankündigung des Autors. Sie weist darauf hin, was als Nächstes auf der Bühne stattfinden wird: die konkrete Aufführung eines Tangos. Die Verknüpfung von Tanz, Örtlichkeit und Gesellschaftsschicht, wie sie in diesem Stück vorgestellt wurde, sollte zum emblematischen Rahmen des Tangos werden. Hier in Justicia criolla wurde Tango zum ersten Mal auf der Bühne als criolloGesellschaftstanz dargestellt—vor einem Publikum, das genauso criollo war, wie die Bewohner des conventillos.

In der Zarzuela wird Tango mit „corte y quebrada“ vor der eigentlichen Tanzszene noch einmal erwähnt. Für Benito gehört er zum Umwerben einer Frau. Er erzählt, wie er Juanita auf einer Tanzveranstaltung kennenlernte und sie zu einem Schottische aufforderte. Nachdem er mit ihr flirtete, eroberte er sie schließlich während eines Tangos mit einem echten corte.


ESCENA IX

BENITO: Oye como á Juana yo la conocí.

Era un domingo de carnaval 
y al Pasatiempo fuíme a bailar. 
Hablé á la Juana para un chotis 
y a enamorarla me decidí. 
Én sus oídos me lamente 
me puse tierno y tanto hablé 
que la muchacha se conmovió, 
con mil promesas de eterno amor.

Hablé a la mina de mi valor 
y que soy hombre de largo spor; 
cuando él estrilo quiera agarrar 
vos mi Juanita me has de calmar 
Y ella callaba y entonces yo 
hice prodigios de ilustración, 
luego en un tango, che, me pasé 
y á puro corte la conquisté.


(SZENE IX.

BENITO: Hör zu, wie ich Juanita kennengelernt habe.

Es war ein Sonntag im Karneval, und ich ging in das El Pasatiempo tanzen. 
Ich forderte Juanita zu einem Schottische auf und entschloß mich, ihr Herz
zu erobern. Ich klagte in ihr Ohr, ich wurde zärtlich und redete so viel,
dass das Mädel von tausend Versprechungen ewiger Liebe gerührt wurde.

Ich erzählte der Frau von meiner Stellung und das ich nicht mittellos war.
Wenn ich Sorgen habe, meine Juana, musst Du mich beruhigen. Und sie wurde
ruhig, und ich baute Luftschlösser. Später, während eines Tangos, he!,
wagte ich es und eroberte sie mit einem reinen „corte“.)

Als Benito danach gefragt wird, was für eine Frau Juanita wäre, beschreibt er sie und imitiert einen Tanz mit ihr. Der schönste Moment ist für Benito, wenn er sie in eine quebrada führt.

ESCENA XIV
GUITARRISTA: Y esa Juanita qué tal es?
BENITO: Así, che! (cerrando el puño) ¡que cosa más rica!... Cuando bailando
un tango (hace la pantomima de lo que va hablando), con ella, me la afirmo 
en la cadera y me dejo ir al compás de la música y yo me hundo en sus ojos
negros y ella dobla en mi pecho su cabeza y al dar la vuelta, viene la
quebradita... Ay! hermano se me vá, se me vá... el mal humor.
GUITARRISTA: Deseo conocer á esa Juana.

(SZENE XIV
GITARRIST: Und diese Juanita, wie ist sie?
BENITO: So, he! [die Faust ballend] Vom feinsten!... Wenn ich mit ihr einen
Tango tanze [spielt eine Pantomime des Tanzes], lege ich sie fest an meine
Hüfte und lasse mich zum Rhythmus der Musik gehen. Und dann versinke ich in 
ihre schwarzen Augen und sie lehnt ihren Kopf gegen meine Brust. Und dann 
in der Drehung kommt eine kleine quebrada... Oh, Bruder, sie vergeht … sie vergeht, 
die schlechte Laune.
GITARRIST: Diese Juanita möchte ich kennenlernen.)


Während Tango in Sorias früheren Schauspielen nur als Randbemerkung auftrat, ist er in Justicia criolla ein wesentlicher Bestandteil des Stückes. Die Tanzszene, die am Anfang angekündigt und kurz vor dem dramatischen Ende aufgeführt wird, ist Teil des musikalischen Höhepunkts der Zarzuela. Tango ist auch ein maßgebender Faktor in der Beziehung zwischen Benito und Juanita. In keinem anderen Stück vor Justicia criolla wurde die Verknüpfung von Tango, conventillo und dessen Bewohner so offensichtlich dargestellt. Sie entwickelte sich zu einem beständigen Modell für das argentinische Theater.


5. Ein Tanz in einem realen conventillo

Soria setzte in Justicia criolla den Tango in drei verschiedenen Zusammenhängen in Szene, die in der einen oder anderen Form in späteren Stücken des teatro criollo widerklangen:

  1. Als Bühnentanz: Die Tanzszene und das darauffolgende Lied des Payadors sind der musikalische Höhepunkt des Stückes (Szene XVI). Tango wird zu einem Spektakel: ein Gesellschaftstanz vor dem Hintergrund der sozialen Unterklasse, symbolisiert durch den conventillo.
  2. Als Teil des männlichen Paarungsverhaltens von criollos: In seinem Lied beschreibt Benito, wie er Juanita bei einer Tanzveranstaltung kennenlernte, sie bezirzte und sie dann während eines Tangos „eroberte“. (Szene IX)
  3. Als eine Vorführung: Als Benito auf Juanita angesprochen wird, beschreibt er, wie er mit ihr tanzt und mimt die Tanzschritte (Szene XIV).

In der Tangoliteratur werden die angeführten Beispiele oft als Beweise ausgelegt, dass im Buenos Aires des ausgehenden 19. Jahrhunderts tatsächlich Tango getanzt wurde. Allerdings kann Ezequiel Soria—damals ein 19 Jahre alter Student (siehe Bild oben), der aus einer fernen Provinz stammte und sich gerade erst als Dramatiker versuchte—kaum als Experte der conventillos und deren Tanzveranstaltungen gelten. Man muss Justicia criolla vielmehr im Hinblick auf Theatertraditionen interpretieren. Tango in Justicia criolla ist vor allem eines: er ist Komödienspiel.

Zur Zeit der Uraufführung von Justicia criolla, 1897, war Tango ein Novum auf der Theaterbühne. Noch für etliche Jahre trat er nur gelegentlich in Erscheinung. Als ob dem Publikum gezeigt werden musste, wie der Tanz tatsächlich aussah, nahmen viele Tangoszenen die Form einer Demonstration oder Vorführung an. Als Benito einen Tango mimte und zeigte, was eine quebrada war, wurde dem Publikum vorgeführt, was sie erwarten konnten, wenn der Tanz schließlich aufgeführt wurde. Es ergibt sich von selbst, dass so eine Pantomime eine Aufforderung für jeden Schauspieler war, sein komödiantisches Können zur Schau zu stellen.

Die Tanzaufführung in Justicia criolla ist der Szene des Schottisch del Elíseo Madrileño aus La Gran Vía nicht unähnlich. In beiden Fällen nehmen Leute der Unterklasse an einer Veranstaltung teil, in der formalisierte Verhaltensweisen (der Oberklasse) anklingen. Beide Szenen sind Parodien: der parodienhafte Aspekt des Schottisch del Elíseo Madrileño drückt sich in der Beschreibung der Kleidung und des Verhaltens der Teilnehmer im Text des Liedes aus; in Justicia criolla ist es die Aufreihung der zu erwartenden Tänze, d.h. Tango, Quadrille und Walzer.

In zahllosen Operetten und anderswo war der Walzer—und ist es auch heute noch—der elegante Tanz par excellence. Ähnlich war es mit der Quadrille: während des 19. Jahrhunderts war sie der Höhepunkt von Bällen, da sie die Kooperation aller Tanzpaare auf der Tanzfläche erforderte. Für Walzer und Quadrille waren Form und Dekorum maßgebend. Würden sich die Bewohner eines conventillos—in einer Komödie!—als elegante Walzertänzer herausstellen? Würden sie die komplizierte Choreographie einer Quadrille fehlerlos ausführen können? Wohl kaum.

Gute aufrechte Haltung und graziöses Auftreten waren fundamentale Gebote der Gesellschaftstänze des 19. Jahrhunderts. Tango ist genau das Gegenteil davon. Wenn man „bailar con corte y quebrada” frei als „tanzen mit Überheblichkeit und schlechter Haltung“ übersetzt, wird die Unvereinbarkeit von Tango tanzen zum einen und Walzer und Quadrille tanzen zum anderen offensichtlich. Daher entscheiden sich die Einwohner des conventillos als „gute criollos“ für den Tango, dem Tanz, der dem gegebenen Rahmen entspricht. Im Schottisch del Elíseo Madrileño tanzen die Teilnehmer Habanera, Polka und Walzer, ohne sich um den Rhythmus zu kümmern; in Justicia criolla tanzen sie mit corte y quebrada. In beiden Schauspielen werden Überschreitungen der Grenzen des korrekten Tanzens zu komödiantischen Zwecken ausgenutzt.

IV.2 Enrique de María


Über einen weiteren criollo Dramatiker, Enrique de María (*1869, Montevideo, UR), sind kaum biographische Daten bekannt, und nur wenige seiner Schauspiele sind heute erhältlich. Drei von ihnen fanden offenbar eine größere Verbreitung und sind heute in einigen Bibliotheken anzutreffen. 

Das früheste dieser Stücke, die revista criolla Á vuelo de pájaro (mit der Musik eines spanischen Immigranten, Antonio Videgain García [*1869, Jerez, ES]) wurde 1895 in Montevideo uraufgeführt. Das Stück folgt einem spanischen Vorbild, der Revue Certamen nacional (1888) von Manuel Nieto, und präsentiert Produkte und Institutionen aus Uruguay, sowie Bewohner der Unter- und Mittelklasse von Montevideo.

In der Revue gibt es zwei Tanzszenen. In einer wird ein „pericón nacional“ dargeboten, ein (ländlicher) criollo Tanz, den Uruguay und Argentinien beide als nationalen Volkstanz beanspruchten. (Später ist man übereingekommen, dass der Tanz im Theater von den Podestá Brüdern erfunden wurde.) Der pericón wird am Ende der Revue vor dem großen Finale, der Nationalhymne, aufgeführt. Die andere Tanzszene folgt dem Modell der „3 ratas” aus La Gran Vía. In ihr treten ein compadrito (Nene) und seine Gefährtin (Mondonguito) auf, die den einheimischen Dialekt sprechen und ein dreistes und arrogantes Benehmen an den Tag legen.

De María entwickelt die Szene und Charaktere zu neuen Extremen. Der Dialog ist mit lunfardo Ausdrücken überladen. Lunfardo war eine „Entdeckung“, die zeitgleich mit der Entstehung des teatro criollo stattfand. Der einheimische Dialekt, der sich in den Großstädten der Rio-de-la-Plata-Region als Resultat der Immigration entwickelte, erweckte das Interesse der Intellektuellen—einschließlich der Theaterautoren—während des letzten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts. 1895 war er noch ein Novum auf der Theaterbühne, denn dem Publikum wird erklärt, was er ist:

VIAJERO:    (á Justiniano) ¿En qué lenguaje hablan estos?
JUSTINIANO: Esa es la lengua Lunfarda!
VIAJERO:    No conozco.
JUSTINIANO: Es un dialecto, que estila la gente baja.

(REISENDER: (zu Justiniano)Welche Sprache sprechen die? 
JUSTINIANO: Das ist die lunfardo Sprache. REISENDER: Kenn' ich nicht.
JUSTINIANO: Es ist ein Dialekt, der bei niedrigen Leuten gebräuchlich ist.)





Faszinierend am lunfardo war auch, dass die Ausdrücke oft unverständlich waren. Die Schlusszeilen von Nenes und Mondonguitos Lied (siehe unten) können als Beispiel dienen:



¡Semos mancos, nos pisó la bisicleta,
y el mataperros nos vá á encanar!

(Wir sind Einarmige, uns überrollte das Fahrrad,
und der Hundefänger wird uns einsperren!)



Die Phrase sagt nichts aus und bezieht sich auch nicht auf die Handlung. Sie ist humoristischer Unsinn.


Auffällig in De Marías Szene ist ferner die Hervorhebung des Tanzens und die Charakterisierung der Tänzer. In der Szene treten vier Personen auf: die zwei Präsentatoren der Revue (der Reisende und Justiniano) und der compadrito Nene und seine Partnerin Mondonguito aus Montevideo, zwei „niedrige Personen“. Nene und Mondonguito stellen sich als party-liebende Tänzer ohnegleichen vor:

NENE: Soy un compadre muy afamado,
      Me llamo El Nene por mi valor!
      Soy de Palermo el cabecilla,
      Soy de sus farras el diretor!
MONDONGUITO: Yo soy Manuela La Mondonguito,
      Soy una china de calidá!
      Llevo cuchillo puesto en la liga
      Y á comadrona no tengo igual!
VIAJERO: (¡Jesús que gente tan depravada!)
JUSTINIANO: (al viajero); ¡Tenga prudencia, por caridad!
      Que si se enfada este Nenito,
      Vamos derechos al hospital!

NENE  Á bailar con quebradura no hay quien el poncho me pise,
      Que en Palermo y en la Olada no hay como yo bailarines!
MONDONGUITO: Pa ensillar un mate amargo, tiene fama Mondonguito
      Y á bailar con firuletes, soy pareja con mi chino!

      (Bailan)

NENE  ¡Quiebra, quiebra, vieja mía, la cadera!
      Sin quebraduras no sé bailar!
VIAJERO: (á Justiniano) ¡Compañero, enseguida un dibujante,
      Que este retrato quiero llevar!

MONDONGUITO: ¡Semos mancos, nos pisó la bisicleta,
      y el mataperros nos vá á encanar!
JUSTINIANO: (á viajero) (Le prometo, en el hotel, cuando usted quiera,
      un buen retrato del natural!)

NENE: Á bailar con quebraduras, etc.
MONDONGUITO, 
NENE: Semos mancos, nos pisó, etc. (á duo)










(NENE: Ich bin ein bekannter compadre, man nennt mich 'der Kleine' 
wegen meines Mutes! Ich bin der Rädelsführer von Palermo und 
der Vorsitzende aller Parties. MONDONGUITO: Ich bin Manuela, 
'die Kutteln', und ein klasse Mädchen. Ich trage ein Messer im 
Strumpfband, und als comadrona kommt niemand an mich heran. 
REISENDER: Gott, was für verkommene Leute! 
JUSTINIANO: [zum Reisenden] Um Gottes Willen, Vorsicht! 
Wenn dieser Kleine sich ärgert, landen wir geradewegs im Krankenhaus!
NENE: Beim Tanzen mit quebradura kann mich keiner herausfordern. 
In Palermo and La Olada gibt es keine Tänzer wie mich. 
MONDONGUITO: 'Kutteln' ist bekannt für ihren bitteren Mate, und 
beim Tanzen mit  firuletes bin ich die Partnerin meines Jungen.
[Sie tanzen.]
NENE: Beuge , meine Alte, beuge die Hüfte! Ohne quebraduras kann 
ich nicht tanzen. REISENDER: [zu Justiniano] Kamerad, einen Zeichner, 
schnell! Dieses Porträt möchte ich mit mitnehmen. 
MONDONGUITO: Wir sind Einarmige, uns überrollte das Fahrrad, 
und der Hundefänger wird uns einsperren!
JUSTINIANO: [zum Reisenden] Im Hotel, ich versprech' es Dir,
wann immer Du willst, ein Porträt nach der Natur. 
NENE: Beim Tanzen mit quebradura, usw. 
MONDONGUITO, NENE: Wir sind Einarmige, usw.)

Der Text gibt zwar keinen konkreten Tanz an, aber er hebt deutlich hervor, wie Nene und Mondonguito tanzen: mit quebradura (quebrada) und firulete. Tatsächlich ist die ganze Szene so ausgelegt, der Darstellung dieses besonderen Tanzstils Raum zu geben. Das Paar bietet einen so absonderlichen Anblick, dass der Reisende es in einem Bild festhalten möchte. Niemand tanzt mit quebradura wie er, sagt Nene, aber dabei gibt er eine lächerliche Figur ab. Nenes Tanzstil—bailar con quebraduras—ist schiere Parodie.



Im Vergleich zu den anderen Stücken, die wir untersucht haben, sind Nene und Mondonguito  compadrito und comadrona einer ganz anderen Art. Ihre Beziehung ist von Gewalt und Ausbeutung bestimmt. Wenn sie auf der Bühne erscheinen, sind sie mitten in einem Streit, in dem Nene von Mondonguito Geld verlangt, das sie sich weigert, ihm zu geben. In einem heftigen Austausch droht er, sie zu schlagen. Als der Reisende ihr zur Hilfe kommen will, weist sie ihn ab:

MONDONGUITO: Más me pega, más le quiero;
    Y no lo puedo negar,
    Que á mi me gustan los hombres
    Que la saben refilar!

(MONDONGUITO: Je mehr er mich schlägt, umso mehr liebe ich ihn. 
Und ich kann es nicht leugnen, ich mag Männer, die austeilen können.)


Letztendlich schlägt Nene Mondonguito und bekommt das Geld. Trotzdem beharrt Mondonguito darauf, dass Nene richtig gehandelt hat, da er ja das Geld brauchte. Die Beistehenden folgern:


VIAJERO: ¡Qué tipos tan repugnantes!

JUSTINIANO: El compadrito y su dama;
    La mujer es quien mantiene,
    Es gente muy haragana,
    Ignorante, vagabunda!

(REISENDER: Was für widerliche Leute! 
JUSTINIANO: Das ist der compadrito und seine Dame. Es ist die Frau, 
die ihn unterhält. Das sind nichtsnutzige Leute, Ignoranten, Herumtreiber!)



Dem heutigen Publikum mag solch ein Humor geschmacklos erscheinen, trotz der missbilligenden Kommentare des Reisenden und Justinianos. Man darf aber nicht vergessen, dass es sich hier um Theater handelt. Nene und Mondonguito sind Modelle für zwei Charaktere, die zum Personenbestand der Tango-Mythologie (und oft als historisch verbürgte Geschichte verkauft) wurden: die Prostituierte „mit dem Dolch im Strumpfband“ und der ausbeutende, misshandelndecompadrito-Zuhälter. Gewalt, Ausbeutung und Tango: hier bahnt sich eine thematische Triade an, die zum gängigen Inhalt von Tango-Texten wurde—als Komödiennummer!

In der theaterwissenschaftlichen Literatur hat Á vuelo de pájaro keinen Niederschlag gefunden. Es ist daher unmöglich zu beurteilen, ob das Stück in Montevideo Erfolg hatte. Offenbar wurde es aber nie in Buenos Aires aufgeführt worden, denn drei Jahre später baute De María die Tanzszene in erweiterter Form in eine andere Revue ein, die dort 1898 Premiere feierte. Die „Straßen-Revue“ Ensalada criolla, mit Musik des argentinischen Komponisten Eduardo García Lalanne, ist ein weiterer Meilenstein in der Geschichte des teatro criollo. Es war De Marías erste Zusammenarbeit mit einer argentinischen Theaterkompanie, der Truppe der Podestá Brüder (damals unter der Leitung von José Podestá, [*1858, Montevideo, UR]). Die Podestás waren ursprünglich Zirkusartisten. Nachdem sie Pantomimen in ihre Vorstellungen eingeführt hatten, verlegten sie ihr Betätigungsfeld auf die Theaterbühne und gaben criollo Schauspiele mit Gaucho-Handlungen (teatro gauchesco). Größte Popularität erlangten sie schließlich mit der urbanen Thematik des teatro criollo.

Wie in Á vuelo de pájaro wird Tango auch in Ensalada criolla nicht beim Namen genannt. Das Tanzen „con corte y quebrada” wird aber viel betonter erwähnt, was darauf schließen läßt, dass das Konzept den Zuschauern vertrauter war. Zu Beginn des Stückes wird dem Publikum mitgeteilt, dass der Hauptdarsteller (während ersten Aufführung von José Podestá gespielt) erkrankt ist, und die Vorstellung nicht stattfinden kann. Ein Zuschauer aus dem Publikum fragt, was für Rollen Podestá spielen sollte. Als er hört, dass es sich dabei um wichtige criollo Rollen handelt, bietet der Zuschauer (niemand anders als José Podestá selbst) an, die Rollen zu übernehmen. Der Autor des Stückes ist damit einverstanden, und der Zuschauer tritt auf die Bühne:


ESPECTADOR: ¡Gracias á Dios, que he tenido ocasión de probar 
mi talento artístico. ¿Papeles criollos?... ¡Me llamaron à mi 
juego!... ¡En esto de quebrar la cadera;...
(baila) no hay quien me pise el poncho!! (Varios aplausos)...

(ZUSCHAUER: Gott sei Dank hatte ich Gelegenheit, mein künstlerisches 
Talent auszuprobieren! Criollo Rollen? Das ist mein Ding! Und das 
mit dem Beugen der Hüfte, [er tanzt] da gibt es niemand, 
der mich herausfordern kann. [Applaus])


Criollo Rollen zu spielen wird hier direkt auf Tanzen mit quebrada bezogen, und dem Publikum wird eine Tanz-Pantomime vorgeführt, die mit einem lunfardo Zitat aus Nenes Tanzszene in Á vuelo de pájaro abschließt. Dies als Einleitung zum Stück, proklamiert vom Hauptdarsteller!


Später im Stück wird eine Tanzszene dargeboten, die zur erfolgreichsten Musiknummer des Stückes wurde. Inhaltlich und strukturell weist die Szene Ähnlichkeiten zum Tanz der compadritos in Á vuelo de pájaro auf. Es gibt auch eine auffallende textliche Übereinstimmungen. Der letzte Vers des Liedtextes

¡Que semos mancos! ¡Nos pisó el tren!
ist offensichtlich von Á vuelo de pájaro übernommen. Dort endete das Lied mit

¡Semos mancos, nos pisó la bisicleta…!
„Que semos mancos” wurde gewissermaßen zum inoffiziellen Titel des Liedes. Der Text erschien als Gedicht in der Presse als das „berühmte Trio der compadritos“ aus Ensalada criolla, und noch Jahre nach der Premiere nahm Alfredo Gobbi ein Arrangement dieses Liedes auf Schallplatte auf.

6. Ensalada criolla (1903), Ausschnitt des Titelblattes


Die compadritos im Trio sind diesmal kein Paar, wie in Á vuelo de pájaro, sondern (wieder ein Nachklang der „3 ratas“ aus La Gran Vía) drei „niedrige Leute“: der „Helle“ Pichinango, der „Braune“ Zipitría und der „Schwarze“ Pantaleón. In einem mit lunfardo Ausdrücken gespickten Lied stellen sie sich als die bekanntesten cuchilleros (“Messerhelden”) vor, die sich selbst „die Zähne mit der Spitze ihrer Dolche putzen“. Sie erzählen von ihren Freundinnen, von denen sie mit Geld versorgt werden. Prahlend und sich verhöhnend wetteifern sie um die beste Tanzschritte, ziehen demonstrativ ihre Dolche und erklären, dass sie jede Herausforderung mit Messers Spitze annehmen werden.

In der darauffolgenden Szene, gesellen sich die drei Partnerinnen, die „helle“ Aniceta, die „braune“ Tongorí und die „schwarze“ María Cañonazo, zu den compadritos. Nach einem streitlustigem Dialog, in dem sich die verschiedenen Teilnehmer beleidigen und körperlich bedrohen, sind es nicht die Männer, die handgreiflich werden, sondern die Frauen, die sich in die Haare geraten. Nachdem sie von den Männern getrennt werden, weinen sie, schließen wieder Freundschaft, und die drei Paare tanzen zur Musik, die in die nächste Szene überleitet.

Die Übereinstimmungen zwischen den Tanzszenen in Á vuelo de pájaro und Ensalada criolla gehen über die oben erwähnten Textstellen hinaus. Auch in Ensalada criolla werden Gewalt, Ausbeutung und Tanzen mit corte y quebrada miteinander verknüpft, um Personen der Unterklasse zu charakterisieren. Die cuchilleros verkünden stolz ihre Bereitschaft, schnell vom Messer Gebrauch zu machen:

TODOS: ¡Ni al más taura le temo al maneje,
    soy como el cangrejo,
    reculo pa atras...
    Si me envisten, la punta les pongo
    Y... todo el mondongo
    Les voy a achurar!
RUBIO: Este [Rubio] es como un lion!
PARDO: ¿A este Pardo, quién lo pisa?
NEGRO: ¡Estos dos sirven de risa
    Si entra el Negro Pantalion!
    (bailan y barajan)
LOS 3: ¡Vengan, si existen crudos,
    tan macanudos
    como estos tres,
    (Hablando) Vengan, Negros ó blancos...
     ¡Que semos mancos!
    Nos piso el tren!

(ALLE: Ich scheue mich nicht, mich mit dem Wagemutigsten anzulegen.
Ich bin wie ein Krabbe, ich weiche zurück. Wenn sie mich überrumpeln,
gebe ich ihnen die Messerspitze und nehme ihnen den Bauch aus!
HELL: Dieser [Helle] ist ein Tier! BRAUN: Dieser Braune, wer wagt es,
ihn herauszufordern? SCHWARZ: Diese beiden sind lächerlich … 
wenn der schwarze Pantalion eingreift! 
[sie tanzen und schein-fechten] 
ALLE 3: Laß sie kommen, wenn so großartige harte Burschen gibt, 
wie diese drei. [Gesprochen.] Lass sie kommen, schwarz oder weiß! Wir sind einarmig!
Wir wurden vom Zug überrollt!)

Rücksichtslosigkeit kennzeichnet auch die Beziehung zu den Frauen. In der Beschreibung ihrer Partnerinnen schildern Pichinango und Zipitría auch, wie sie ihnen Geld abnehmen:

RUBIO: Ya encanadas tenemos tres minas,
    Que el vento refilan,
    A más no poder...
    Si no forman con una cantada
    La perra, ¡que biaba
    se van a comer!
PARDO: Mi pardita es más brava q'un filo,
    Y hoy chapa un estrilo,
    Si la hago formar!
    Si ella tiene escondida la plata...
        (hablando)
    Le espianto una luca
    Y voy a morfar!

(HELL: Wir haben jetzt drei Mädchen fest im Griff, die soviel Geld 
einbringen, wie sie nur können... Wenn sie es nicht freiwillig 
aushändigen: Was für einen Fausthieb sie einstecken müssen!
BRAUN: Meine “Braune” ist schärfer als eines Messers Schneide, 
und heute wird sie einen Wutanfall bekommen, wenn ich sie zur 
Kasse bitte. Wenn sie das Geld versteckt hat, … 
[gesprochen] 
helfe ich mir zu einem Geldschein und gehe essen.)

Der Text erwähnt nicht, wie die Frauen ihr Geld verdienen, aber der Umstand, dass die cuchilleros es mit Gewalt von ihnen nehmen, läßt das Verhältnis von Zuhälter und Prostituierter erkennen. In einer späteren Version des Liedes, die vermutlich 1901 für eine Neuinszenierung der Revue angefertigt wurde, ist der Text „abgeschwächt“. Die Frauen arbeiten als Dienstpersonal und die Männer prahlen nicht damit, sie auszunehmen. Körperliche Gewalt spielt aber auch in dieser Version eine Rolle in der Beziehung der Partner.

Während ihres Liedes tanzen die drei cuchilleros und wetteifern mit ihren Tanzschritten:

NEGRO: ¡Abran cancha y perdonen si piso, (baila)
    Que yo soy muy guiso,
    Para bailar!
    Compañeros, denme una manito
    Que el chamberguito

    [EINFÜGUNG]

    Se me va á cair!
RUBIO: ¡Q'no hay chucho con el rubio Pichinango
    Que maturrango
    Es pa bailar!
    A la china que le quie[b]re la cadera...
    Ay, la pollera
    Como le hará!

(SCHWARZ: Macht Platz und entschuldigt, wenn ich hereinkomme, 
[er tanzt] ich bin verrückt auf Tanzen. Freunde, seid mir behilflich, 
denn mein Hut 

{EINFÜGUNG} 

wird mir herunterfallen! 
HELL: Der “Helle” Pichinango hat keine Bange, er ist ein alter Hase im Tanzen. 
Er beugt die Hüfte des Mädchens! Hallo, was er mit ihrem Rock anstellen wird!)

In der späteren Version des Textes wurde ein Abschnitt eingefügt, in dem Pantaleón vorführt, was ein corte ist:

RUBIO: ¡Pará el carro, Pantaleón!
PARDO: ¡Ese baile ya no cuela!
NEGRO: (Con sorna). ¡Este corte... (lo hace) es de mi escuela.
       ¡Perdonen la lección!
RUBIO: ¡Qué pata!... ¡la de la sota!
PARDO: ¡Mucho enriedo para un pleito!
NEGRO: ¡No tiene lustre esta bota!


(HELL: Immer mit der Ruhe, Pantaleón! BRAUN: Der Tanz bringt nichts mehr! 
SCHWARZ [Ironisch.] Dieser corte... [zeigt ihn] komm aus meiner Schule. 
Entschuldigt die Belehrung! 
HELL: Was für Beinarbeit! Was für Spielereien! 
BRAUN: Genug für eine Herausforderung! 
SCHWARZ: Der Schuh glänzt nicht mehr!)

In Sorias Justicia criolla oder De Maria's Á vuelo de pájaro war es vielleicht nicht so auffällig, aber hier wird Eines offensichtlich: tanzen mit corte y quebrada (d.h., Tango tanzen) ist Männersache. Der Tanz wird immer aus der Sicht des Mannes dargestellt: er erzählt, wie er mit einer Frau tanzt, oder er mimt Tanzschritte. Ensalada criolla führt ein weiteres Tango-Klischee ein: Männer, die mit Männern tanzen. Die Szene der cuchilleros steht in der Tradition der „3 ratas“ aus La Gran Vía, in der eine Gruppe von Männern eine Musiknummer aufführt. Die Musik der „ratas“ ist eine jota, ein spanischer Tanz, aber die Szene ist kein Tanz an sich. In Ensalada criolla ist der Tanz dagegen ein fester Bestandteil der cuchilleros-Szene, denn er spiegelt sich im Liedtext und den Bühnenanweisungen wider.

Ensalada criolla kam gut beim Publikum an, und die Podestá Truppe brachte das Stück wiederholt auf die Bühne, zumindest bis 1903. 1902 wurde eine neue Revue von Enrique De María mit Musik von Antonio Reynoso inszeniert: Bohemia criolla (eine Parodie von Puccinis Oper La Bohème). Das Stück wurde eines der erfolgreichsten Einspielungen der Podestás. Es soll uns hier aber nur kurz beschäftigen, da es im Bezug auf Tango keine Neuerungen einführte.

Zwei Tanzszenen sind in die Handlung von Bohemia criolla eingebunden, die beide nur von Männern aufgeführt werden. In beiden klingt auch das Modell der „3 ratas“ nach. Sinforoso, ein “orillero” und “compadrito”, singt und tanzt in der ersten Szene und markiert (allein) „alle Posen des Tanz mit corte“, die dann von seinen drei Freunden imitiert werden. In der zweiten Szene singen drei Straßenverkäufer und beenden jede Strophe mit einem corte. Wie in den früheren Stücken wird Tango in Bohemia criolla nicht beim Namen erwähnt. Es wird nur mit „corte“ getanzt.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Tango eine fester Bestandteil des teatro criollo geworden. Er ist eine Komponente der Darstellungsweise einer Gesellschaftsschicht in Komödien. Als Teil theatraler Charakterisierung passt er vorwiegend zu Männerrollen, insofern als Männer mit ihren cortes und quebradas prahlen, über den Tanz reden, tanzend Frauen verführen, Freunde oder einer Frau Tango beibringen oder ihn mit anderen Männern tanzen. Wir der Tanz allerdings aussah, wissen wir nicht. Es gibt weder Bühnenanweisungen, Beschreibungen oder Illustrationen, die einen Eindruck vermitteln könnten, wie diese Tänze aufgeführt wurden. Die Ausführung von corte und quebrada blieb den Schauspielern und Regisseuren überlassen. Erst als Tango häufiger inszeniert und sichtbarer wurde, finden wir Hinweise darauf, wie er im Theater getanzt wurde—und nicht nur auf der Bühne.










© 2020 Wolfgang Freis