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Saturday, July 4, 2020

„El viejo tango que nació en el arrabal”, oder: Die Enthüllung des Mythos von der niedrigen Herkunft des Tangos, Teil 2,1



Zusammenfassung: Dieser Teil gibt weiteren Aufschluss über die Herkunft des argentinischen Tango. Eine Auswertung von Quellendokumenten aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stellt den Tanz in den Mittelpunkt. Wir folgern, dass der Tanz nicht in den armen Vierteln von Buenos Aires, sondern auf der Bühne der Boulevardtheater entstand. Dies geschah als Folge eines Prozesses, in dem die Vorbilder spanischer Theatertruppen, Schauspiele, und Tänze von argentinischen Künstlern assimiliert und als endemisch präsentiert wurden. Zeitungsartikel und Photoserien zum Thema Tango deuten darauf hin, dass Schauspieler abgebildet und als compadritos und comadritas einer legendären Vergangenheit präsentiert wurden, als ob sie authentische Charaktere von den Straßen von Buenos Aires wären. Tatsächlich handelte es sich dabei um Inszenierungen von Rollentypen aus dem teatro criollo. Die breite Öffentlichkeit von Buenos Aires wurde durch das Erscheinens solcher Rollentypen in Theater und Presse mit Tango vertraut gemacht. Das Theater war nicht nur der Schauplatz, an dem Tango von einem breiten Publikum bewundert werden konnte, es war auch der Ort, an dem Tango während der Karnevalsbälle als Gesellschaftstanz getanzt wurde. Presseberichte über die Bälle der Jahre 1904-5 unterstreichen die Beliebtheit des Tangos als Modetanz. Bilddokumente veranschaulichen, dass sich Tango zu einem ausgeprägten Gesellschaftstanz entwickelt hatte. 


IV. Die Podestás und das Apolo-Theater


Als De Marías Bohemia criolla uraufgeführt wurde (1902), hatten sich die Podestá Brüder in festen Platz unter den Theaterensembles von Buenos Aires erobert. Ihr Wechsel von der Zirkusarena auf die Bühne zum Ende des 19. Jahrhunderts fiel mit wichtigen Veränderungen im Theaterleben der Stadt zusammen. Das Ende der Vorherrschaft der spanischen Theatergruppen im teatro criollo bahnte sich an. José Podestá (*1858, Montevideo, UR) ließ sich schnell in der Presse auf ein Polemik ein und behauptete, dass das einzige Mittel, „den wahren Charakter und Geschmack“ von „originären Werken von criollo oder ansässigen Autoren“ zu bewahren, eine Interpretation von argentinischen Schauspielern wäre. 

1. Die “Capos” der Podestá Familie: Antonio, Jerónimo, José und Pablo

Die Podestás waren außerordentlich geschäftstüchtig, wenn man von der Anzahl der Stücke, die sie auf die Bühne brachten, ausgehen kann. Während des ersten Jahrzehnts der 20. Jahrhunderts inszenierten die verschiedenen Theatergruppen, die die Podestás zusammen, getrennt oder in Verbindung mit anderen Ensembles bildeten, Hunderte von Schauspielen. Viele davon spielten vor dem städtischen Hintergrund von Buenos Aires, und der conventillo diente als beliebtes Bühnenbild. Da viele Stücke zum lyrischen Musiktheater mit Orchestermusik, Liedern und Tanz gehörten, wurde der Tango tanzende compadrito ein dem Publikum geläufiger Bühnencharakter.

Leider sind viele dieser Stücke verlorengegangen oder nicht erhältlich, sodaß es unmöglich ist, die Entfaltung des Tangos im Detail zu verfolgen. Sicher ist aber, dass einige relevante Stücke sich großer Beliebtheit erfreuten. In den zwei Spielzeiten von 1901-3, in denen eine Inszenierung bei den Podestás im Durchschnitt 16 Mal aufgeführt wurde, gab es zwei Wiederaufnahmen von Ensalada criolla mit insgesamt 64 Aufführungen. Bohemia criolla, 1902 uraufgeführt, feierte 32 Vorstellungen in einer Spielzeit. Fumadas, ein Stück von Enrique Buttaro, in dem Tango zu sehen war, wurde 46 bzw. 36 Mal gespielt.

Das Apolo Theater, das 1901 das Stammtheater der von José Podestá geleiteten Theatergruppe wurde, spielte eine entscheidende Rollen in der Verbreitung des Tangos. Der Sänger Juan Carlos Marambio Catán erinnerte sich in seiner Autobiographie, daß er als Kind seine ersten Tangos im Apolo hörte, als ein Dienstmädchen ihn dort in die Nachmittagsvorstellungen schmuggelte. Die ersten Tangos von Arturo De Bassi, der sich 1903 mit 13 Jahren dem Orchester als Klarinettist anschloss, wurden im Apolo als Pauseneinlagen gespielt, einschließlich seines berühmten El Incendio. Das Orchester war auch eines der ersten, die Tangos auf Schallplatte aufnahmen.

Zur gleichen Zeit, als sich die Podestás als Theaterensemble im Apolo etablierten, erschienen in Buenos Aires die ersten tangos criollos im Druck und wurden als Klavierstücke der Öffentlichkeit zugänglich. So wie sich die argentinischen Theatergruppen das teatro criollo zu eigen machten, so adoptierten nun Komponisten den Tango als „einheimische“ Musikform. In diesem Zeitraum finden wir auch die ersten Belege dafür (daß heißt Belege, die sich dokumentieren lassen), dass Tango von der Theaterbühne in das gesellschaftliche Leben von Buenos Aires vordrang. Sowohl in Bezug auf die Musik als auch auf den Tanz veränderte sich die Wahrnehmung des Tangos. Und die Podestás, denen ein großes Publikum Aufmerksamkeit schenkte, spielten dabei eine entscheidende Rolle.

IV. Enrique Buttaro


Alle sieben Schauspiele von Enrique Buttaro (*1882, Montevideo, UR – 1904) wurden von den Podestás im Apolo aufgeführt. Zwei dieser Stücke, ¡Abajo la careta! und Fumadas, für die Antonio Podestá die Musik komponierte, gehörten zu den erfolgreichsten Komödien der beiden Spielzeiten von 1901-3. Die Handlung der beiden lyrischen sainetes spielt in einem conventillo mit der typischen Bewohnerschaft, die sich aus  criollos und Immigranten zusammensetzt.

¡Abajo la careta! (1902) enthält drei Tanzszenen, die aber keinen Hinweis darauf geben, als Tango konzipiert worden zu sein. Nur der letzte Tanz, das große Finale, wurde im Libretto gekennzeichnet. Es ist eine jota, die im teatro criollo der emblematische Tanz der spanischen Immigranten war. Tango wird nur einmal beiläufig in einem Dialog erwähnt. Figurita, eine männliche Partie, erzählt einem Freund über eine frühere Beziehung zu einer Frau, mit der er Tango tanzte:

Te acordás vos de la china 
...
Aquella, hombre, que tenía
un pelo que le llegaba
más abajo de las corvas
y unos ojazos que el alma
repicaba si los veía...
 
Aquella que envidia daba
cuando yo al compás de un tango,
la cadera le quebraba;
mientras que ella, comadriando
su cara ponía en mi cara.
...
------------------
(Erinnerst du dich an das Mädchen … Die, Mann, deren Haare bis unter die Kniekehlen reichten, und mit großen Augen, so wunderschön, dass die Seele zersprang, wenn du sie ansahst... Die, die Neid ausstrahlte, wenn ich ihr zum Rhythmus eines Tangos die Hüfte beugte, während sie, wie eine comadre, ihre Wange and die meine legte.)

Dieser Bezug auf Tango folgt einem schon bekannten Muster: ein Mann erzählt einem anderen über das sinnliche Erlebnis eines Tanzes. Der Tanz ist Teil eines „Paarungsverhaltens“, das in einem berauschenden Moment kulminiert, in dem der Mann die Frau in eine quebrada führt. (Siehe auch Sorias Justicia criolla, Szene 14.)

In Buttaros Fumadas (1902) wird dagegen wirklich mit corte y quebrada getanzt. Pucho, der Rosa den Hof macht, möchte mit ihr tanzen gehen, aber sie kann nur „modern“ tanzen. Um ihr Tango beizubringen, tanzt Pucho ihr die Tanzschritte allein vor.

PUCHO: ... ¡Ah! Décime: ¿sabes bailar? 
ROSA: ¡Ya lo creo!
PUCHO: Entonces la semana que viene te viá llevar a un baile 
pa que nos calentemos los chifles.
ROSA: Bueno, bueno... 
PUCHO: ¿Sabés meterle de aquí? (Hace un corte).
ROSA: Qué es eso? 
PUCHO: No ves, otaria, que es un quiebro?
ROSA: ¡Ah, no!... Yo bailo a la moda. 

Música

PUCHO: (Mientras baila solo). Poné atención: 
Echale arroz a este guiso. 
Este golpe es pa lo que después te viá a decir. En esta güelta tenés 
que tener cuidao de no caerte. Aquí medio entrecruzás los chifles y 
te venís pa delante... ¡así! 
Y en esta refistolada te preparás pal golpe. ¿Te enteraste? 

(Segunda). 

¡Echale arroz a este guiso!... 
En esta cáida te venís pa un lao y movés... lo que después vas a saber.
Aquí, hacés una media luna... así.
Depués te hacés un ovillo y ponés en juego... (Le habla al oído). ¿Sabés? 
Cuando yo me quiebre así, por ejemplo, vos te preparás pal golpe y 
hacés un firulete... con lo que te dije.
En esta refistolada, te preparás pal golpe, ¿Entendíste?

ROSA: Un poco. 
PUCHO: Bueno; cuando güelva te daré otra lición y entretanto... 
¡mangiá, nena!
(Hace un corte hacia el foro. Rosa por lateral segunda).



------------------

(PUCHO: Sag mir: Kannst du tanzen? 
ROSA: Ich glaube schon!
PUCHO: Dann werde ich dich nächste Woche zu einem Tanz ausführen,
damit wir uns die Läufe aufwärmen können.
ROSA: So, so ...
PUCHO: Weißt du, wie du da hineinkommst? [Er posiert einen „corte”.]
ROSA: Was ist das?
PUCHO: Dummkopf, siehst du nicht, das es eine Beugung [quiebro] ist?
ROSA: Ach, nein! Ich tanze modern.

Musik.

PUCHO: [Während er alleine tanzt.] Pass auf:

Schütt' Reis in den Eintopf!...
Dieser Trick ist für das, was ich dir später sagen werden. In dieser Drehung 
musst du aufpassen, dass du nicht hinfällst. Hier wirst du deine Beine halb 
überkreuzen und vorwärts gehen... Nämlich so!
Und mit diesem Dreh bereitest du dich für den Trick vor. 
Hast du verstanden?

[Zweite Strophe]

Schütt' Reis in den Eintopf!...
Bei diesem Fall [caída] kommst du zur einen Seite und bewegst dich... 
was du dann sehen wirst. Hier machst du eine media luna... Nämlich so! 
Dann machst du ein Knäuel (ovillo) und bringst dich ins Spiel... 
[Er spricht ihr ins Ohr.] Weißt du, wenn ich eine Beugung [me quiebre] mache, 
zum Beispiel so, dann bereitest du dich auf den Trick vor und machst eine 
Verzierung [firulete]... wie ich es dir gesagt habe.
Und mit diesem Dreh bereitest du dich für den Trick vor. 
Hast du verstanden?

ROSA: Ein bisschen.
PUCHO: Gut. Wenn ich wiederkomme, gebe ich dir noch eine Stunde, 
und bis dahin... Iss, Kleine!
[Er markiert einen “corte” zum Publikum. Rosa zum zweiten Flügel links raus.])


Diese Tanzszene folgt einem weiteren Muster, nämlich der Tango-Vorführung: ein Mann markiert die Tanzschritte, um sie einem Freund oder einer Tanzpartnerin zu zeigen oder beizubringen. Man muss dazu anmerken, dass Nachahmungen dieser Art, die zu Übertreibungen geradezu einladen, zu den Kunstgriffen von Slapstick-Komödien gehören. Pablo Podestá, der die Rolle in der ersten Inszenierung des Stückes spielte, machte sich als Pucho einen Namen als komischer Schauspieler.

Das Wort „Tango“ wird in Fumadas ebensowenig erwähnt wie in De Marías Schauspielen. Die Darstellung des Tanzes ist aber in diesem Text wesentlich technischer. Worte des früheren Tango-Vokabulars wie „corte”, „quebrada”, oder „firulete” wurden in einem allgemeineren, nicht unbedingt Tango-spezifischem, Sinn gebraucht. (Man beachte, dass auch in diesem Text „corte” und „quiebro” [quebrada] auf die gleiche Tanzbewegung angewendet werden.) Hier finden wir aber auch Begriffe wie „media luna”, „ovillo“, „caída”, eine Aufforderung zum Überkreuzen der Beine, usw. Daraus läßt sich schließen, dass der Tanz konkreter geworden ist. Es handelt sich nicht mehr um einen Tanzstil mit corte y quebrada, sondern um einen Tanz mit bestimmten Schrittfolgen und Posen, der bald durchgehend bei seinem Namen genannt werden wird: Tango.

V. Tango Reklame


1903 veröffentlichte der Journalist José Ciriaco Álvarez (*1858, Gualeguaychú) unter dem Pseudonym „Sargento Pita” (Wachtmeister Pfeift) einen Artikel mit dem Titel El tango criollo. Dieser Artikel ist eines der wichtigsten Dokumente in der Geschichte des argentinischen Tangos, denn es ist der erste ganzseitige Pressekommentar, der sich dem Tanz widmet und verlauten läßt, dass Tango criollo Wurzeln hat und in Buenos Aires entstand. Der Artikel erschien als Folge einer Kolumne in der Illustrierten Caras y caretas, in der Álvarez/„Sargento Pita” über eine Vielzahl aktueller Themen hinsichtlich Buenos Aires berichtete.


2. „Photographische Spaziergänge durch die Stadtgemeinde“: Der Tango Criollo

Álvarez' Artikel ist für uns interessant, weil er den tango criollo mit den Podestás in Verbindung bringt. Tango wird mit einem unverständlichen Hinweis auf die Zeit von Mitre und Alsina (d.h. den 1860iger Jahren) als eine Sache vergangener Tage präsentiert. In alten Zeiten, so liest man, wurde er in den Randgebieten von Buenos Aires vom compadrito und dessen Gefährtin, der „comadrita mit dem Dolch im Strumpfband“, mit corte y quebrada getanzt. Zur Zeit der Veröffentlichung des Artikels wurde Tango—Álvarez zu Folge—nur noch auf „dem Trottoir der conventillos von einigen armseligen Paaren gelangweilter Faulenzer“ als „Zeitvertreib müßiger Kumpane auf offener Straße“ zum Klang des Leierkastens ausgeübt. Die klassischen Tango-Tänzer, betont Álvarez, wären verschwunden, aber die Erinnerung an den Tango wurde von den Podestás aufbewahrt und wachgehalten.

Die Beschreibung des Tangos in diesem Text ist problematisch und hat Wissenschaftlern zu denken gegeben. Sie ist in sich widersprüchlich und stellt historische Behauptungen auf, die, einfach gesagt, keinen Sinn ergeben. (Für eine Übersetzung des Texts siehe Tango im Theater) Tatsächlich spiegeln sich in den Behauptungen nur die Darstellungen der Einwohner der Unterklasse von Buenos Aires wieder, die sich im Theater zur Konvention entwickelt hatte: der compadrito , die „comadrita mit dem Dolch im Strumpfband“, der conventillo und Männer, die mit Männern tanzen. Es ist daher naheliegend, dass Álvarez' Darstellung des vergangenen und aktuellen Tangos geradewegs dem Theater entsprang, insbesondere der Inszenierungen der Podestás. Der Artikel sollte deshalb nicht als sachbezogene Äußerung zur Geschichte des Tangos interpretiert werden. Von entscheidender Bedeutung ist nicht der Text, sondern die Photographien, die abgebildet wurden.

Zeitschriften, illustriert mit Photographien wie Caras y caretas, waren 1903 noch eine Neuheit. Der Titel der Kolumne, in der der Artikel erschien, „Photographische Spaziergänge durch die Stadtgemeinde“, weist auf den Vorrang der Bilder hin. Die Kolumne berichteten über eine Vielzahl von Themen, auf die Álvarez aufmerksam machen wollte (daher das Pseudonym „Wachtmeister Pfeift“): die schlechten Zustände von Straßen, Unfälle, Straßenhändler, Bettler, Betrunkene, usw. Auf Grund der Vielzahl der Themen ist anzunehmen, dass die Texte erst nach der Entstehung der jeweils verfügbaren Photoserien abgefasst wurden.

Diese Anschauung wird durch ein weitere Photoserie unterstützt, die sechs Monate später in Caras y caretas erschien. Die Aufnahmen, die einen Mann und eine Frau beim Tanzen zeigen, illustrieren die Klavier-Partitur eines tango criollo von Miguel Tornquist, El Maco


3. “Tango Criollo”, El Maco von Miguel Tornquist

Die beiden Serien mit Tango-Tänzern (Abbildungen 2 und 3) gehören offensichtlich zusammen: der „Führende“ ist in beiden Bildfolgen derselbe. Er trägt die gleiche Kleidung, und Licht und Schatten in den Bildern deuten darauf hin, dass sie am gleich Ort und zur gleichen Zeit aufgenommen wurden.

Die Thematik des tango criollo als Photoserie ist ein eigenartiger Beitrag zur „Sargento Pita“ Kolumne, die sonst auf alltägliche Probleme in Buenos Aires aufmerksam machte—es sei denn, man möchte glauben, dass Tango-tanzende Männer damals in Buenos Aires eine öffentliche Belästigung darstellten. Álvarez behauptet aber, dass die abgebildeten Szenen eine Sache der Vergangenheit wären, dessen Erinnerung in den Inszenierungen der Podestás wachgehalten wurde. Außerdem: Warum tanzten die beiden Männer am helllichten Tage in einer menschenleeren Straße, noch dazu ohne Musik?

Zur damaligen Zeit arbeiteten Photographen mit sperrigen Apparaten und großformatigen Negativplatten. Um eine Aufnahme zu machen, musste man die Kamera in Stellung bringen und für jedes Bild eine Negativplatte einschieben. Die Bilder wurden bevorzugt bei hellem Tageslicht aufgenommen, da es die Aufnahme und die Entwicklung der Photos erleichterte. Die abgedruckten Bilder zeigen, dass der „Führende“ mit nur einer Ausnahme immer auf die Kamera ausgerichtet ist. (Der Ausnahmefall zeigt die Rückenansicht einer anderen Aufnahme. Siehe Abbildung 5 unten.) Dazu trägt er dunkle Kleidung, die einen guten Kontrast zum Hintergrund und den anderen Tänzern bietet. Diese Beachtung von Details legt nahe, dass es sich bei den Bildern um sorgfältig gestellte Photographien handelt.

Vier der fünf Photos aus der „Sargento Pita”-Serie wurden mit der gleichen Kameraperspektive aufgenommen. Weder die Position der Tänzer, noch die der Kamera wurde verändert, sodass die Ausrichtung von Kamera und Objekt immer einander zugewandt ist. Wir folgern daraus, dass die Tänzer nicht tanzten, sonder für die Kamera posierten.


4. Tango criollo Tanzposen

Das gleiche gilt auch für die andere Serie von Tanz-Photographien. Wichtig im Vergleich der beiden Serien ist, dass es Übereinstimmungen in den Posen gibt. Drei dieser Posen erscheinen in beiden Serien.

5. Vergleichbare Tango-Posen

Was für Posen abgebildet sind, oder ob sie Namen haben, wird in den Artikeln nicht erwähnt. Die Bildlegenden sind lunfardo Ausdrücke, die sich des Tanzvokabulars bedienen. Aber anstatt die Bilder zu erläutern, sind es Redewendungen und Wortspiele, die die Leser amüsieren sollen. Zum Beispiel:

„Eine alte Axt ist nutzlos. Hier ist eine Schere für einen Schnitt (corte).

„Warum willst du 'Es werde Licht', wenn deine Mutter im Dunkeln sieht?“ („Es werde Licht“ war angeblich eine Anweisung an Tanzpaare, eine schickliche Distanz zueinander einzuhalten.)

„Auf Grund so eines Stopps (parada) fing mein Onkel an zu schielen.“

„Ständig kräht der Hahn, aber es gibt keine Gehörlosen, die ihn hören.“, usw.

Die obige Bildfolge läßt darauf schließen, dass die Posen zu einer Tango-Choreographie gehörten, mit der die Tänzer vertraut waren. Analog zur „technischen“ Tanzstunden in Buttaros Fumadas zeigen auch diese Bilder, dass Tango kein Tanzstil mit corte y quebrada mehr ist, sondern ein ausgeprägter Tanz.

Der Tänzer in der dunklen Jacke, der in beiden Bildsequenzen als „Führender“ zu sehen ist, könnte Arturo de Navas sein. (Siehe „El viejo tango que nació en el arrabal”, Teil 1.) Zur Zeit als die Podestás im Apolo auftraten und die Photographien aufgenommen wurden, war de Navas Mitglied des Ensembles. In der ersten Inszenierung von Justicia criolla in 1897 spielte de Navas den Gitarristen und stand während der Tango-Tanzszene auf der Bühne—und tanzte höchstwahrscheinlich mit. Es gibt daher gute Gründe anzunehmen, dass de Navas in den Photos abgebildet ist, aber wir haben bisher keinen Nachweis finden können, der es sicher belegt. Der Umstand aber, dass Álvarez in seinem Artikel so betont auf die Podestás und deren „Bewahrung“ des tango criollo hinweist, führt uns zu dem Schluß, dass es sich bei den Bildern, wenn nicht um de Navas selbst, so doch zumindest um Schauspieler aus dem Podestá Ensemble handelt.

VI. Tango breitet sich aus


Unser Versuch, die Entwicklung des Tangos als eigenständigen Tanz nachzuverfolgen, hat einen Zeitpunkt erreicht (um 1903), in der die Idee, dass der tango criollo in Buenos Aires beheimatet sei, im Allgemeinwissen Fuß gefasst hatte. Was wir aber dokumentiert haben ist nicht die Entwicklung des Tanzes, sondern die Entfaltung einer schauspielerischen Tradition der Darstellung. Tango, mit corte y quebrada tanzen, war komödiantische Schauspielerei, eine Parodie des „korrekten“ Tanzens. Gleichwohl, irgendwann begannen normale Menschen zum Vergnügen tango criollo zu tanzen. Wann geschah das?

1904, nur kurz nachdem die Photoserien über den Tango veröffentlicht wurden, zeigen sich die ersten Spuren einer Tanztradition, in der Tango in Buenos Aires für Jahrzehnte eine wichtige Rolle spielen sollte: die Karnevalsbälle. In einem Bericht über die Tanzfeste in den Theatern lesen wir:


Entre los teatros populares, ha sido el Argentino el más favorecido por el elemento criollo. Allí el tango con «corte y quebrada» ha sido el predominante, notándose algunas parejas verdaderamente notables que arrancaron entusiastas aplausos al público de los palcos.

(Von den populären Theatern bevorzugten die criollos das [Teatro] Argentino. Dort überwiegte der Tango mit „corte y quebrada“, und es fielen einige wirklich beachtenswerte Paare auf, die stürmischen Applaus im Publikum der Logen auslösten.)


Dem Artikel zufolge wurde Tango in mehreren Theatern getanzt. Dies ist eine überraschende Aussage. Unserer Einschätzung nach ist es die früheste Erwähnung einer öffentlichen Veranstaltung in Buenos Aires, in der Tango als Gesellschaftstanz getanzt wurde. Nur ein Jahr früher wies Álvarez—sicherlich mit Ironie—Tango geringschätzend als Zeitvertreib „gelangweilter Faulenzer“ ab. Nun, 1904, wird Tango mit Orchesterbegleitung auf einem öffentlichen Ball von versierten Tänzern vor einem verständnisvollen Publikum getanzt.

Im folgenden Jahr, 1905, hatte sich der Enthusiasmus für Tango sogar noch gesteigert. In einem Rückblick auf die Karnevalstänze in Caras y caretas dieses Jahres heißt es:

Los tangos populares, con corte y quebrada, hicieron furor entre los bailarines, descollando en el Victoria por sus habilidades coreográficas una vieja que lo hacía a las mil maravillas, lo que demuestra que hasta en el tango es cierto el dicho de Martín Fierro: «El diablo sabe por diablo, pero más sabe por viejo»
...
En los programas de todos los teatros predominaron los tangos, los que, como el teatro nacional, están de moda...


(Für die Tänzer waren die populären Tangos mit „corte y quebrada“ der letzte Schrei. Eine alte Frau, die ihn fabelhaft tanzte, stach im Victoria hervor. Daran zeigt sich, wie sich das Sprichwort des Martín Fierro selbst beim Tango bewahrheitet: „Der Teufel weiss, weil er der Teufel ist, aber er weiss mehr, weil er alt ist.“
In den Programmen aller Theater dominierten die Tangos, der, wie das nationale Theater, in Mode ist...)

Der letzte Satz des Ausschnitts unterstreicht den wichtigsten Punkt unseres Argumentes, nämlich die untrennbare Verbindung des teatro criollo (d.h. des „nationalen Theaters“) und des tango criollo. Aber da ist mehr: In der gleichen Ausgabe von Caras y caretas wurde Ein modischer Tanz in einem ganz-seitigen Artikel beschrieben:


6. “Ein modischer Tanz” im Victoria Theater

Der Artikel enthält einen Text von Goyo Cuello, einem Redakteur für Theater und Musik, und fünf Photographien, die im Victoria Theater, vermutlich während Karnevalstänze, aufgenommen wurden.

Baile de Moda 
Llegado el carnaval, el tango se hace dueño y señor de todos los programas de baile, y la razón es, que siendo el baile más libertino, sólo en estos días de locura puede tolerarse. No hay teatro donde no se anuncien tangos nuevos, lo que es un gran aliciente para la clientela de bailarines que deseosa de lucirse con las compadradas y firuletes á que da lugar tan lasciva danza, concurre á ellos como moscas á la miel. 
Como espectáculo es algo original; en el Victoria, sobre todo, es donde tiene que admirar más...


(Ein modischer Tanz  
Mit der Ankunft des Karnevals wird Tango der Herr und Meister all Tanzprogramme. Der Grund: er ist der zügelloseste Tanz, den man nur in diesen Tagen der Narrheit billigen kann. Es gibt kein Theater, das nicht neue Tangos anpreist. Wie Honig für Fliegen sind sie ein großer Anreiz für ein Tanzpublikum, das sich mit der Frechheit und Übertriebenheit, zu der dieser laszive Tanz einlädt, auszeichnen möchte. 
Als Darbietung hat er etwas Originelles; insbesondere im Victoria muss man ihn bewundern...)

Mit dieser Einleitung ist die Verbindung zwischen dem Text, den Photographien und der vorangegangenen Reportage über die Karnevalstänze (siehe oben) hergestellt. Die übrige Beschreibung des Tanzes und der Veranstaltung stehen aber in starkem Kontrast zu den abgebildeten Photographien:

… La sala llena de gente alegre, por todas partes se oyen frases capaces de enrojecer el casco de un vigilante. En el fondo el malevaje de los suburbios con disfraces improvisados, en los palcos mozos bien y muchachas más bien todavía. De pronto, arranca la orquesta con un tango, y empiezan á formarse las parejas. El chinerío y el compadraje se unen en fraternal abrazo, y da principio la danza, en la que los bailarines ponen un arte tal, que es imposible describir las contorsiones, cuerpeadas, desplantes y taconeos á que da lugar el tango.

(… Der Saal ist voll mit fröhlichen Leuten, und von überall hört man Phrasen, die den Helm eines Polizisten erröten ließen. Im Hintergrund die Gauner der Vororte in improvisierten Kostümen, in den Logen die schicken Jungs und die noch schickeren Mädels. Plötzlich beginnt das Orchester mit einem Tango und die Paare fangen an, sich aufzustellen. Chinas und compadres umschließen sich in brüderlicher Umarmung. Und es beginnt der Tanz, in den die Tänzer eine derartige Kunstfertigkeit an den Tag legen, dass es unmöglich ist, die Verrenkungen, Flexionen, Beugungen und Stampfen zu beschreiben, zu denen der Tango Anlass gibt.)

Anstatt der „Gauner der Vororte in improvisierten Kostümen“, die sich beim Tango tanzen durch „Verrenkungen, Flexionen, Beugungen und Stampfen“ auszeichnen, sieht man in den Photographien eher gut gekleidete Paare, die in einwandfreier Haltung tanzen.


7. Tango-tanzenden „Gauner”?

War Goyo Cuello selbst auf dem Ball im Victoria anwesend? Wir glauben nicht. Seine Beschreibung der Veranstaltung ähnelt einer Szene aus dem teatro criollo mehr als einem Augenzeugenbericht. Der Text strotzt vor Klischees: die „Gauner“, die sich im Hintergrund halten (als hätten sie etwas zu verbergen); Söhne reicher Eltern und Frauen zweifelhaften Rufes in den Logen; Tango-Tänzer sind compadres und chinas aus den armen Vorstädten. Ebenso wird Tango als ein „zügelloser“ und „lasziver“ Tanz mit „wollüstig wiegenden Bewegungen“ bezeichnet. Diese Begriffe entstammen einem Vokabular, das nicht nur speziell auf Tango angewendet wurde, sondern allgemein zur Charakterisierung des Tanzens von Menschen der unteren sozialen Klassen herangezogen wurde. Anstatt einer wirklichen Tanzveranstaltung spiegelt sich in Cuellos Text die Darstellungsweise des Tangos im teatro criollo. So wie in Álvarez' Beitrag über den Tango criollo sind es auch in diesem Artikel die Photographien, die von Bedeutung sind. Der Text erläutert nicht die Bilder, sondern gibt Klischees wieder, die sich auf den Tanz beziehen, aber nichts mit der abgebildeten Veranstaltung zu tun haben.

Wir bezweifeln aber nicht, dass die Paare in den Photos Tango tanzen. Ein Vergleich der Photoserien in den Artikeln von Álvarez und Cuello läßt Übereinstimmungen in den Tanzposen erkennen. Man beachte die gekreuzten Beine der „Führenden“ in den folgenden Bildern.


8. Tango Tanzposen: gekreuzte Beine der „Führenden“

Die nächste Bildfolge zeigt vermutlich einen der „skandalösen“ Schritte des Tanzens „con corte”, der „meter pierna” (das Bein hineinschieben) genannt wurde.


9. Tango Tanzposen: “meter pierna



Unsere Dokumentierung der Entwicklung des Tangos im teatro criollo der 1890iger Jahre bis zu den Karnevalsberichte in Caras y caretas von 1905 verdeutlicht die entscheidende Verbindung zwischen Theater und Tango. Der erste Hinweis auf Tango als ein criollo Tanz kommt aus dem Theater (1897, Justicia criolla). Der erste Nachweis, dass Tangos als Gesellschaftstanz von criollos getanzt wurde, kommt auch aus dem Theater (1904, die Karnevalstänze im Victoria). Bis zum darauffolgenden Jahr (1905) hatte sich Tango zum modischen Tanz der Karnevalsbälle, dem Höhepunkt der jährlichen Tanzsaison, entwickelt. Der Zeitraum von 1897 bis 1905 umfasst den Aufstieg des teatro criollo von den Anfängen bis zu dessen großer Popularität. In dieses Zeitfenster können wir ebenso die Entwicklung des argentinischen Tangos von einem Stil des Tanzens mit „corte y quebrada” zum eigenständigen Gesellschaftstanz verorten.







© 2020 Wolfgang Freis

Saturday, June 27, 2020

“El viejo tango que nació en el arrabal”. Or, Debunking the myth of the lowly birth of tango, Part 2.1






Abstract: This section sheds further light on the origins of Argentine tango, focusing on the dance, by analyzing the available sources from the turn of the 20th century. The author argues that the dance, rather than rising out of the lowly streets of Buenos Aires, was in fact born on the Argentinian theater stage, as part of the same process which saw Spanish plays, companies, and dances replaced by local ones in the plays of the teatro criollo. The available magazine articles on the topic, with their revealing photographic material, point to the fact that stage actors were portrayed and presented as the compadritos and comadritas of a legendary past, as if they were real Buenos Aires street characters, while in reality, those characters were stage personas of the teatro criollo. It was thanks to these theatrical characters and performances that tango became disseminated among the general public in Buenos Aires.
The theater was not only the place where tango could be seen by a broad audience,  it was also the site where the public could dance it as a ball room dance during the carnival festivities. The press coverage of the carnival dances of 1904-5 bespeak tango's popularity as a fashionable dance. Furthermore, photographic records suggest that tango had developed from a comedy act to a discrete ballroom dance.



IV.3 The Podestás and the Apolo Theater


By the time De María's Bohemia criolla was first performed, the Podestá brothers had become a fixture among theater companies in Buenos Aires. Their move from the circus arena to the theater stage at the end of the 19th century portended to significant changes in the theater scene of the city. It signified the end of the hegemony of Spanish theater companies in the teatro criollo. The Podestás claimed the teatro criollo as their own. José Podestá (*1858, Montevideo, UR) quickly entered into public controversy via the press, claiming that the only “means to preserve the true character and the true flavor” of “original works by criollo or resident writers“ was an interpretation by Argentinian actors.

1. The “Capos” of the Podestá Family: Antonio, Jerónimo, José, and Pablo

The Podestás were remarkably enterprising, if one can judge by the number of plays they performed. Within the first decade of the 20th century, the various theater companies that the Podestá brothers formed together, separately, or jointly with other troupes, staged hundreds of plays. Many of these were set in urban Buenos Aires. The conventillo provided a popular scenery and—since many plays were lyrical music theater with orchestra music, song, and dance—the tango-dancing compadrito became a common character on stage. 

Unfortunately, many of the plays are lost or unavailable, so that it is impossible to trace the proliferation of tango in detail. It is certain, however, that some of the relevant plays were very successful. During the two theater seasons spanning 1901-3, for example, when a play produced by the Podestás had a run of 16 performances on average, Ensalada criolla was shown 64 times in two revivals, and Bohemia criolla was given 32 times after it premiered in 1902. Another play in which dancing tango made an appearance, Fumadas by Enrique Buttaro, was played 46 and 36 times, respectively.

The Apolo theater, which in 1901 became the home theater of the company managed by José Podestá, played an important role in the proliferation of tango. In his autobiography, the tango singer Juan Carlos Marambio Catán remembered that he heard his first tangos as a child when a maid smuggled him into the afternoon shows at the Apolo. Arturo De Bassi, after joining the Apolo theater orchestra as a clarinetist at age 13, in 1903, had his first tangos performed at the Apolo during intermissions, including his celebrated El Incendio of 1906. The orchestra was also also among the first in Buenos Aires to record tangos on disk. 

At the same time as the Podestás established their theater company at the Apolo, the first tangos criollos were printed in Buenos Aires and offered as piano scores to the general public. Just as Argentinian theater companies had made the teatro criollo their own, so composers now seized upon tango as a ”native” music form. During this period we also find the first evidence—evidence, that is, that can be documented—of tango making inroads from the theater stage into the social life of the city. Both in terms of the music and the dance, the perception of tango was changing. And the Podestás were right in the thick of it due to their exposure to the large audience that frequented the Apolo.

IV.4 Enrique Buttaro


All seven plays of Enrique Buttaro (*1882, Montevideo, UR – 1904) were performed by the Podestás at the Apolo theater. Two of them, ¡Abajo la careta! and Fumadas, with music composed by Antonio Podestá, were very successful comedies given repeatedly during the two seasons spanning 1901-3. Both pieces are lyrical sainetes set in conventillos, with their typical population of criollos and immigrants.

¡Abajo la careta! (1902) contains three dancing scenes, none of which gives an indication of being a tango. Only the last dance, the grand finale, is identified in the libretto. It is a jota, the emblematic dance of Spanish immigrants in the teatro criollo. Tango is only mentioned incidentally in a dialogue. One of the male characters, Figurita, tells a friend about a past relationship with a woman he used to dance tango with:

Te acordás vos de la china 
...
Aquella, hombre, que tenía
un pelo que le llegaba
más abajo de las corvas
y unos ojazos que el alma
repicaba si los veía...
 
Aquella que envidia daba
cuando yo al compás de un tango,
la cadera le quebraba;
mientras que ella, comadriando
su cara ponía en mi cara.
...

(Do you remember that girl
...
The one, man, whose hair
reached down 
to her knees,
and such eyes that struck your soul
when you saw them …

She that inspired envy
when I, to the cadence of a tango,
bent her hip, 
while she, comadriando [assuming a comadre's attitude],
leaned her cheek against mine.
...)

This reference to tango follows an already familiar pattern: one man telling another about the sensual experience of a dance. The dance is part of a “courtship ritual” that culminates in the rapturous moment when the man leads the woman into a quebrada. (See Soria's Justicia criolla, scene 14.)

Buttaro's Fumadas (1902) contains an actual dance with corte y quebrada. In the scene, a male character, Pucho, wants to take his girlfriend, Rosa, to a dance, but she can only dance “in style”. As the libretto indicates, Pucho dances alone to teach his tango moves to Rosa.

PUCHO: ... ¡Ah! Décime: ¿sabes bailar? 
ROSA: ¡Ya lo creo!
PUCHO: Entonces la semana que viene te viá llevar a un baile pa que 
nos calentemos los chifles.
ROSA: Bueno, bueno... 
PUCHO: ¿Sabés meterle de aquí? (Hace un corte).
ROSA: Qué es eso? 
PUCHO: No ves, otaria, que es un quiebro?
ROSA: ¡Ah, no!... Yo bailo a la moda. 

Música

PUCHO: (Mientras baila solo). Poné atención: 
Echale arroz a este guiso. 
Este golpe es pa lo que después te viá a decir. En esta güelta tenés 
que tener cuidao de no caerte.
Aquí medio entrecruzás los chifles y te venís pa delante... ¡así! 
Y en esta refistolada te preparás pal golpe. ¿Te enteraste? 

(Segunda). 

¡Echale arroz a este guiso!... 
En esta cáida te venís pa un lao y movés... lo que después vas a saber.
Aquí, hacés una media luna... así.
Depués te hacés un ovillo y ponés en juego... (Le habla al oído).
¿Sabés? Cuando yo me quiebre así, 
por ejemplo, vos te preparás pal golpe y hacés un firulete... con lo que te dije.
En esta refistolada, te preparás pal golpe, ¿Entendíste?

ROSA: Un poco. 
PUCHO: Bueno; cuando güelva te daré otra lición y entretanto... ¡mangiá, nena!
(Hace un corte hacia el foro. Rosa por lateral segunda).

[
PUCHO: Tell me: Do you know how to dance? 
ROSA: Sure I do!
PUCHO: Then I am going to take you to a dance next week
so that we may warm up our legs.
ROSA: Well, well...
PUCHO: Do you know how to get into this? (He poses a “corte”.)
ROSA: What is that?
PUCHO: Bumpkin, don't you see that it's a break (quiebro)?
ROSA: Ah, no! I dance in style.

Music.

PUCHO: (While he is dancing alone.) Pay attention:

Add rice to the stew!...
This clincher is what I am going to tell you later. In this turn 
you must watch out not to fall. Here you will half cross your legs
and move forward... Like this! 
And with this show move, you'll get ready for the clincher. 
Did you understand?

(Second)

Add rice to the stew!...
In this drop (caída) you come to one side and move... 
which you will know later. Here, you make a media luna... 
Like this! Then you move into a bundle (ovillo) 
and put yourself into the game... 
(He speaks into her ear.) You know, when I do a break (quiebre) 
like this, for example, you'll get ready for the clincher 
and make an adornment (firulete)... like I have told you.
And with this show move, you'll get ready for the clincher. 
Did you understand?

ROSA: A little bit.
PUCHO: Well, when you come back I'll give you another lesson, 
and in the meantime... Eat, baby!
(He poses a “corte” towards the audience. 
Rosa out to second wing left.)
]

This dancing scene follows another common pattern, the “tango demonstration”: a male dancer pantomimes the moves to show or teach them to a friend. It must be noticed that this kind of mimicry, which downright invites exaggeration, is typical of physical comedy. Pablo Podestá, who played Pucho the first time the sainete was given, established himself as a comic actor with this role.

Just as in De María's plays, in Fumadas the word “tango” is not even mentioned. Nevertheless, the presentation of the dance in this text has become considerably more technical. Words of the earlier tango vocabulary like “corte”, “quebrada”, or “firulete” seem to have been employed as general, not necessarily tango-specific terms. (Note that in this text, too, “corte” and “quiebro” [quebrada] are used to refer to the same dance move.) Here we also find “media luna”, “ovillo“ and “caída”, and instructions to “cross the legs”, etc. This demonstrates that the dance is becoming concrete: it is no longer a style of dancing with corte y quebrada but it is developing into a dance with specific choreographed movements—soon to be called consistently by its name: tango.

V. Tango Publicity


In 1903 the journalist José Ciriaco Álvarez (*1858, Gualeguaychú) published an article entitled El tango criollo under the pseudonym “Sargento Pita” (Sergeant Whistles). This article is one of the most important documents on Argentine tango: it is the first ever full-page commentary dedicated to the dance, claiming that it had criollo roots and that it was born in Buenos Aires. The essay appeared as an installment of a regular column of Caras y caretas, in which Álvarez/“Sargento Pita” reported on a variety of issues concerning Buenos Aires. 

2. “Photographic Strolls Through the Municipality: The Tango Criollo

Álvarez' article is interesting to us as it establishes a connection between tango criollo and the Podestás. Through a cryptic reference to the days of Mitre and Alsina (1860s), tango is presented as a matter of bygone times. In the past, so it says, it was danced in the outskirts of Buenos Aires with corte and quebrada by the compadrito and his companion, the “comadrita with the dagger in the garter”. At the time the article was published, according to Álvarez, tango was only “practiced on the sidewalk of conventillos by some miserable couples of bored loafers” as a “street entertainment among idle fellows at nightfall” to the sound of the barrel organ. The traditional dancers, he points out, have disappeared, but the memory of tango has been “saved and preserved” by the Podestás.

The assertions made about tango in the text are problematic and have left scholars befuddled. They are contradictory in themselves and make historical claims that, simply speaking, make no sense at all. (For a full translation of the article, see Tango in the Theater.) In fact, these assertions do nothing but describe the conventional representation given of Buenos Aires's lower-class inhabitants on the theater stage: the compadrito and “comadrita with the dagger in the garter”; the conventillo; men dancing with men. It stands to reason, therefore, that Álvarez' description of tango past and present comes straight from the theater; in particular, from the Podestás. We suggest, therefore, that the content of the article should not be taken as a factual statement on the history of tango. Important are the photographs that were printed with the article.

Magazines illustrated with photographs—like Caras y caretas, from which the article is taken—were still a novelty in 1903. The title of the column, “Photographic Strolls Through the Municipality”, suggests that it was the pictures that mattered most. The articles informed on a variety of issues to which the Álvarez wanted to call attention: from streets in poor condition, to accidents, street vendors, beggars, drunkards, etc. (hence the pseudonym “Sargent Whistles”). As the articles were not always dedicated to same topic, the text seems to have been written to accompany whatever photos were available for a particular issue of the magazine.

This notion is supported by another set of photographs that was published six months later, also in Caras y caretas. Showing a man and a woman dancing, the pictures illustrate a piano score of the tango criollo El Maco by Miguel Tornquist.

3. “Tango Criollo”, El Maco by Miguel Tornquist

The two series of tango dancers (illustrations 2 and 3) obviously belong together: one of them, the “leader”, appears in both series and is wearing the same clothes. Light and shadows in the pictures indicate that both sets were shot at the same location and time.

As a subject matter, the tango criollo photographs are an odd addition to the “Sargento Pita” column, as it usually focussed on the problems of everyday life in Buenos Aires, unless one wants to believe that men dancing tango were a public nuisance in Buenos Aires at the time. But, Álvarez wrote that those scenes were a thing of the past, something whose memory was kept alive by the Podestàs' shows. In addition, why would these two men dance in broad daylight in a deserted street, obviously without music? 

Moreover, at the time, photographers worked with bulky cameras and large-format sheet film. Taking a picture involved setting up the camera and inserting a film cassette for every image. The images were taken in broad daylight, thus, making the photographs easier to take and process. If we look at the photographs, we can see that, with only one exception, the “leader” of the couple is always facing the camera. (In this exceptional case, a companion shot is included so that the couple is shown in the same dance pose with a front and back view. See illustration 5 below.) He is wearing darker clothes to contrast against the background and the clothing of the other dancer. This attention to detail suggests that the pictures were carefully staged photographs.

Four of the five photos of the “Sargento Pita” series were taken from the same camera position. Camera and dancers remained in the same spot while maintaining the same orientation towards each other. Hence, the two men actually were not dancing but posing in front of the camera as if they were dancing.

4. Tango criollo dance poses

The same is true of the other dance picture series. The fact that the dancers are striking poses is significant. Three of the dance positions are repeated in both sets of photographs.

5. Common tango poses

What these positions are, if they had names, has not been conveyed in either publication. The captions are lunfardophrases, some of which draw on dance vocabulary. In fact, rather than elucidating the pictures, the texts are probably just plays on words intended to perplex and amuse the reader. For example:

“An old axe is useless. For the cut (corte), here are the scissors.”
“Why do you want to 'let there be light' if your mom sees in the dark?” (“Let there be light!” was a directive to dancers to keep a proper distance to each other.)
“Because of a stop (parada) like this one, my uncle stayed cross-eyed.”
“The rooster crows forever but there are no deaf to hear it.”, etc.

The picture sequence above suggests that the poses were part of a tango choreography that the dancers were familiar with. Analog to the “technical” dance lesson in Buttaro's play Fumadas, the photographs evince that tango has developed from a style of dancing with corte y quebrada to a distinct dance.

The dancer in the dark jacket, who appears as the “leader” in both series, might be Arturo de Navas. (See “El viejo tango que nació en el arrabal”. Or, Debunking the myth of the lowly birth of tango, Part 1) When the Podestás performed at the Apolo theater (at the time the photographs were taken), de Navas was a member of the company. In the first production of Justicia criolla, back in 1897, he played the guitarist and was on stage during the tango scene—and most likely participated in the dance. It seems reasonable, therefore, that the photos show de Navas, but we have not found a reliable source that identifies him. At any rate, the fact that Álvarez' article puts such an emphasis on the Podestás and their “preservation” of the tango criollo (and for no apparent reason except perhaps because the photos show members of the Podestás' company) leads us to believe that the dancers shown were indeed actors of that company.

VI. Tango Spreads beyond the Theater Stage


Our attempt to trace the emergence of Argentine tango as an independent dance has reached a point in time, around 1903, where the idea of tango criollo being native to Buenos Aires had taken root in the public awareness. For all that, what we have documented is not the development of the dance but the unfolding of a theatrical tradition of representation. Tango, dancing with corte y quebrada, was a comical act, a parody of a “proper” dance. Nevertheless, at some point ordinary people started to dance tango criollo for personal enjoyment. When did this happen?

In 1904, not long after the photograph series of tango criollo had been published, we find evidence of an emerging tango dance tradition: at the carnival dances. In a report on the dance festivities at he theirs of Buenos Aires we read,


Entre los teatros populares, ha sido el Argentino el más favorecido por el elemento criollo. Allí el tango con «corte y quebrada» ha sido el predominante, notándose algunas parejas verdaderamente notables que arrancaron entusiastas aplausos al público de los palcos.

(Among the popular theaters the [Teatro] Argentino was the most favored by criollos. Tango with “corte y quebrada” was the prevailing dance there, with some truly remarkable couples showing themselves who drew enthusiastic applauses from the spectators in the boxes.)


According to the article, tango was danced at several theaters. This is a surprising piece of information. In any case, to our knowledge, this is the earliest reference to tango being danced as a ballroom dance at a formal public event in Buenos Aires. Just a year earlier, Álvarez had brushed off the tango criollo (surely tongue-in-cheek) as a street entertainment of “idle loafers”. Here and now, at a public ball in 1904, it is danced by accomplished dancers, to music arranged for orchestras, and in front of an appreciative audience.

In the following year, 1905, the enthusiasm for tango at the carnival dances seems to have even increased. A review of the carnival dances in Caras y caretas observed:


Los tangos populares, con corte y quebrada, hicieron furor entre los bailarines, descollando en el Victoria por sus habilidades coreográficas una vieja que lo hacía a las mil maravillas, lo que demuestra que hasta en el tango es cierto el dicho de Martín Fierro: «El diablo sabe por diablo, pero más sabe por viejo»
...
En los programas de todos los teatros predominaron los tangos, los que, como el teatro nacional, están de moda...

(Among the dancers, the popular tangos with “corte y quebrada” were all the rage. One old woman, doing it marvelously, stood out at the Victoria [Theater]. It shows that the saying of Martín Fierro holds true even in tango: “The devil knows by being the devil, but he knows more by being old”.

The programs of all the theaters were dominated by tangos which, like the national theater, is in fashion...)


The closing sentence of our excerpt confirms the point of our argument, namely, the inseparable connection between the teatro criollo (that is, the “national theater”) and the tango criollo. But there is more: In the same issue, Caras y caretas devoted a whole article to A Fashionable Dance

6. “A Fashionable Dance” at the Victoria Theater

The article consists of five photographs and a text written by Goyo Cuello, a music and theater editor of the magazine. The photographs were taken at the Victoria Theater, presumably during the carnival dances. 

Baile de Moda 
Llegado el carnaval, el tango se hace dueño y señor de todos los programas de baile, y la razón es, que siendo el baile más licentious, sólo en estos días de locura puede tolerarse. No hay teatro donde no se anuncien tangos nuevos, lo que es un gran aliciente para la clientela de bailarines que deseosa de lucirse con las compadradas y firuletes á que da lugar tan lasciva danza, concurre á ellos como moscas á la miel. 
Como espectáculo es algo original; en el Victoria, sobre todo, es donde tiene que admirar más...

(A Fashionable Dance 
Carnival having arrived, the tango becomes the lord and master of all dance programs. The reason is: being the most libertine dance, it can only be tolerated in these days of folly. There is no theater that does not announce new tangos, which is a great enticement for the clientele of dancers that wants to impress with the insolence and flamboyance this lascivious dance engenders. It attracts them like honey does flies. 
As a show, it is something original. One has to admire it most at the Victoria, above all...)

With this introduction, the connection between the text, the photographs, and the preceding report on the carnival dances (see above) is established. The remaining description of the dance and the event contrasts blatantly with the photographs:


… La sala llena de gente alegre, por todas partes se oyen frases capaces de enrojecer el casco de un vigilante. En el fondo el malevaje de los suburbios con disfraces improvisados, en los palcos mozos bien y muchachas más bien todavía. De pronto, arranca la orquesta con un tango, y empiezan á formarse las parejas. El chinerío y el compadraje se unen en fraternal abrazo, y da principio la danza, en la que los bailarines ponen un arte tal, que es imposible describir las contorsiones, cuerpeadas, desplantes y taconeos á que da lugar el tango.

(… The hall is filled with cheerful people and from everywhere one hears phrases that would make the helmet of a police man blush. In the back the miscreants of the suburbs in improvised costumes, in the boxes well-off young men and (even better off) women. Suddenly the orchestra starts up a tango and the pairs compose. The fellowships of chinas and compadres join in brotherly embrace and the dance gets underway. The dancers display such artfulness that it is impossible to describe the contortions, swaying, stumbling, and stomping that tango incites.)


Instead of the “miscreants of the suburbs in improvised costumes”, performing “contortions, swaying, stumbling, and stomping” while dancing tango, the pictures show rather well-dressed couples dancing with proper postures.

7. “Miscreants” dancing tango?

Did Goyo Cuello actually attend the dance at the Victoria? We think not. His account of the event resembles a scene from a teatro criollo play more than a report by an eyewitness. The text is replete with stereotypes: that the miscreants stayed in the back (as if they had a reason to hide); that the theater boxes were occupied by rich kids and women of questionable repute; that tango dancers were compadres and chinas from the poor outskirts of the city. Likewise, tango is called a “lascivious” and “libertine” dance with “voluptuously swaying” movements. Such terms are part of a vocabulary with which dancing of lower-class people was commonly described. Cuello's text reflects the representation of tango in teatro criollo plays rather than an actual dance event. Just as in Álvarez's piece on the Tango criollo, it is the photographs that matter. The text is not an explication of what is taking place in the pictures, but seems to have been written independently.

We have no reason to doubt, however, that the couples in the pictures were dancing tango. Comparing the pictures of the Álvarez and Cuello articles, one can even discern similarities in the dancing positions. Note the crossed legs of the “leader” in the following pictures:

8. Tango dancing positions: crossed legs of the “leader”

The following sequence seems to show one of the more “scandalous” moves of dancing “con corte”, called “meter pierna” (introducing the leg).

9. Tango dancing positions: “meter pierna

Our documentation of the development of tango in the teatro criollo from the 1890s to the carnival reports in Caras y caretas from 1905 evince the crucial connection between tango and theater. The first evidence of tango as a criollo dance (1897, Justicia criolla) comes from the theater stage. The first evidence of tango being danced as a ballroom dance by criollos comes from the theater, too: the carnival dances of 1904. By 1905, tango had become the fashionable dance of the carnival balls, the highpoint of the annual dancing season. This period from 1897 to 1905 circumscribes the ascend of the teatro criollo from its beginnings to great popularity. Within this time frame, we can safely place the development of Argentine tango from a general style of dancing with “corte y quebrada” to a discrete ballroom dance.






© 2020 Wolfgang Freis

Saturday, November 4, 2017

Tango Compadrito – Von der Theaterbühne ins Wohnzimmer




Der argentinische Sänger und Textdichter Juan Carlos Marambio Catán (1895-1973) schildert in seiner Autobiographie seine ersten Begegnungen mit dem Tango. Sie erfolgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als er noch keine 10 Jahre alt war. Marambio Catán wurde 1895 in Bahía Blanca geboren. Im Alter von fünf Jahren verstarb seine Mutter, und sein Vater schickte ihn nach Buenos Aires in die Obhut seinen Onkels David Marambio Catán, eines hochrangigen Offiziers. Dort ging Marambio Catán zum ersten Mal ins Theater, genauer gesagt, ins Teatro Apolo. Marambio Catán schrieb:
Ich hatte einen Onkel, einen Bruder meiner Mutter, der in der Corrientes Straße neben dem Apolo Theater wohnte. Sie brachten mich dort hin, um einige Tage bei ihm und seiner Frau (María Gatti, Tochter eines stämmigen Geschäftsmannes, der ein großes Geschäft gegenüber des Theaters besaß) zu verbringen. Man vertraute mich einer Angestellten an, die mich ins Apolo mitnahm, um die sainetes zu sehen (d.h., sie schmuggelte mich halbwegs hinein, denn es war nicht üblich, dass sich Kinder solche Schauspiele ansahen). Damals—als ich die Musik, die witzigen und gewagten Texte, die die Sänger vortrugen, hörte—entwickelte sich meine Liebe, meine glühende Berufung für den Gesang von Buenos Aires...

Musik und Inszenierung beeindruckten Marambio Catán so sehr, dass er die Lieder lernte und zu Hause zum großen Vergnügen seines Onkels aufführte:

Oberst Gramajo und seine Frau Misia Arminda kamen gelegentlich zu Besuch zu meinem Onkel. Er war mit meinem Onkel für die Militärkompanie des Präsidenten Roca verantwortlich. Für diese Ereignisse wurde ein großzügig ausgestatteter Tisch vorbereitet, denn beide verfügten über einen außergewöhnlichen Appetit, über den damals ständig Witze und äußerst amüsante Kommentare in der Presse gemacht wurden. Nach dem Essen wurde über alles Mögliche geredet, und wenn die Begeisterung der Tischgenossen über den Funken eines guten Weines und die Genugtuung über ein gutes Gericht nachließen, fragte mich mein Onkel liebevoll mit einer überzeugenden Geste: „Lass uns sehen, Juan Carlitos, putz Dich mal als compadrito heraus und sing etwas für Gramajo.“ Ich ließ mich nicht zweimal bitten und rannte ins Haus, um mich vorzubereiten. Wenn ich wiederkam, trug ich einen Schlapphut, ein Tuch um den Hals und begann meinen Auftritt mit dem Gang eines Halunken, den man umgangssprachlich „Eierschritt“ [pisahuevos] nennt, auf Grund der schwankenden Weise, in der die Füße über den Boden gleiten. Dazu trug ich riesige Schulterkissen und gab einen großspurigen Blick zum Besten. Auf die Rolle so eingespielt legte ich los: gestikulierend und mit ein paar Tanzschritten sang ich mit voller Stimme
Qué calá, calá
qué calamidá
calaté el funyi
calaté el funyi
hasta la mitá.
(Auszug aus dem Tango Qué calamidad von Bernardino Teres und Pascual Contursi)

Die Aufführung endete mit schallendem Gelächter, nachdem der Onkel den jungen Sänger gefragt hatte, welcher politischen Partei er angehörte. Juan Carlitos antwortete: „der resolut-radikalen “, einer Partei in der Opposition zur Regierungspartei, die die anwesenden Offiziere unterstützten.


Es war das Ensemble von Pablo Podestá und seiner erweiterten Familie, das Marambio Catán im Apolo Theater so beeindruckt hatte. Die Podestá begannen als Zirkusartisten, führten aber auch Pantomimen mit Handlungen aus der erzählerischen Gaucho-Dichtung auf. 1892 wurde „El año 1892“, der erste sainete (Schwank, Burleske) criollo des Argentinischen Dramatikers Ezequiel Soria in Buenos Aires von einer spanischen Theatergruppe aufgeführt. Es war das erste Theaterstück, in dem Personen aus dem einheimischen Milieu dargestellt wurden, und es wurde begeistert vom Publikum aufgenommen. Als sich das teatro criollo in ein selbstständiges Genre entwickelte, wechselten die Podestá von der Manege auf die Bühne und gehörten bald zu den wichtigsten Vertretern des neuen argentinischen Theaterstils. Das teatro criollo bot Stücke mit Handlungen dar, die in den Wohnvierteln der unteren Gesellschaftsschichten von Buenos Aires spielten. Das war auch das Milieu, das mit dem Tango verknüpft war. Mit der wachsenden Anerkennung des teatro criollo erzielte auch der Tango große Popularität mit der breiten Öffentlichkeit von Buenos Aires.


Marambio Catán lernte den Tango durch Theaterschauspiele kennen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er sich kostümierte und eine Rolle spielte, um einen Tango zu singen. Der compadrito, den man ihn aufforderte darzustellen, ist die kennzeichnende Figur des criollo aus der unteren Gesellschaftsschicht, d.h., des in Argentinien geborenen Einwohners der Vororte von Buenos Aires. (Andere Erscheinungsformen des compadrito criollo sind der malevo [Gauner, Krimineller] und guapo [Beau, Zuhälter].) Die Figur des compadrito trat um die Wende des 20. Jahrhunderts in Erscheinung. Sie ist nicht nur im teatro criollo anzutreffen, sondern auch in Literatur und graphischen Darstellungen und wurde später in Filmen verewigt.


Marambio Catáns Auswahl des Kostüms und der Darstellungsweise gehören zu den Eigenarten des compadrito criollo: ein Schlapphut und Halstuch. Dazu gehören auch Halbstiefel mit hohen Absätzen, die einen eigentümlichen Gang bewirkten. Bestimmt hatte er Schauspieler gesehen, die sich dementsprechend kostümiert hatten. Als Kind einer gut-situierten Offiziersfamilie wird er nicht viel Gelegenheit gehabt haben, die Kleiderordnung und das Verhalten der vorstädtischen Ganoven und Eckensteher zu studieren. Auch hätte die Familie seinen Auftritt wohl nicht so geschätzt, wenn es sich dabei nicht um das Nachspielen einer bekannten Theaterrolle gehandelt hätte.


Einer der Schauspieler, den Marambio Catán gesehen haben könnte, war Arturo de Nava, eine bekannter Sänger, der in den Inszenierungen der Podestá als payador und Tangotänzer auftrat. Es gibt auch Photographien aus dem Jahr 1903 (also z.Zt. als Marambio Catán bei seinem Onkel in Buenos Aires lebte), in denen de Nava als Tangotänzer zu sehen ist.

Arturo de Nava dancing tango.


Die Kleidung der männlichen Tänzer ist typisch für den compadrito: Schlapphut, Halstuch und Stiefel mit hohen Absätzen. Man kann daher annehmen, dass de Nava im Bühnenkostüm für die Photos posierte.


Die Kleidungsattribute des compadrito änderten sich wenig in den darauffolgenden Jahrzehnten. Sie wurden Teil der Ikonographie des Einwohners der Vororte von Buenos Aires. Eine Erzählung—veröffentlicht 1906 im Wochenmagazin Caras y Caretas—schrieb der Erscheinung zweier compadritos folgendes zu:

 „pomadisiere Mähne, rotes Halstuch, tailliertes Jackett, französische Hosen, Halbstiefel mit hohen Absätzen, und ein langer Fingernagel am kleinen Finger 'um die Schuppen zu kratzen'“.
Two compadritos at an inn.

Aus "Entre gauchos...", Caras y Caretas, No. 421, 1906: Die zwei compadritos sitzen links.


Der Zeichner gewährte den compadritos noch einen chambergo, einen Schlapphut. Im Vergleich zu den oben angeführten Photos von Arturo de Nava scheint die Bekleidung in diesem Beispiel „eleganter“ zu sein, ist aber im Wesentlichen die gleiche—nur mit „tailliertem“ Jackett, “französischen“ Hosen und „Halbstiefeln“ mit hohem Absatz. Eine übereinstimmende Garderobe finden wir auch in einer Karikatur aus dem Jahre 1912 wieder:

 „Die Psychologie des Grammophons“

Und während man den akrobatischen Walzer aus der „Lustigen Witwe“ in den Tänzen der Vororte verlangt, sind die schicken Mädchen in den Salons ganz verrückt nach dem Tango unserer compadritos.


Die Original-Karikatur veranschaulicht in acht Bildern, welchen Einfluss die Musik einer Gesellschaftsklasse auf eine andere ausüben kann. Dieser Austausch von Musik zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen wurde durch das Grammophone und die Schallplatte ermöglicht. Das obige Beispiel zeigt was passieren könnte, wenn compadritos aus den Vororten (links) in ihrem Stil—mit „corte y quebrada“—zu einem Walzer aus Franz Lehars „Lustiger Witwe“ tanzen; oder wenn die Oberschicht (rechts) Tango tanzt. Die Verschiedenheit der Gesellschaftsklassen zeigt sich wieder in der Kleidungsordnung: Schlapphut, Halstuch und Halbstiefel mit hohen Absätzen unterscheiden den compadrito vom Stadtbewohner (ohne Hut, Kragen und Fliege, Halbschuhe statt Stiefel).


Karikatur eines compadrito, 1930

Gehen auf Criollo



Bei seinen Auftritt hatte Marambio Catán auch einen speziellen Gang aufgeführt, den er pisahuevos, den er “Eierschritt” nannte. Dieser Gang steht direkt mit dem Tango in Verbindung. In einem Artikel in Caras y Caretas aus dem Jahre 1899 ändert ein guapo seine Gangart, sobald er Tangomusik hört:

Lief er eine Straße entlang, so bereitete ihm die verführerische Milonga-Musik der Drehorgeln ein wollüstiges Kitzeln in den Fesseln. Wenn er um eine Straßenecke bog, schob er das Bein um die Ecke herum, als wäre es der gewellte Rocksaum der china, und ging mit den Schritten eines baile con corte weiter, die Arme angehoben, den Kopf voll mit Vorstellungen des Bordells und lüsternen Gefühlen, die sein ganzes Rückgrat hinunterliefen.
Compadrito from "Plétora Mortífera", Caras y Caretas No. 63, 1899

Aus "Plétora Mortífera", Caras y Caretas No. 63, 1899


Sargento Pita (1903)der Verfasser des Artikels, in dem die Photos von Arturo de Nava erschienen (siehe oben), schrieb den eigenartigen Gang der compadritos ihrem Schuhwerk, den Stiefel mit hohen Absätzen, zu:
Die [compadritos] von Alto und Balvanera sind verschwunden: mit ihren ländlichen Hosen; dem Poncho über der Schulter; auf den Lippen freche Unverschämtheit, die untrennbare Begleiterin des heimtückischen Dolches und der Stöckelschuhe, die den Schritt behinderten und ein feminines Schwingen der das Gleichgewicht suchenden Hüften erzwangen!

Es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass der compadrito-Gang auch nur ein Bühnen-Requisit war—so wie der Schlapphut und die Stiefel mit den hohen Absätzen. Der Journalist Juan José de Soiza Reilly beschrieb die erste Aufführung eines erfolgreichen sainete criollo von Ezequiel Soria, „Justicia criolla“, im Jahre 1897. Nach de Soiza Reilly war es Soria, der dem spanischen Schauspieler Enrique Gil den echten Schritt eines compadrito beibrachte:

Ein paar Stunden vor der Premiere, auf der Bühne zwischen den Vorhängen, brachte Soria selbst [Enrique] Gil die richtige Art auf criollo zu gehen bei: überheblich, die Arme angehoben, ganz in der Art wie zur Zeit der langen Mähne und des spitzen Absatzes.

—„Ja. Ja, jetzt versteh ich.“ sagte der große Schauspieler.

Kurz bevor der Vorhang aufging bemerkte der Impresario Larco plötzlich, dass Gil ein Seil auf dem Boden ausgestreckt hatte und darauf wie ein Hochseilartist entlanglief.

—„Was machst Du, Enrique?“


—„Ich lerne criollo zu gehen!“




Schlapphut, Halstuch, ein schiebender Gang mit angehobene Armen, Tango tanzen: Es zeigt sich, dass das Bild des compadrito auf der Theaterbühne entworfen wurde. Und mit dem Erfolg des argentinischen teatro criollo fand die Musik des compadrito—Tango—Aufnahme und Zustimmung. Ein breites Publikum in Buenos Aires machte sich die Musik zu eigen. Das Bild des Tango tanzenden compadritos gehörte nicht mehr der Bühne allein, sondern wurde schnell ein Bestandteil der Populärkultur. Und als solcher wird es auch heute noch anerkannt.



Libertad Lamarque tanzt La Morocha mit einem compadrito.


© 2017 Wolfgang Freis