1913 brach in Berlin, wie
fast überall in Europa, das Tangofieber aus. Plötzlich, so scheint
es, wurde überall Tango getanzt. Dass öffentliche Organe daran
Anstoß nahmen ist bekannt: es gab polizeiliche Verbote; Kaiser Wilhelm II sagte man eine Verordnung nach, die Offizieren in Uniform das Tangotanzen
untersagte; selbst der Papst sollte den Gläubigen moderne Tänze
solcher Art verboten haben. Wie aber hatte sich der Tango so weit verbreitet, dass er zu einem internationalen Phänomen werden konnte?
Am Anfang war die
Schallplatte. Im Jahre 1907 schickte das Kaufhaus Gath & Chaves
in Buenos Aires drei Musiker nach Paris: das Gesangsduo Alfredo
Eusebio und Flora Gobbi und den Komponisten, Gitarristen und Sänger Angel
Villoldo. Sie sollten dort Plattenaufnahmen machen, die das Kaufhaus
in Buenos Aires verkaufen wollte.
Villoldo blieb nur kurze
Zeit in Paris. Ob er sich 1907 um die Verbreitung seiner Tangos in Europa bemühte, ist nicht bekannt. 1913 waren seine Tangos—El
Choclo, El Esquinazo,
Yunta brava, El Porteñito und andere—aber unter den
ersten eines argentinischer Komponisten, die in Deutschland auf
Schallplatten angeboten wurden.
Angel Villoldo |
Die Gobbis blieben für
sieben Jahre in Frankreich (ihr Sohn, der spätere Orchesterleiter,
Alfredo Gobbi wurde dort 1912 geboren) und brachten die Pariser auf
den Geschmack für Tango. Als Gesangsduo spezialisierten sich die
Gobbis auf komische Nummern. Ob sie in ihren Aufführungen tanzten
ist nicht bekannt. 1911 wurde ihr „Duett“ La farra de Giacumin
von der deutschen Firma Homokord auf Schallplatte veröffentlicht.
Alfredo
Eusebio und Flora Gobbi
|
Während die Gobbis in
Paris auftraten, lebte dort auch ein erfolgreicher spanischer
Komponist, Joaquin „Quinito“ Valverde, der sich die aufkommende
Mode zu Nutzen machte und Tangos komponierte. Er wurde später sogar
als der „König des Tangos“ bezeichnet (New York Times, 1916).
Die Kompositionen von Valverde und Villoldo wurden in den ersten
Jahren am häufigsten auf Platten aufgenommen.
Joaquin
"Quinito" Valverde
|
1911 erschienen in einer
deutschen Fachzeitschrift Werbeannoncen, in denen Tango erwähnt
wird. Zuerst inserierte die Plattenfirma „Odeon“ eine
Schallplatte, auf der ein Tanz mit dem Titel „Tango Argentino“ zu
hören war. Es handelt sich hier um den Tango „¿Y...cómo le va?“
von Valverde. Dem Inserat wurden drei Fotografien mit
„charakteristischen Stellungen aus dem 'Tango', dem neuen Pariser
Mode-Tanz“ beigefügt.
Die Annonce in der
deutschen Zeitschrift wurde Anfang März veröffentlicht und enthält
Ankündigungen für die kommende Leipziger Messe, die im gleichen
Monat stattfand. Da es sich um eine Branchenpublikation handelt,
können wir annehmen, dass sie sich hauptsächlich an Händler
richtete. Auch andere Plattenfirmen inserierten ihre neuen Produkte,
aber die Odeon Platte A 56201 war eine von zwei Tangos, die in diesem
Jahr erschienen. (Im Mai inserierte Janus-Minerva eine Liste von
Neuaufnahmen, die eine weitere Aufnahme von „¿Y...cómo le va?“
mit dem Janus Orchester enthielt.) Es ist möglich, dass es
sich hierbei um die erste Annonce eines Tangos im deutschen
Sprachraum handelt.
Mit einem Preis von 3 Mark
gehörten Odeon Schallplatten der oberen Preisklasse an und wurden
nicht oft inseriert. Dass die Firma die Kosten einer vollseitigen
Annonce mit Graustufenbildern auf sich nahm, um einen Tango
vorzustellen, läßt erkennen, dass sie auf etwas Außergewöhnliches
hinweisen wollte, von dem sie großen Erfolg erwartete.
Das Tanzpaar, das auf den
Fotos abgebildet ist, wurde nicht bei Namen genannt. Es handelt sich
um die Pariser Varieté-Künstlerin Mistinguett und den Tanzlehrer L.
Robert. Im Januar 1911 waren die Fotos in einer Pariser Zeitung in
einem Bericht über neue Tänze aus Amerika erschienen. Robert
behauptete damals, dass er den Tango entwickelt hätte und der
einzige Tanzlehrer in Paris wäre, der den argentinischen Tango
lehrte.
(Im Herbst des Jahres 1911
startete Odeon die jährliche Werbekampagne mit zahlreichen Annoncen für
das Weihnachtsgeschäft. Weder Valverdes „¿Y...cómo le va?“
noch ein anderer Tango oder importierter neuer Tanz wurde angeführt.
Die Tanzmusikliste entsprach dem gängigen deutschen Geschmack. Erst 1913 zeigte sich wieder ein Interesse an Tango.)
Ab Ende März 1911
erschien über mehrere Wochen in der gleichen Zeitschrift eine
weitere Annonce, die auch auf einen „Tango Argentino“ von
Valverde und ein Tanzpaar hinwies:
Diese Annonce wurde von
einem Musikverlag aufgegeben. „Tango Argentino“ wird hier auch
als Titel für die Musik von Valverde angeben, allerdings ohne
Hinweis auf „¿Y...cómo le va?“. Wahrscheinlich handelte es sich
hier um einen Klavierauszug, der neu veröffentlicht worden war. Um
den neuen Tanz kennenzulernen, gibt der Verlag gibt auch ein Theater
an, in dem der Tanz jeden Abend gehört und gesehen werden kann. Zwei
professionelle Tänzer hatten sich den neuen Mode-Tanz aus Paris
angeeignet.
Ballettmeister Chlebus hat
sich auch selber zum Tango geäußert. In einer Berliner Zeitung
erschien im gleichen Jahr unter seinem Namen ein Artikel: „Ein
neuer Gesellschaftstanz. Der Tango“. (Der Name der Zeitung und das
genaue Datum der Veröffentlichung sind uns leider nicht bekannt.)
Dem Artikel ist auch ein Notenauszug von Valverdes „¿Y...cómo le
va?“ beigefügt, mit Hinweis auf einen Pariser Musikverleger.
Chlebus schreibt dem Stück interessanterweise einen
„südamerikanischen oder zum mindesten südspanischen
Charakter“ (unsere Hervorhebung) zu und scheint den Zarzuela-Ton
Valverdes herauszuhören. Der Artikel endet wie folgt:
„Die Berliner hatten bereits mehrfach Gelegenheit, den Tango kennen zu lernen – und verschiedentlich auch selber zu tanzen, und die Aufnahme, die der Tango überall, wo man ihn sah oder selbst tanzte, gefunden hat, läßt mit Sicherheit darauf schließen, daß er sich für die nächste Saison schon einen Platz auf der Tanzkarte sichern und diesen behaupten wird. Für die zu Ende gehende Saison kommt er freilich zu spät. Aber er ist – abgesehen von den Vorführungen in einem Berliner Theater – auch schon vielfach bei privaten Festlichkeiten getanzt worden und hat ein so reges Interesse hervorgerufen, daß man ihm eine Zukunft prophezeien darf.“
Es liegt nahe, dass es
sich bei dem Berliner Theater um das „Intime Theater“ der obigen
Annonce handelt, in dem Chlebus selbst mit Fräulein Zawa auftrat. Da
der Berliner Musikverleger nicht genannt wird, dürfen wir vielleicht
annehmen, dass der Artikel Ende Januar/Februar geschrieben wurde,
also kurz nach dem Erscheinen des Pariser Artikels und vor dem Ende
der Ballsaison zum Karneval. Es scheint, Ballettmeister Chlebus
wollte wie Odeon aus dem Pariser Ereignis Nutzen ziehen.
Wir sind auf ein weiteres
Foto aus dem Jahre 1911 gestoßen, dass ohne weitere Hinweise als
„Tango Argentino Berlin 1911“ angegeben wird. Handelt es sich
hier vielleicht um Ballettmeister Chlebus und Fräulein Zajon Nawa?
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Zwei Jahre bevor der Tango
für Aufruhr sorgte, wurde er in Berlin zum ersten Mal öffentlich
aufgeführt. Wie in Paris spielte das Theater eine entscheidende
Rolle. In einer Zeit, in der es weder Radio noch Fernsehen gab, war
das Theater ein Raum, in dem neue Musik und Tänze der Öffentlichkeit
vorgestellt werden konnten. Wenn sich ein Tanzlehrer mit einer
Bühnenkünstlerin zusammenschloß, um einen neuen Tanz vorzustellen,
zeigt sich auch, wie das auf der Bühne Gesehene dem Publikum zur
Nachahmung vermittelt wurde. Der Weg eines Tanzes von der erster Vorstellung bis zur weit verbreiteten Mode ist allerdings weit, denn er muß von vielen
gesehen und erlernt werden. Es zeigt sich an den hier aufgezeigten Gegebenheiten die Möglichkeit, dass das Berliner Tangofieber von 1913 im März 1911 seinen Anfang nahm.
Interessant sind die
Annoncen auch als Andeutung der kommerziellen Kanäle, die zur
Verbreitung des Tangos beitrugen. Die Schallplatte, ein z.Zt. noch
junges Medium, spielte eine entscheidende Rolle, denn durch sie
konnte ein größeres Publikum schneller erreicht werden, als durch
das Theater. Dass eine Handelsmesse der Verbreitung von Schallplatten
diente, ist nicht überraschend. Bemerkenswert ist aber, dass der
Tanz, zuerst in einer Zeitung beschrieben, sofort von anderen
Akteuren (Schallplattenproduzent, Musikverlag, Berufstänzer)
aufgegriffen und vermarktet wurde.
Der Tango auf der
Odeon-Platte ist eine Komposition von Joaquin Valverde, also nicht
von einem Argentinier, sondern von einem in Paris lebenden Spanier,
der sich als Komponist von Zarzuelas einen Namen gemacht hatte.
Gespielt wurde die Musik auch nicht von einem Tango-Ensemble, sondern
vom (Berliner) Hausorchester der Plattenfirma Odeon. (Unter den
Bedingungen der damaligen Aufnahmetechnik ist anzunehmen, dass sich
dabei um ein Blasorchester handelte.) Der Tango also, auf den die
Annonce hinwies, war zwar von argentinischer Musik inspiriert, aber
im ganzen gesehen eine durchweg europäische Produktion. Man muß
annehmen, dass es um den Tanz nicht anders stand.
Nachtrag
Im gleichen Jahr, 1911, erschien in der Tageszeitung “Berliner Leben” ein Foto mit Tänzern aus dem “Sanssouci”, einem eleganten Restaurant und Tanzcafe im Berliner Westen. Es zeigt Tänzer, die z. Zt. dort auftraten, darunter “Fräulein Zagon-Nava” und “Balettmeister Eugen Chlebus”.
Man kann davon ausgehen, dass sie mit dem oben abgebildetem Tanzpaar identisch sind und beide Fotografien um dieselbe Zeit entstanden sind.
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