Sunday, October 18, 2015

Tango, der neue Mode-Tanz von 1911

1913 brach in Berlin, wie fast überall in Europa, das Tangofieber aus. Plötzlich, so scheint es, wurde überall Tango getanzt. Dass öffentliche Organe daran Anstoß nahmen ist bekannt: es gab polizeiliche Verbote; Kaiser Wilhelm II sagte man eine Verordnung nach, die Offizieren in Uniform das Tangotanzen untersagte; selbst der Papst sollte den Gläubigen moderne Tänze solcher Art verboten haben. Wie aber hatte sich der Tango so weit verbreitet, dass er zu einem internationalen Phänomen werden konnte?

Am Anfang war die Schallplatte. Im Jahre 1907 schickte das Kaufhaus Gath & Chaves in Buenos Aires drei Musiker nach Paris: das Gesangsduo Alfredo Eusebio und Flora Gobbi und den Komponisten, Gitarristen und Sänger Angel Villoldo. Sie sollten dort Plattenaufnahmen machen, die das Kaufhaus in Buenos Aires verkaufen wollte.

Villoldo blieb nur kurze Zeit in Paris. Ob er sich 1907 um die Verbreitung seiner Tangos in Europa bemühte, ist nicht bekannt. 1913 waren seine Tangos—El Choclo, El Esquinazo, Yunta brava, El Porteñito und andere—aber unter den ersten eines argentinischer Komponisten, die in Deutschland auf Schallplatten angeboten wurden.

Angel Villoldo
Die Gobbis blieben für sieben Jahre in Frankreich (ihr Sohn, der spätere Orchesterleiter, Alfredo Gobbi wurde dort 1912 geboren) und brachten die Pariser auf den Geschmack für Tango. Als Gesangsduo spezialisierten sich die Gobbis auf komische Nummern. Ob sie in ihren Aufführungen tanzten ist nicht bekannt. 1911 wurde ihr „Duett“ La farra de Giacumin von der deutschen Firma Homokord auf Schallplatte veröffentlicht.



Alfredo Eusebio und Flora Gobbi

Während die Gobbis in Paris auftraten, lebte dort auch ein erfolgreicher spanischer Komponist, Joaquin „Quinito“ Valverde, der sich die aufkommende Mode zu Nutzen machte und Tangos komponierte. Er wurde später sogar als der „König des Tangos“ bezeichnet (New York Times, 1916). Die Kompositionen von Valverde und Villoldo wurden in den ersten Jahren am häufigsten auf Platten aufgenommen.

Joaquin "Quinito" Valverde

1911 erschienen in einer deutschen Fachzeitschrift Werbeannoncen, in denen Tango erwähnt wird. Zuerst inserierte die Plattenfirma „Odeon“ eine Schallplatte, auf der ein Tanz mit dem Titel „Tango Argentino“ zu hören war. Es handelt sich hier um den Tango „¿Y...cómo le va?“ von Valverde. Dem Inserat wurden drei Fotografien mit „charakteristischen Stellungen aus dem 'Tango', dem neuen Pariser Mode-Tanz“ beigefügt.



Die Annonce in der deutschen Zeitschrift wurde Anfang März veröffentlicht und enthält Ankündigungen für die kommende Leipziger Messe, die im gleichen Monat stattfand. Da es sich um eine Branchenpublikation handelt, können wir annehmen, dass sie sich hauptsächlich an Händler richtete. Auch andere Plattenfirmen inserierten ihre neuen Produkte, aber die Odeon Platte A 56201 war eine von zwei Tangos, die in diesem Jahr erschienen. (Im Mai inserierte Janus-Minerva eine Liste von Neuaufnahmen, die eine weitere Aufnahme von „¿Y...cómo le va?“ mit dem Janus Orchester enthielt.) Es ist möglich, dass es sich hierbei um die erste Annonce eines Tangos im deutschen Sprachraum handelt.

Mit einem Preis von 3 Mark gehörten Odeon Schallplatten der oberen Preisklasse an und wurden nicht oft inseriert. Dass die Firma die Kosten einer vollseitigen Annonce mit Graustufenbildern auf sich nahm, um einen Tango vorzustellen, läßt erkennen, dass sie auf etwas Außergewöhnliches hinweisen wollte, von dem sie großen Erfolg erwartete.

Das Tanzpaar, das auf den Fotos abgebildet ist, wurde nicht bei Namen genannt. Es handelt sich um die Pariser Varieté-Künstlerin Mistinguett und den Tanzlehrer L. Robert. Im Januar 1911 waren die Fotos in einer Pariser Zeitung in einem Bericht über neue Tänze aus Amerika erschienen. Robert behauptete damals, dass er den Tango entwickelt hätte und der einzige Tanzlehrer in Paris wäre, der den argentinischen Tango lehrte.

(Im Herbst des Jahres 1911 startete Odeon die jährliche Werbekampagne mit zahlreichen Annoncen für das Weihnachtsgeschäft. Weder Valverdes „¿Y...cómo le va?“ noch ein anderer Tango oder importierter neuer Tanz wurde angeführt. Die Tanzmusikliste entsprach dem gängigen deutschen Geschmack. Erst 1913 zeigte sich wieder ein Interesse an Tango.)

Ab Ende März 1911 erschien über mehrere Wochen in der gleichen Zeitschrift eine weitere Annonce, die auch auf einen „Tango Argentino“ von Valverde und ein Tanzpaar hinwies:


Diese Annonce wurde von einem Musikverlag aufgegeben. „Tango Argentino“ wird hier auch als Titel für die Musik von Valverde angeben, allerdings ohne Hinweis auf „¿Y...cómo le va?“. Wahrscheinlich handelte es sich hier um einen Klavierauszug, der neu veröffentlicht worden war. Um den neuen Tanz kennenzulernen, gibt der Verlag gibt auch ein Theater an, in dem der Tanz jeden Abend gehört und gesehen werden kann. Zwei professionelle Tänzer hatten sich den neuen Mode-Tanz aus Paris angeeignet.

Ballettmeister Chlebus hat sich auch selber zum Tango geäußert. In einer Berliner Zeitung erschien im gleichen Jahr unter seinem Namen ein Artikel: „Ein neuer Gesellschaftstanz. Der Tango“. (Der Name der Zeitung und das genaue Datum der Veröffentlichung sind uns leider nicht bekannt.) Dem Artikel ist auch ein Notenauszug von Valverdes „¿Y...cómo le va?“ beigefügt, mit Hinweis auf einen Pariser Musikverleger. Chlebus schreibt dem Stück interessanterweise einen „südamerikanischen oder zum mindesten südspanischen Charakter“ (unsere Hervorhebung) zu und scheint den Zarzuela-Ton Valverdes herauszuhören. Der Artikel endet wie folgt:

„Die Berliner hatten bereits mehrfach Gelegenheit, den Tango kennen zu lernen – und verschiedentlich auch selber zu tanzen, und die Aufnahme, die der Tango überall, wo man ihn sah oder selbst tanzte, gefunden hat, läßt mit Sicherheit darauf schließen, daß er sich für die nächste Saison schon einen Platz auf der Tanzkarte sichern und diesen behaupten wird. Für die zu Ende gehende Saison kommt er freilich zu spät. Aber er ist – abgesehen von den Vorführungen in einem Berliner Theater – auch schon vielfach bei privaten Festlichkeiten getanzt worden und hat ein so reges Interesse hervorgerufen, daß man ihm eine Zukunft prophezeien darf.“

Es liegt nahe, dass es sich bei dem Berliner Theater um das „Intime Theater“ der obigen Annonce handelt, in dem Chlebus selbst mit Fräulein Zawa auftrat. Da der Berliner Musikverleger nicht genannt wird, dürfen wir vielleicht annehmen, dass der Artikel Ende Januar/Februar geschrieben wurde, also kurz nach dem Erscheinen des Pariser Artikels und vor dem Ende der Ballsaison zum Karneval. Es scheint, Ballettmeister Chlebus wollte wie Odeon aus dem Pariser Ereignis Nutzen ziehen.

Wir sind auf ein weiteres Foto aus dem Jahre 1911 gestoßen, dass ohne weitere Hinweise als „Tango Argentino Berlin 1911“ angegeben wird. Handelt es sich hier vielleicht um Ballettmeister Chlebus und Fräulein Zajon Nawa?



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Zwei Jahre bevor der Tango für Aufruhr sorgte, wurde er in Berlin zum ersten Mal öffentlich aufgeführt. Wie in Paris spielte das Theater eine entscheidende Rolle. In einer Zeit, in der es weder Radio noch Fernsehen gab, war das Theater ein Raum, in dem neue Musik und Tänze der Öffentlichkeit vorgestellt werden konnten. Wenn sich ein Tanzlehrer mit einer Bühnenkünstlerin zusammenschloß, um einen neuen Tanz vorzustellen, zeigt sich auch, wie das auf der Bühne Gesehene dem Publikum zur Nachahmung vermittelt wurde. Der Weg eines Tanzes von der erster Vorstellung bis zur weit verbreiteten Mode ist allerdings weit, denn er muß von vielen gesehen und erlernt werden. Es zeigt sich an den hier aufgezeigten Gegebenheiten die Möglichkeit, dass das Berliner Tangofieber von 1913 im März 1911 seinen Anfang nahm.

Interessant sind die Annoncen auch als Andeutung der kommerziellen Kanäle, die zur Verbreitung des Tangos beitrugen. Die Schallplatte, ein z.Zt. noch junges Medium, spielte eine entscheidende Rolle, denn durch sie konnte ein größeres Publikum schneller erreicht werden, als durch das Theater. Dass eine Handelsmesse der Verbreitung von Schallplatten diente, ist nicht überraschend. Bemerkenswert ist aber, dass der Tanz, zuerst in einer Zeitung beschrieben, sofort von anderen Akteuren (Schallplattenproduzent, Musikverlag, Berufstänzer) aufgegriffen und vermarktet wurde.


Der Tango auf der Odeon-Platte ist eine Komposition von Joaquin Valverde, also nicht von einem Argentinier, sondern von einem in Paris lebenden Spanier, der sich als Komponist von Zarzuelas einen Namen gemacht hatte. Gespielt wurde die Musik auch nicht von einem Tango-Ensemble, sondern vom (Berliner) Hausorchester der Plattenfirma Odeon. (Unter den Bedingungen der damaligen Aufnahmetechnik ist anzunehmen, dass sich dabei um ein Blasorchester handelte.) Der Tango also, auf den die Annonce hinwies, war zwar von argentinischer Musik inspiriert, aber im ganzen gesehen eine durchweg europäische Produktion. Man muß annehmen, dass es um den Tanz nicht anders stand.

Nachtrag


Im gleichen Jahr, 1911, erschien in der Tageszeitung “Berliner Leben” ein Foto mit Tänzern aus dem “Sanssouci”, einem eleganten Restaurant und Tanzcafe im Berliner Westen. Es zeigt Tänzer, die z. Zt. dort auftraten, darunter “Fräulein Zagon-Nava” und “Balettmeister Eugen Chlebus”.


Man kann davon ausgehen, dass sie mit dem oben abgebildetem Tanzpaar identisch sind und beide Fotografien um dieselbe Zeit entstanden sind.

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