Canaro in Berlin
Ein Interview mit
Francisco Canaro, dem Komponisten von “Cara Sucia” und “¡Sufra!”
[Geführt von Ernesto de
la Fuente, Buenos Aires, 1928]
Wer erinnert sich nicht an „Cara Sucia“, den Tango Francisco Canaros, der vor ungefähr 12 Jahren außerordentlich populär war? Wer hat nicht irgendwann einmal seine heitere Musik gesummt, oder sich an einigen der schelmischen und gewagten Verse versucht, die zu ihm gehören? Wahrscheinlich haben nur wenige einheimische Tangos einen so schallenden Erfolg erlebt, wie dieses Stück Canaros, des unermüdlichen Komponisten, der heute in jeder Hinsicht die Gunst des Erfolges genießt. Heute lebt er, noch jung, zufrieden und ruhig in seinem Haus in Belgrano, wo er in Nächten der Inspiration, an seinem kleinen Harmonium sitzend, die harmonischen Noten seiner neuen Stücke auf dem Notenpapier niederschreibt.
—„Sind Sie ein glücklicher Mann?“ fragen wir ihn, während er uns eine ausgezeichnete Havanna anbietet.
—„Vollkommen,“ antwortet er. „Ich denke, in meinem Beruf kann ich nicht mehr verlangen. Ich glaube, es ist das Glück, dass mich immer begleitet hat, und ich wäre undankbare, wenn ich es leugnete oder versuchen würde, mehr zu fordern.“
—„Welches Ihrer Stücke hat Ihnen das schmeichelhafteste Resultat gebracht?“
—„'Cara Sucia', das damals um 1916 einen für mich unerwarteten Erfolg hatte, obwohl ich vorher schon einen großen Triumph mit 'El chamuyo' feiern konnte, das zum ersten Mal 1914 im Nacional Norte (dort wo heute das Gran Splendid steht) aufgeführt wurde.“
—„War es auch ein finanzieller Erfolg?“
—„So, dass mehr als 40.000 Schallplatten gepresst und um die 28.000 Kopien der Noten verkauft wurden, zu einer Zeit, in der Fälschung noch nicht so weit entwickelt war wie man es heute vorfindet, und in der die festgesetzten Preise noch wirklich einträglich waren.“
Dann erinnert sich Canaro an einen interessanten Vorfall, den „Cara Sucia“ auslöste. Er führte zu Gerichtsverfahren, in dem er beschuldigt wurde, die Musik plagiiert zu haben. Die Frage musste dem Kammergericht vorgelegt werden, das sein Urheberrecht bestätigte, nachdem interessante musikalische Gutachten eingeholt worden waren. Es war das erste Mal, das sich die Justiz mit einer Frage künstlerischen Eigentums beschäftigen musste.
—„Wie viele Tangos haben sie bis heute veröffentlicht?“ fragen wir ihn dann.
—„Mehr als einhundert ...“
—„Und welche von diesen war Ihrer Meinung nach die, die größten Erfolg hatten?“
—„'Sentimento Gaucho', der prämiert wurde, 'Nobleza de Arrabal', '¡Sufra!', 'Se Acabaron los Otarios', 'Federación', 'Pollito', 'Matasanos' und viele mehr.
—„Und als künstlerischer Erfolg, welcher war ihr größter Triumph?“
—„Meines Erachtens nach 'El Pajaro Azul', den ich vor kurzem veröffentlicht und mit dem ich einen revolutionären Versuch innerhalb der üblichen Formen unternommen habe. Ich glaube, der Moment ist gekommen, unserer populären Musik andere Aspekte zu geben. Meinem letzten Stück, das ich ein Tangofantasie nenne, habe ich versucht einen gewissen klassischen Charakter aufzuprägen. Ich habe die Verbindung mit einem Text, der möglicherweise nicht zu einer Komposition dieser Art passen würde, vermieden.“
—„Sind Sie überzeugt, dass keine unmittelbare Gefahr besteht, die populäre Begeisterung könnte nachlassen und den Untergang dieses Aspektes unserer nationalen Musik einleiten?“
—„Gar keine, und andererseits setzt sich der Tango erst jetzt in vielen Ländern Europas durch, in denen er vorher nichts weniger als missbilligt wurde.“
—„Außer in Paris.“
—„Natürlich. Dort ist Tango etwas Unentbehrliches für das Leben und die Freude der Stadt, die sich vergnügt. Man könnte fast sagen, es ist eine Notwendigkeit. Aber, in Deutschland zum Beispiel, dort findet er findet er täglich mehr Bewunderer. Das zeigt sich daran, dass man mich gebeten hat, ein echtes orquesta típica 'de gauchos' zu bilden, das bald in den wichtigsten Sälen Berlins Mal auftreten soll.“
—„Haben Sie als Leiter der Orchester, die sie zusammengestellt haben, interessante Erinnerungen an Ihren Aufenthalt im Ausland?“
—„Viele, besonders aus Frankreich, wo ich sogar zu einer populären Persönlichkeit wurde. Da ist es klar, dass man innerhalb der besonderen Welt derer, die das Leben zu einer fast unerschöpfliche Quelle von Freude und Wohlbefinden machen ...“
—„Vielleicht eine Anekdote Ihres Aufenthalts in Europa?“
Canaro denkt nach und lächelt.
—„Anekdoten, viele, jeden Tag, aber vielleicht kein Fall ist so interessant wie der, der sich in Berlin abspielte. Am Tag meiner Ankunft lud mich ein stattlicher Theaterproduzent der Stadt, der nur deutsch sprach, ein, einen 'Criollo'-Sänger in einem großen Cabaret zu hören, der jede Nacht argentinische Tangos mit enormem Erfolg aufführte. Wir gingen dort wie vereinbart hin und schließlich trat die so sehr erwartete Nummer auf. Ein Gaucho mit Bolas, Spornen und allem, was ein Gaucho haben muss, führte seine Nummer zu großem Applaus auf. Der Mann fing an, Tangos zu singen, die sehr gefeiert wurden, aber ich, obwohl ich versuchte gut zuzuhören, verstand nur das eine oder andere Wort. Von Neugierde angestochen ließ ich ihn an unseren Tisch einladen, und der 'gaucho argentino', wie er sich nannte, näherte sich kurz darauf.“
—„'¿Cómo le va, mi amigo, de qué pagos es Usted?' fragte ich ihn und klopfte ihm auf den Rücken. Der Mann wurde kreidebleich und mit inständig bittendem Blick antwortete er mir: 'Pardon, ne dites rien; d'argentain je n'ai que mes vêtements...'. Es war ein Franzose, als Gaucho verkleidet, der in Deutschland 'Amerika' vormachte. Wie Sie sehen, Tango ist eine ganze Industrie in Europa, und diese Industrie wird bald zu einer beträchtlichen Goldader für die werden, die den Elan und Wunsch haben, sie zu erschließen.“
Canaro ist heute ein wohlhabender Mann. Als wir über ihn als Privatmann sprechen, versucht er es nicht zu leugnen. Er investiert sein Vermögen in Immobilien, und von denen besitzt er schon eine so ansehnliche Menge, dass allein die Mieterträge es ihm erlauben würden, in Luxus und Annehmlichkeiten zu leben.
Die Schallplattenaufnahme ist eine seiner bevorzugten Beschäftigungen, vielleicht weil sie mehr einbringt. In dem Moment, in dem ein Tango Popularität erreicht, können gut bis zu 100.000 Kopien gepresst werden.
—„Gibt es vielleicht, Canaro, irgendein Geheimnis, um in einer musikalischen Karriere erfolgreich zu sein?“ fragen wir.
—„Eins,“ antwortet er uns; —„das populäre Gefühl verklären können.“
No comments:
Post a Comment