Wie ein Berliner Unternehmen dem Tango Beine machte
Ein Abriss
1. Lindström
Carl Lindström
(1865-1932) richtet 1897 seine erste Werkstatt in Berlin ein, in der
er Phonographen und Filmprojektoren herstellt. 1904 schließen sich
Lindströms Werkstatt und die Berliner Salon Kinematograph Co. GmbH
zur Carl Lindström GmbH zusammen. Die Geschäftsführer der Salon
Kinematograph Co., Max Straus und Heinrich Zunz, übernehmen die
Leitung des neuen Unternehmens; Carl Lindström ist für die
technische Führung und Entwicklung verantwortlich.
1910 wird die Firma in
eine Aktiengesellschaft umgewandelt und an der Berliner Börse
gehandelt. Lindström expandiert in den Schallplattenmarkt und
erwirbt die Berliner Beka Record. Im folgenden Jahr wird die
englische Fonotipia aufgekauft. Zu ihr gehören die Tochterfirmen
Fonotipia Mailand sowie die Berliner Berliner International Talking
Machine Comp. mit ihrer Marke Odeon.
Weitere Ankäufe erfolgen
1913 mit der Berliner Dacapo Record/Lyrophonwerke und der Favorite
Record aus Hannover. Der Lindström Konzern ist damit zu einem der
weltweit größtem Produzenten von Schallplatten angewachsen.
2. Max Glücksmann, 1908-1913
Max (Mordechai David)
Glücksmann (1875-1946) kommt als 15-jähriger nach Buenos Aires und
tritt als Lehrling in das Casa Lepage ein. Die Firma führt Foto- und
Filmausrüstungen ein; später stattet sie die ersten Filmtheater der
Stadt aus.
Max Glücksmann |
1908 kann Glücksmann Casa
Lepage kaufen. Obwohl mit dem Besitzerwechsel nun auch Phonoartikel der amerikanischen Firma Victor angeboten
werden, orientiert sich die Geschäftsentwicklung vorrangig auf den Film.
Glücksmann gründet eine Produktionsfirma für Dokumentarfilme und
Wochenschauen. Bis 1930 wächst seine Firma zum marktdominierenden
Filmtheaterbesitzer und Filmverleih in Argentinien, Uruguay und
Paraguay an.
1913 eröffnet sich ein
neuer Geschäftsbereich für Glücksmann: er wird Generalvertreter
des Lindström Konzerns für dessen Marken Fonotipia und Odeon.
Odeons Schallplattenkatalog ist anfänglich international, aber ab 1914 überwiegt
das “repertorio criollo”. Zu den ersten Tango-Musikern, die
Glücksmann unter Vertrag nimmt, gehören Eduardo Arolas und Roberto Firpo, dessen Orchester bis in die zwanziger Jahre den
argentinischen Schallplattenmarkt für Tangos dominiert.
3. Der Tango in Paris
Zu Beginn des 20.
Jahrhunderts entwickelt sich in Europa—zweifelsohne gefördert
durch die Entwicklung der phonographischen Industrie—ein großes
Interesse an Tanzmusik aus der neuen Welt. Es erreicht einen Höhepunkt im Tango,
der sich zwischen 1911 und 1914 von einer Mode zu einer wahren Manie
entwickelt, die sich über ganz Europa und Nordamerika ausbreitet.
In Deutschland erregt der
Tango allgemeine Aufmerksamkeit im Jahr 1913, nachdem im Sommer in
Baden Baden eine viel beachtete Tanzmeisterschaft abgehalten wird.
In der folgenden Tanzsaison wird überall Tango gelernt und getanzt. Berlin wird zum Zentrum des Tangos. Hier wird mit Paris um
die führende Rolle gewetteifert, die man durch internationale
Meisterschaften zu ermitteln sucht.
Auch Buenos Aires wird vom
Tangofieber beeinflusst. Während man sich anfangs darüber wundert,
was die Pariser an diesem schlichten Tanz so fasziniert, folgt man
bald dem Pariser Beispiel. Tanzschulen bieten Unterricht an, auf
großen Tanzveranstaltungen werden Wettbewerbe ausgeführt und Tangos
werden in zunehmendem Maße auf Schallplatten eingespielt.
Bilder aus der Tanzschule des Tangolehrers Carlos Herrera (Buenos Aires, 1913) |
4. Weltmusik und die
deutsche Schallplattenindustrie
Phonographen und
Sprechmaschinen (Grammophone) werden anfänglich zur Aufnahme und
Wiedergabe der menschlichen Stimme entwickelt. Es zeigt sich aber
bald, dass Musikaufnahmen einen weit größeren Markt zur
kommerziellen Erschließung darstellen.
Das Interesse, neue Dinge
zu hören, wird schon früh in der Geschichte der Schallplatte als
Vermarktungsstrategie aufgegriffen. Produzenten schicken Ingenieure
in fremde Länder, um dort Aufnahmen zu machen. Diese werden dann an die
Firma zurückgesandt, wo sie zu Schallplatten verarbeitet und
verkauft werden.
Auch im Herkunftsland
lassen sich die Schallplatten verkaufen, aber die Transportkosten
schlagen sich negativ im Preis nieder. Zuzüglich gibt es oft Einfuhrzölle,
die eingerichtet wurden, um einheimische Firmen vor der
ausländischen Konkurrenz zu schützen. Die größeren deutschen
Schallplattenfirmen wie Lindström gehen dazu über, in Ländern mit
einem großen Verkaufsmarkt Fabriken aufzubauen, um so die
Transportkosten und Zölle zu umgehen.
5. Atlanta
Atlanta ist eine
Tochterfirma des Berliner Schallplattenproduzenten Dacapo Record GmbH
/ Lyrophonwerke. Zur Zeit des europäischen Tangofiebers richtet
Atlanta ein Aufnahmestudio in Buenos Aires ein und vermarktet die
Schallplatten vor Ort. Tango nimmt den wichtigsten Platz im Katalog ein.
Schallplatten mit Tangomusik waren keine Neuheit in Argentinien. Es
handelte sich aber meist um Tangolieder mit einfacher Begleitung.
Atlanta bietet Tangos als Tanzmusik an. Die Firma gründete ihr
eigenes Orchester „Atlanta“, nimmt aber auch andere Gruppen auf
(z.B. das städtische Blasorchester, die Rondalla Vazquez, u.a.m.).
Als ein noch heute geläufiger Name profiliert sich hier zum ersten
Mal Roberto Firpo mit seinem Orchester.
Bekanntgabe
der Firmenregistrierung
|
Atlantas Schallplatten
werden nur in Argentinien verkauft. Die Musik, die aufgenommen wird,
erreicht aber auch Deutschland. 1914 veröffentlichen die Berliner
Lyrophonwerke (verbunden mit Atlantas Stammfirma, inzwischen auch
zum Lindström Konzern gehörig) eine Liste von „original
südamerikanischen Tangos“, gespielt von vier Musikgruppen aus
Buenos Aires, unter denen sich das Orchester Atlanta und das
städtische Blasorchester befinden. Es ist anzunehmen, dass die
anderen Gruppierungen auch von Atlanta aufgenommen wurden. Auf einer
Schallplatte spielt das „Argentinische Gaucho Quartett“ die
Tangos „La Viruta“ und „Vamos a ver“ von Vicente Greco und
Francisco Canaro. Beide Tangos finden sich auch auf einer der Atlanta
Schallplatten, allerdings ohne Angabe der ausführenden Musiker.
Tango-Annonce
der Lyrophone, September 1913
|
Atlanta existiert in
Buenos Aires für kaum mehr als ein Jahr. An Atlantas Stelle tritt eine
andere Tochterfirma des Lindström Konzerns: die Odeon.
6. Odeon und Glücksmann,
1913-1019
Odeon Schallplatten waren
seit mindestens 1906 in Buenos Aires erhältlich. Alleiniger
Vertreter für Fonotipia, Muttergesellschaft der International
Talking Machine Comp. (Odeon), war Casa Tagini.
1913 werden Fonotipia und
ihre Tochtergesellschaften dem Lindström Konzern eingegliedert. Im
gleichen Jahr nimmt eine neue Lindström-Fabrik des Konzerns in Rio de Janeiro
die Produktion auf. Die alleinige Vertretung für Odeon und Fonotipia in Argentinien, Uruguay
und Paraguay übernimmt nun Max Glücksmann, der bisher nur Victor-Produkte ohne
Exklusivrechte angeboten hatte.
Glücksmann verkauft jetzt
auch Odeon Schallplatten und Grammophone. Bis 1914 bleibt das
Schallplattenrepertoire international. Mit der Auflösung von Atlanta
findet sich dann aber ein eausgiebige Liste von „Criollo“-Platten im
Angebot. Roberto Firpo, vorher bei Atlanta, wird von Glücksmann
unter Vertrag genommen und wird zum herausragendsten
Tango-Komponisten und Orchesterleiter der nächsten 10 Jahre. Es ist
wahrscheinlich, dass Glücksmann Atlantas Aufnahmestudio aufkaufte,
denn von 1914 an werden Schallplatten in seinen Gewerberäumen
aufgenommen.
Odeon-Annonce
mit Tango, Buenos Aires, März 1914
|
Mit dem Ausbruch des
ersten Weltkrieges wird es für deutsche Firmen zunehmend schwerer,
sich am internationalen Handel zu beteiligen. Bis 1917 fährt Odeon
fort, neue Schallplatten Buenos Aires herauszubringen. Danach werden Glücksmanns
Musiker als „nationale Platten“ katalogisiert oder erscheinen
unter dem Markennamen der Künstler („discos Gardel-Razzano“,
„discos Roberto Firpo“, usw.) Es ist offensichtlich schwierig,
unter Kriegsbedingungen die Vertragslage zu klären.
7. Glücksmann und Odeon,
1920-1923
1920 kündigt Glücksmann
eine „sensationelle Neuigkeit“ an: die ersten Schallplatten mit
international bekannten Künstlern, die in der „ersten und einzigen
Fabrik“ Argentiniens hergestellt wurden. Der Lindström Konzern hat
eine Fabrik, die modernste in Südamerika, in Betrieb genommen. Die
vertraglichen Fragen sind geklärt; Glücksmanns Schallplatten
erscheinen nun unter dem Markennamen „Disco Nacional“. Die Anzahl der
Musiker, deren Aufnahmen angeboten werden, ist weiterhin gering. Die
„Stars“ der Liste sind Roberto Firpo, das Gesangsduo Carlos
Gardel und José Razzano und die Schauspielerin und Sängerin Lola
Membrives.
Von 1922 an erscheint das
Odeon Markenzeichen wieder auf den Schallplattenetiquetten. In einer
Anzeige wird darauf hingewiesen, dass nur „Disco Nacional“
Schallplatten mit dem Odeon Markenzeichen authentisch sind.
Im folgenden Jahr
erweitert sich das Repertoire der Nacional-Odeon. Neue argentinische
Musiker werden unter Vertrag genommen, wie zum Beispiel Francisco
Canaro, Pacho Maglio und Juan Carlos Cobián. Mit dem
„Zigeunerorchester Sandor Jozsi“ ist auch Musik aus Deutschland
vertreten. Sandor Jozsi ist ein Pseudonym für den Violinisten Dajos
Béla, der ein Tanzorchester in Berlin leitete und bei Odeon unter
Vertrag stand. Er wird mit seinem Jazz-Orchester zum festen
Bestandteil der Odeon-Liste in Deutschland und Argentinien.
Odeon bleibt bis in die dreißiger Jahre ein wichtiger
Verbindungspunkt zwischen Musik und Musikern in Argentinien und
Europa. Odeon bietet Schallplatten von Firpo, Canaro, Fresedo und
anderen in Europa zum Verkauf an. Wenn Glücksmanns Musiker nach Europa kommen—wie
zum Beispiel Carlos Gardel—machen sie Aufnahmen mit Odeon. Dajos
Béla, der als Jude 1933 Deutschland verlassen muss, siedelt sich in
Argentinien an, gründet ein Orchester und komponiert Musik für
Filme, die von Francisco Canaro produziert werden.
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