Unter den Kompositionen
der frühen Geschichte des Tangos gibt es einige Stücke, die von
späteren Orchestern als Tangos sowie als Milongas eingespielt
wurden. Den erfahrenen Tangotänzern werden die verschiedenen
Versionen bekannt vorkommen, vielleicht ohne es zu bemerken, dass sie
heute auf zwei verschiedene Weisen getanzt werden. Oder es wird
überraschen, dass es eine andere Version gibt als die, die heute
üblicherweise getanzt wird.
Ein auffallendes Beispiel
dafür ist El Porteñito
von Ángel Villoldo (1861-1919), das die meisten Tangotänzer als
Milonga, eingespielt vom Orchester Ángel D'Agostino und gesungen von
Ángel Vargas, kennen werden. Man kann das Stück aber auch als Tango
vom Orchester Juan D'Arienzo oder—seltener—dem Orquesta Típica
Victor, Canaros Quinteto Pirincho oder dem Orchester Adolfo Pérez
hören. Villoldo bezeichnete El Porteñito
als „tango criollo“ und nicht als Milonga. Tatsächlich
komponierte Villoldo nur eine Handvoll Milongas, und die haben mit
dem, was wir heutzutage unter Milonga verstehen, wenig gemein. Der
größte Teil seiner Kompositionen sind Tangos—Tangos, denen
verschiedene Attribute beigestellt wurden: „criollo“,
„argentino“, „nacional”, „milonga”. Spätere Orchester
spielten diese Stücke zumeist auf die eine oder andere Weise ein.
Der „tango milonga” El Esquinazo
und der „tango criollo” El Torito
wurden üblicherweise als Milonga aufgenommen, der „tango criollo”
La Morocha aber als
Tango. Juan D'Arienzo arrangierte den „tango argentino” Bolada
de aficionado als Milonga,
den „tango criollo” Yunta brava
aber als Tango.
Wir
betonen noch einmal: Der Komponist bezeichnete all diese Stücke als
Tangos. Wir werden uns hier nicht damit auseinandersetzen, warum
Orchester sich entschlossen, die Stücke auf die eine oder andere Art
zu spielen. Wir akzeptieren es schlicht als historische Gegebenheit.
Wir werden aber aufzeigen, dass die unterschiedlichen
Interpretationen eine begriffliche Veränderung von Tango und Milonga
innerhalb der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erkennen
lassen. Wir konzentrieren uns auf die Kompositionen von Villoldo, dem
„göttlichen Wesen unserer populären [argentinischen] Musik“
(Francisco Canaro), da diese damals wie heute sehr bekannt waren und
sein Werk eine große Quellensammlung darstellt. Die Argumentation,
die im Folgenden entwickelt wird, trifft aber ebenso auf andere
Komponisten zu.
1. Die moderne Auffassung von „Tango” und „Milonga”
Tango
stand von Anfang an mit Tanz in Verbindung. Die meisten Tangos waren
instrumentale Stücke, die für Ensembles verschiedener Größe
arrangiert wurden. Tangos mit Texten gab es zuerst relativ wenige.
Wenn jedoch ein Text geschrieben wurde, thematisierte er häufig den
Tango als Tanz sowie seine Tänzer. Der Erzähler von Villoldos El
Torito z.B. rühmt sich seiner Geschicklichkeit beim Tanzen der
argentinischen Nationaltänze (zu denen die Milonga allerdings nicht
gezählt wird):
Dieser
Rhythmus bildet das Bindeglied zwischen Villoldos Tangos und ihrer
späteren Arrangements als Milongas. Obwohl die Differenzierung
zwischen Milonga mit und Tango ohne Habanera-Rhythmus für Stücke,
die nach 1930 geschrieben wurden, größtenteils zutrifft, kann dies
für frühere Kompositionen nicht aufrechterhalten werden. Während
der ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde der
Habanera-Rhythmus auch zu Tangos gesetzt.
Als
Beispiel geben wir die untere Stimme des Klavier-Arrangements von
Villoldo's „tango criollo“ Don Pedro wieder, die den
Gebrauch des Habanera-Rhythmus veranschaulicht und dem einer Milonga
sehr nahe kommt. Der Tango besteht aus drei Teilen (angegeben als A,
B und C ), die hier ohne die üblichen Wiederholungen gespielt
werden.
Villoldo, Don Pedro, Auszug, langsam
Der
Habanera-Rhythmus zieht sich unverkennbar durch das ganze Stück. Der
Unterschied zu einer Milonga liegt allein im Tempo. Würde man das Tempo
anziehen und das Stück schneller spielen, könnte dieser „tango
criollo“ leicht als Milonga getanzt werden:
Villoldo, Don Pedro, Auszug, schnell
Ist
die Milonga dann also einfach ein schneller Tango mit dem
Habanera-Rhythmus als Begleitfigur? Viele Tangos der dreißiger und
vierziger Jahre könnte man so beschreiben. Aber—wie oben
angedeutet—zwanzig Jahre früher wäre eine solche Differenzierung
auf Grund nicht möglich gewesen, denn der Habanera-Rhythmus wurde
auch in Tangos als ausgeprägte Begleitfigur angewandt. Darüber
hinaus ist festzustellen, dass das Begriff „Milonga“ in der
frühen Geschichte des Tangos eher mit Dichtung und Gesang als mit
Tanzmusik oder einem speziellen Tanz assoziiert wurde.
2. Das “Repertorio Criollo”
Die Entwicklung des Tangos verlief—glücklicherweise—parallel zur Entwicklung der musikalischen Tonaufzeichnung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Argentinien noch keine Schallplattenindustrie. Schallplattenfirmen aus Europa und der Vereinigten Staaten schickten aber Techniker nach Buenos Aires, um dort Musik aufzunehmen. Die Aufnahmen wurden in die Heimatländer zur Verarbeitung zurückgeschickt, um schließlich als Schallplatten zum Verkauf wieder nach Argentinien gesandt zu werden.
Um
Aufnahmen argentinischer von ausländischer Musik zu unterscheiden,
wurden diese üblicherweise als „repertorio criollo“
gekennzeichnet. Das Adjektiv „criollo“ diente zur Identifizierung
Musikstücken und -gattungen, die in Argentinien oder der
Rio-de-la-Plata-Region entstanden waren. Tango und Milonga gehörten
zu diesem Korpus der „einheimischen“ Musik, der eine große
Anzahl von Lied- (estilo, décima, vidalita, triste, usw.) und
Tanzformen (pericón, gato, zamba, chacarera, usw.) einschloss.
Vor
der Einführung des Radios in Argentinien kündigten die größeren
Schallplattenfirmen ihre Neuerscheinungen in Zeitschriften an.
Zeitungsannoncen sind zwar keine Inventurlisten oder
Verkaufsbilanzen, aber sie geben zu erkennen, was für Musik von
Orchestern eingespielt und vom Publikum gekauft und gehört wurde.
Zumindest zeigen sie an, welche Musik nach Ansicht der
Schallplattenproduzenten bei ihren Kunden Anklang finden würde. Das
folgende Inserat der nordamerikanischen Firma Victor, veröffentlicht
im November 1906, kündigt das Eintreffen eines neuen
„Criollo“-Katalogs an, der drei Monate vorher aufgenommen worden
war.
Annonce von Cassels & Co., Buenos Aires, 1906 |
Die
komplette Liste mit mehr als 140 Stücken besteht aus “Liedern,
relaciones, Tangos, nationalen Liedern, Stücken für
Orchester und Blaskapellen, usw.“. Milongas werden nicht erwähnt,
aber ein Tango wird in der aufgegliederten Liste angeführt:
Villoldos El Porteñito, gesungen mit Orchesterbegleitung von
Frau de Campos. Tanzmusik wird nicht ausdrücklich erwähnt; dennoch
könnten sich unter den Lieder und Stücken für Orchester oder
Blaskapelle natürlich auch Tänze befinden.
Die
folgende Annonce von Max Glücksmanns Casa Lepage aus dem Jahre 1909
enthält eine umfangreichere und ausführlichere Liste von Victor
Schallplatten. Glücksmann war eine Schlüsselfigur in der
Entwicklung von Tango und Film in Argentinien. Er hatte das Casa
Lepage, die Firma seines früheren Arbeitgebers, 1908 erworben. Wie
kein Zweiter erkannte er die Geschäftsmöglichkeiten von
„Criollo“-Produkten und war maßgeblich an der Förderung des
Tangos beteiligt. (In einem späteren Interview gab er an, sehr stolz
darauf zu sein, drei Männer sehr reich gemacht zu haben: Roberto
Firpo, Francisco Canaro und Carlos Gardel.)
Annonce von Max Glücksmanns Casa Lepage Buenos Aires, 1909 |
Wie
die Liste der Annonce von 1906 enthält auch diese hauptsächlich
Gesangstitel (30 doppelseitige Schallplatten). Die größte Gruppe
von Stücken (24) besteht aus Liedern mit Gitarrenbegleitung. Unter
diesen befindet sich neben “Estilos”, “Décimas”, usw. auch
eine Milonga, El Perro, gesungen von einem “Payador”
(umherziehender Sänger).
Darüber
hinaus befinden sich dreizehn Tangos in der Liste. Drei wurden mit
Orchesterbegleitung von Alfredo Gobbi (Villoldo, El Porteñito
und El Caprichoso), beziehungsweise Lea Conti (Tango de la
Pollerita) gesungen. Das Orquesta Argentina Victor (Villoldos El
Choclo und—noch einmal—El Porteñito, sowie
Bevilacquas Apolo) und das Orchester des Apolo Theaters von
Buenos Aires (Ruiz, Golpea que te van a abrir und Alarcón,
Tirale mateca al gringo) nahmen fünf Tangos auf. Fünf
weitere sind von Blaskapellen eingespielt worden (zwei davon durch
John Philip Sousas Kappelle, wahrscheinlich in den Vereinigten
Staaten).
Die
Musiktypen der Liste können in drei Kategorien aufgeteilt werden.
Die größte Gruppe setzt sich aus Liedern mit Gitarrenbegleitung
zusammen. Orchester und Blaskapellen bilden eine weitere Gruppe: sie
umfasst die meisten Tangos und einige „vals“ und kommt somit der
Tanzmusik am nächsten. Die letzte Gruppe ist vielleicht am besten
als Bühnenmusik bezeichnet, d.h. Musik, wie sie in einem Theater,
Varieté oder Cabaret aufgeführt wurde. Hier finden wir
humoristische Lieder und Szenen gesungen von Ángel Villoldo und/oder
Alfredo Gobbi, sowie Rezitationen und Auszüge aus Bühnenwerken.
Unter den Sängern befinden sich auch Schauspieler. Lea Conti und
Arturo de Nava gehörten der Schauspieltruppe der Podestá Familie
an. Conti war auch mit Antonio Podestá, dem zugeschrieben wird, die
ersten Tangos für das Theater komponiert zu haben, verheiratet.
Zweifelsohne wurden einige von diesen von Conti gesungen. Arturo de
Nava wirkte in der selben Truppe als Galan und Tangotänzer mit.
Zwei
Ereignisse des Jahres 1912 veränderten den Lauf der Tangogeschichte:
Tango wurde zum Modetanz in Paris und der deutsche
Schallplattenkonzern Lindström eröffnete die erste
Produktionsanlage für Schallplatten in Argentinien. Max Glücksmann
wurde zum Alleinvertreter für die Schallplattenmarke Odeon ernannt.
Die Entwicklungen in Paris verschafften dem Tango auch in Argentinien
eine größere Popularität, was unter Anderem zur Entstehung eines
einheitlichen Tango-Orchesters beitrug (“orquesta típica”), das
sich aus Violinen, Bandoneons, Bass und Klavier zusammensetzte.
Glücksmann nahm die besten Musiker und Orchester für Odeon unter
Vertrag: zuerst Roberto Firpo, dann Eduado Arolas und später Carlos
Gardel und Francisco Canaro.
Annonce
von Glücksmanns Casa Lepage, Buenos Aires, 1914
|
Die
Musik wird nicht ausdrücklich als Tanzmusik angepriesen, aber die
Auswahl der Stücke lässt erkennen, dass die Orchester auf diese Art
Musik spezialisiert sind. Neben einer Handvoll „vals“ und
nordamerikanischen Tänzen sind die meisten Stücke Tangos. Milongas
fehlen in der Liste.
Annonce
Victor Talking Machine Co., Buenos Aires, 1917
|
Im
zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte der Tango
eine stärkere Identität als Tanzmusik. Das „repertorio criollo”
der obigen Annonce teilt sich in Gesangs- und Tanzmusik. Blaskapellen
und (Theater-) Orchester wurden durch „orquestas típicas“ und
(auch allmählich verschwindenden) „rondallas“ (d.h., Orchester
mit einer Besetzung von Violinen, Mandolinen, Flöte und Klavier)
ersetzt . Tango ist der mit Abstand am häufigsten aufgenommene Tanz,
gefolgt von „vals“ und einem gelegentlichen „criollo“ oder
„ausländischem“ Tanz. Eine Milonga gibt es weder als Gesangs-
noch als Tanzstück.
Während
der 1920-iger Jahre findet man in Schallplattenannoncen gelegentlich
Stücke, die als Milongas gekennzeichnet sind. Dies sind aber nicht
Tanzstücke, sondern Lieder, üblicherweise mit Gitarrenbegleitung.
Im folgenden Beispiel finden sich zwei solcher Milongas: eine wurde
von Rosita Quiroga komponiert und gesungen, die andere vom Duo Néstor
Feria („El Gaucho Cantor“) und Italo Goyeche.
Annonce
Discos Victor, Buenos Aires, 1923
|
Zusammenfassend
lässt sich feststellen: Aus Verkaufsannoncen für Musikschallplatten
der ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts läßt sich
schließen, dass Tangos seit dem Beginn von Musikaufzeichnungen in
Argentinien aufgenommen und verkauft wurden. Die Standardisierung des
Tango-Orchesters und eine Konzentrierung auf Tanzmusik begann nach
1912, als Tango in Paris populär geworden war und weltweite
Aufmerksamkeit erregt hatte. Schallplatten mit Milongas wurden
dagegen selten inseriert, und diese Stücke wurden nicht von
Orchestern aufgenommen, sondern waren Lieder mit Gitarrenbegleitung.
3. Die Bedeutung von“Milonga” und “Milonguero” vor 1930
Tango stand von Anfang an mit Tanz in Verbindung. Die meisten Tangos waren instrumentale Stücke, die für Ensembles verschiedener Größe arrangiert wurden. Tangos mit Texten gab es zuerst relativ wenige. Wenn jedoch ein Text geschrieben wurde, thematisierte er häufig den Tango als Tanz sowie seine Tänzer. Der Erzähler von Villoldos El Torito z.B. rühmt sich seiner Geschicklichkeit beim Tanzen der argentinischen Nationaltänze (zu denen die Milonga allerdings nicht gezählt wird):
Aquí tienen a “El
Torito",
el criollo más
compadrito
que ha pisao la
población.
Dondequiera me hago ver
cuando llega la
ocasión.
Pa' la danza soy
ladino,
y en cualquier baile
argentino
donde yo me he
presentao,
al mozo más bailarín
he dejao acobardao.
…
En los bailes
nacionales
nadie nos puede
igualar,
pues yo y mi prenda
formamos
La pareja sin rival.
Lo mismo bailamos tango
que gato con relación,
la zamacueca, el
cielito,
la huella y el pericón.
|
Hier ist er, “der
kleine Stier”,
der dreisteste criollo,
der jemals die
Ortschaft betrat.
Ich zeige mich überall,
wenn ich dazu
Gelegenheit habe.
Ich bin gewieft im
Tanz,
und in jedem
argentinischen Tanz,
in dem ich aufgetreten
bin,
hab' ich selbst den
tänzerischsten Burschen
eingeschüchtert
zurückgelassen.
...
In den Nationaltänzen
kommt uns keiner
gleich,
denn meine bessere
Hälfte und ich
sind ein
unvergleichliches Paar.
Wir tanzen Tango
genauso wie
gato zu einer
relación,
die zamacueca,
den cielito
die huella und
den pericón.
|
Im
Gegensatz zum Tango ist die Beziehung der Milonga zum Tanz
vieldeutiger. Es gibt Textquellen, in denen Situationen beschrieben
werden, bei denen man zur Musik einer Milonga tanzte, aber solche
Darstellungen gehen nicht über Allgemeines hinaus und machen keine
Angaben über den Tanz selbst. Der Grund dafür liegt teilweise in
der Verwendung des Begriffes „Milonga“, der nicht nur zur
Bezeichnung eines Musiktyps benutzt wurde, sondern auch in einem
weiteren Sinne für Veranstaltungen, bei denen Musik gespielt wurde;
und in einem spezifischeren Sinne für Veranstaltungen, bei denen
Gedichte vorgetragen wurden—gesungen zur Begleitung einer Gitarre.
Abbildung,
“Die Milonga des Cocoliche”, Caras y Caretas, Buenos
Aires, 1916
|
Der Begriff „Milonga“ hatte folglich eine starke Verknüpfung mit der Dichtung und dem gesungenen Vortrag eines Gedichtes. Im Argentinien des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts war dichten ein weit verbreitetes Hobby und in allen Bevölkerungsschichten beliebt und ausgeübt. Die Milonga war neben vidalita, relación, décima, triste, usw. eine der üblichen poetischen Formen, die mit oder ohne Gitarrenbegleitung gesungen vorgetragen wurden.
José Betinotti, Milonga Obsequio, 1913
Milongas
sind Gedichte mit einem erzählenden Texten, d.h. sie bestehen aus
einer Anzahl von Strophen und geben eine Geschichte wieder. Je nach
Erzähler kann der Text eine Szene aus dem Land- oder Stadtleben
wiedergeben, aber viele sind Schilderungen von Trübsal und
verlorener Liebe.
Es
ergibt sich aus der Verbindung von Milonga und Dichtung, dass ein
„Milonguero“ kein Tänzer (die moderne Assoziation) war, sondern
ein Dichter oder Sänger von Milongas. Der Journalist Ricardo Sanchez
beschrieb den Milonguero in 1920 als das städtische Gegenstück zum
ländlichen umherziehenden Sänger, dem Payador:
Der
Milonguero ist in den Republiken des Rio de la Plata weit bekannt.
Seine Wesensart hat etwas vom Payador, dem Gaucho-Dichter
(bewundernswert beschrieben von Ascasubi). Jedoch mit der Ausnahme,
dass der Letztere mit Improvisationen zum Takte der Musik breitere
Horizonte umfasst und seine Inspiration vom inbrünstigen
patriotischem Lied, das mitreißt, bis zum berührenden sentimentalem
triste steigert. Der
Erstere pflegt eine spezielle, besonders gekennzeichnete Gattung mit
einem vorstädtischem Aroma, das seinen Gefährten zusagt.
Es
gibt einen weiteren Unterschied. Der Payador ist ein ausschließlich
ländlicher Typ. Er ist der Troubadour des Hochlands und seine Bühne
sind die ländlichen Bodegas und Unterkünfte. Den Milonguero trifft
man nur in den Städten an. Die Stätten seines Wirkens sind die
kleinen Cafés der Vororte und die als academias
bekannten Tanz- und Spielhallen, wo die erlesensten Artgenossen der
Unterschicht zusammenkommen.
…
Es
gibt nur wenige echte Milongueros unter uns. Die meisten, die sich so
nennen, sind nichts als routinemäßige Imitatoren; oder: weil sie
der spontanen Inspiration ihrer Vorgänger ermangeln, singen sie nur,
was sie auswendig gelernt haben. Die anderen aber sind meistens
originell und reizend.
Die
Verbindung von Milonga und Gesang setzte sich auch in den zwanziger
Jahre fort und schlug sich auch in Tangos nieder. Der Text von Carlos
di Sarlis Milonguero viejo (ein Stück das Osvaldo Fresedo
gewidmet war), beschreibt die nächtliche Serenade eines Milongueros:
El barrio duerme y
sueña
al arrullo de un triste
tango llorón;
en el silencio tiembla
la voz milonguera de un
mozo cantor.
La última esperanza
flota en su canción,
en su canción maleva
y en el canto dulce
eleva
toda la dulzura de su humilde amor.
|
Das Viertel schläft und träumt
zum Wiegenlied eines traurigen, wehleidigen
Tangos;
durch das Schweigen zittert
die Milonguera-Stimme
eines jungen Sängers
Die letzten Hoffnung
zieht sich durch sein Lied,
in seinem
verführerischen Lied
und wonnigem Gesang
erhebt sich
die ganze Süße
seiner demütigen Liebe.
|
Enrique Carrera Sotelo, Milonguero viejo
Selbst
in 1932, als Homero Manzi und Sebastián Piana ihre „Milonga
sentimental“ komponierten und damit den Keim für eine neue Art
Milonga schufen, war die Erzählende eine Sängerin:
Milonga pa' recordarte.
Milonga sentimental.
Otros se quejan
llorando
yo canto pa' no llorar.
...
Milonga que hizo tu
ausencia.
Milonga de evocación.
Milonga para que nunca
la canten en tu balcón.
|
Milonga, um dich zu erinnern,
sentimentale Milonga.
Andere klagen weinend,
ich singe, um nicht zu weinen.
…
Milonga, die deine Abwesenheit schuf,
Milonga der Erinnerung.
Milonga, damit sie sie nie
auf deinem Balkon singen.
|
Homero
Manzi: Milonga Sentimental
4. Tango und Milonga als musikalische Formen
Die
unterschiedlichen Verwendungen of Tango und Milonga ließen
verschiedene musikalische Strukturen entstehen. Da die Musik der
Milonga der Begleitung eines Textes diente, wurde sie einfacher
gehalten, um nicht vom gesungenen Vortrag des Milongueros abzulenken.
Benottis Milonga Obsequio (siehe oben), beginnt mit einer
kurzen, vier Takte langen Einleitung der Gitarre (a). Dann singt
Benotti die erste Strophe der Milonga, die aus zwei Phrasen von acht,
beziehungsweise zwölf Takten besteht (bc). Die Einleitung der
Gitarre wird dann wiederholt, und die zweite Strophe wird gesungen,
usw. Die sich daraus ergebende musikalische Form ist ein einfaches,
sich wiederholendes Schema von Einleitung und Strophe:
a
bc a bc a …
Tango
war dagegen hauptsächlich Instrumentalmusik, und die musikalische
Form musste kunstvoller sein, um sie für dem Hörer interessanter zu
machen. Wir merkten oben an, dass der Tango „Don Pedro“ aus drei
Abschnitten bestand, dessen dritter Teil (C) als „Trio“
gekennzeichnet wurde. Eine solche dreiteilige Aufteilung ist typisch
für Tangos, die vor 1930 komponiert wurden.
Jeder
dieser Abschnitte hat seine eigenen Melodien, die so gesetzt sind,
dass sie sich im Charakter hörbar von den anderen unterscheiden.
Dazu sind die Abschnitte harmonisch voneinander abgegrenzt; oft ist
es das „Trio“, das die auffälligste harmonische „Farbe“
beiträgt. Die frühen Komponisten wie Villoldo gingen dafür gerne
in die Paralleltonart (Moll oder Dur je nach der Haupttonart), die
späteren bevorzugten die Varianttonart (z.B. von A-Moll nach A-Dur,
usw.).
Man
kann die Abschnitte als Bausteine betrachten, aus denen sich eine
Komposition mit Hilfe von Wiederholungen zusammensetzt. Ein
Wiederholungsschema kann sich als AB C AB, ABC ABC A oder anders
aufbauen. Es gibt keine allgemein gültige Regel, wie das Schema
ausgeführt werden muss. Tatsächlich ergibt sich das musikalisch
Interessante gerade aus der Vielfalt, in der ein Tango formal
konstruiert werden kann. Ein Wiederholungsschema zu variieren gehörte
daher auch zu den Mitteln, eine neue Version zu schaffen, die sich
von denen der anderen Orchester unterschied.
5. Vom Tango zur Milonga: Villoldos El Porteñito
El
Porteñito ist eine der erfolgreichsten Tangos Villoldos. Schon
1906 wurde er zum ersten Mal eingespielt, und es folgte eine lange
Serie von Aufnahmen, die sich bis in unsere Tage fortgesetzt hat. Die
oben angeführten Zeitungsannoncen von 1906 und 1909 zeigen drei
Versionen auf: zwei für Gesang und Orchester (gesungen von „Frau
de Campos“ beziehungsweise Alfredo Gobbi) und eine
Orchesterversion, gespielt vom Hausorchester der Schallplattenfirma
Victor.
Als
einer der wenigen Tangos mit Text wurde El Porteñito von
vielen Sänger aufgenommen. Das folgende Beispiel gibt die
französische Sängerin Andrée Vivianne (oder Andhrée Viviane)
wieder, die für einige Jahre in Buenos Aires auftrat und dort den
Tango im Jahre 1909 aufnahm.
El Porteñito, Andrée Vivianne, 1909
Wenn
der Habanera-Rhythmus und das Tempo der Orchestereinleitung auch an
eine modern Milonga erinnern, so verändert sich der Charakter des
Stückes jedoch, sobald die Sängerin mit der ersten Strophe
einsetzt. Das Tempo verlangsamt sich erheblich. Das vorgetragene
Stück ist kein Tanz; es wäre einem tanzenden Publikum zu schwierig
den vielen Tempowechseln, Ritenuti und Fermaten zu folgen. Die
Aufnahme gibt den typischen Konzertvortrag eines Liedes wieder, wie
er in einem Theater, Varieté oder Cabaret dargeboten wurde.
Alfredo
Gobbi und seine Frau Flora Rodríguez nahmen eine ähnliche Version
auf, auch mit Orchesterbegleitung. Sie änderten allerdings den Text
und verwandelten das Stück in eine andere Art des Bühnenvortrags,
der ihre Spezialität war: eine komische Szene. El criollo
falsificado erzählt die Geschichte eines Immigranten in Buenos
Aires, der vorgibt, ein echter „criollo“ zu sein und sich seiner
Fähigkeiten im Tango tanzen rühmt. Sein entstelltes Spanisch und
tollpatschiges Auftreten stellen ihn aber als einen neu
eingetroffenen „Bauern-Gringo“ bloß, der prompt von der echten
„porteña“ Flora Rodríguez verhöhnt wird.
El Criollo Falsificado, Flora Rodríguez und Alfredo
Gobbi, 1906
In
dieser Aufnahme sind die Zwischenspiele des Orchesters zwischen den
einzelnen Strophen des Gesangs durch Dialoge ersetzt worden. Die
Darbietung ist noch weniger ein Tanz als Viviannes Einspielung. Da
der Text aber vom Tango tanzen handelt, ist es durchaus
wahrscheinlich, dass die Gobbis während einer Aufführung selbst
tanzten—einen Tango natürlich.
Die
folgende Version von El Porteñito, 1949 von Adolfo Pérez und
seinem Orquesta Típica de la Guardia Vieja, ist eigentlich die
jüngste, die wir hier vorstellen werden. Vom Namen des Orchesters
und seiner Besetzung (Bandoneons, Violinen, eine Flöte und zwei
Gitarren anstelle eines Klaviers und kein Kontrabass) ist aber
ersichtlich, dass das Orchester einen älteren Stil wiedergeben
wollte.
El Porteñito, Adolfo Pérez und das Orquesta Típica
de la Guardia Vieja, 1949
Die
Aufnahme von Pérez ist eine eigenartige Interpretation von El
Porteñito, denn sie vermischt Elemente aus unterschiedlichen
Phasen der Tangoentwicklung. Eine Besetzung mit Flöte und Gitarren
war charakteristisch für Tango-Orchester um 1915. Zu der Zeit wurden
Melodie und Begleitung klar getrennt und der Gitarre durchgehend der
Habanera-Rhythmus als Begleitfigur zugeteilt. Genau wie die einzige
Flöte, waren Violinen und Bandoneons oft nur mit einem Instrument
vertreten. Diese Instrumente spielten die Melodie größtenteils
zusammen und fügten nur gelegentlich Verzierungen hinzu. Die
Orchestrierung von Pérez ist wesentlich komplexer als die der frühen
Tangos. Er fügt viele Nebenmelodien, vollklingende Harmonien und
lebhafte Bassfiguren hinzu, die man eher von einem Symphonieorchester
als einer Tangokapelle erwarten würde. In diesem Sinne ist Pérez'
El Porteñito ein Produkt der 1940-iger Jahre, das als
langsamer Tango mit Habanera-Rhythmus herausgeputzt wurde, um
„historisch“ zu klingen.
Die
Wiedergabe von El Porteñito durch das Orquesta Típica Victor
ist dagegen typisch für den Stil der späten 1920-iger Jahre. Im
Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen ist hier der punktierte
Habanera-Rhythmus aus der Begleitung vollkommen verschwunden. Dafür
hört man in den tiefen Bandoneons und dem Klavier gleichwertige
Achtelnoten, die sich wie ein Pulsschlag durch das ganze Stück
ziehen. Es gibt dem Stück einen marschähnlichen Charakter, der klar
macht, wofür diese Musik gespielt wird: zum Tanzen, d.h., Tango.
El Porteñito, Orquesta Típica Victor, 1928
Juan D'Arienzo nahm eine Reihe von Villoldos Tangos auf: einige als
Milongas, andere (einschließlich El Porteñito) als Tango.
Zwischen seiner und der neun Jahre früher aufgenommenen Version der
Típica Victor besteht stilistisch kein großer Unterschied. Beide
Orchester haben den Habanera-Rhythmus fallen gelassen, spielen in der
gleichen Instrumentierung und ungefähr im gleichen Tempo.
Unterschiede sind eher im persönlichen Stil der Orchester zu
erkennen. D'Arienzo lässt z.B. im Abschnitt C und in der letzten
Wiederholung des A Abschnitts die Bandoneons eine variación
spielen. Und—als ob er unterstreichen wollte, dass seine Version
ein Tango ist—veränderte er die rhythmische Struktur, besonders im
Abschnitt B, mit zusätzlichen síncopas.
El Porteñito, Orquesta Típica Juan
D'Arienzo, 1937
Unser letztes Beispiel, Ángel d'Agostinos Aufnahme von El
Porteñito aus dem Jahre 1943, ist heute vielleicht die
bekannteste Version.
El Porteñito, Orquesta Típica Ángel
d'Agostino, 1943
Die
Aufnahme ist gutes Beispiel für eine „moderne“ Milonga: ein
Tanzstück mit schnellem Tempo und einem klar definiertem
Habanera-Rhythmus als Begleitfigur. Diese Milonga ist kein Lied, kein
gesungenes, von einer Gitarre begleitetes Gedicht. Der Text wurde
umgeschrieben und gekürzt, um nur in den beiden Wiederholungen des B
Abschnitts gesungen zu werden. Im Vergleich zu den oben angeführten
gesungenen Versionen von El Porteñito
ist der Text hier von untergeordneter Bedeutung. Aus dem Lied wurde
eine Milonga, wie wir sie heute verstehen: ein Stück Tanzmusik.
Es
ist offensichtlich, dass sich von den 1920-iger Jahren bis zur Zeit
von d'Agostinos Aufnahme das ganze Konzept der Milonga verändert
hatte. Dies ist eine Geschichte für sich, die den Rahmen dieser
Arbeit sprengen würde. Um jedoch noch einmal zu zeigen, dass Musiker
vor und nach 1930 eine andere Auffassung von der Milonga hatten,
wollen wir noch ein weiteres Beispiel anführen.
In
den späten 1920-iger Jahren wurden viele Aufnahmen mit Titeln
veröffentlicht, die sich auf die Milonga beziehen: „Cuando llora
la milonga”, „Milonga”, „Milonga con variación”, „Milonga
canyengue”, „La eterna milonga”, „Milonga criolla” (Canaro,
1928), usw. Diese Stücke waren aber alle Tangos. Selbst Canaros
„Milonga criolla“ aus dem Jahre 1928 ist ein Tango und nicht mit
der bekannten Milonga „Milonga criolla“ aus dem Jahre 1936
identisch. Drei Jahrzehnte später nahm er den Tango „Milonga
criolla“ noch einmal auf—diesmal aber unter dem Titel
„Arrabalera“ und bearbeitet als ... eine Milonga.
Orquesta Típica Francisco Canaro (1936, 1928),
Quinteto Pirincho (1960)
© 2017 Wolfgang Freis.
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