Saturday, July 22, 2017

Tango oder Milonga?


Unter den Kompositionen der frühen Geschichte des Tangos gibt es einige Stücke, die von späteren Orchestern als Tangos sowie als Milongas eingespielt wurden. Den erfahrenen Tangotänzern werden die verschiedenen Versionen bekannt vorkommen, vielleicht ohne es zu bemerken, dass sie heute auf zwei verschiedene Weisen getanzt werden. Oder es wird überraschen, dass es eine andere Version gibt als die, die heute üblicherweise getanzt wird.


Ein auffallendes Beispiel dafür ist El Porteñito von Ángel Villoldo (1861-1919), das die meisten Tangotänzer als Milonga, eingespielt vom Orchester Ángel D'Agostino und gesungen von Ángel Vargas, kennen werden. Man kann das Stück aber auch als Tango vom Orchester Juan D'Arienzo oder—seltener—dem Orquesta Típica Victor, Canaros Quinteto Pirincho oder dem Orchester Adolfo Pérez hören. Villoldo bezeichnete El Porteñito als „tango criollo“ und nicht als Milonga. Tatsächlich komponierte Villoldo nur eine Handvoll Milongas, und die haben mit dem, was wir heutzutage unter Milonga verstehen, wenig gemein. Der größte Teil seiner Kompositionen sind Tangos—Tangos, denen verschiedene Attribute beigestellt wurden: „criollo“, „argentino“, „nacional”, „milonga”. Spätere Orchester spielten diese Stücke zumeist auf die eine oder andere Weise ein. Der „tango milonga” El Esquinazo und der „tango criollo” El Torito wurden üblicherweise als Milonga aufgenommen, der „tango criollo” La Morocha aber als Tango. Juan D'Arienzo arrangierte den „tango argentino” Bolada de aficionado als Milonga, den „tango criollo” Yunta brava aber als Tango.


Wir betonen noch einmal: Der Komponist bezeichnete all diese Stücke als Tangos. Wir werden uns hier nicht damit auseinandersetzen, warum Orchester sich entschlossen, die Stücke auf die eine oder andere Art zu spielen. Wir akzeptieren es schlicht als historische Gegebenheit. Wir werden aber aufzeigen, dass die unterschiedlichen Interpretationen eine begriffliche Veränderung von Tango und Milonga innerhalb der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts erkennen lassen. Wir konzentrieren uns auf die Kompositionen von Villoldo, dem „göttlichen Wesen unserer populären [argentinischen] Musik“ (Francisco Canaro), da diese damals wie heute sehr bekannt waren und sein Werk eine große Quellensammlung darstellt. Die Argumentation, die im Folgenden entwickelt wird, trifft aber ebenso auf andere Komponisten zu.

1. Die moderne Auffassung von „Tango” und „Milonga”



Tango stand von Anfang an mit Tanz in Verbindung. Die meisten Tangos waren instrumentale Stücke, die für Ensembles verschiedener Größe arrangiert wurden. Tangos mit Texten gab es zuerst relativ wenige. Wenn jedoch ein Text geschrieben wurde, thematisierte er häufig den Tango als Tanz sowie seine Tänzer. Der Erzähler von Villoldos El Torito z.B. rühmt sich seiner Geschicklichkeit beim Tanzen der argentinischen Nationaltänze (zu denen die Milonga allerdings nicht gezählt wird):



Dieser Rhythmus bildet das Bindeglied zwischen Villoldos Tangos und ihrer späteren Arrangements als Milongas. Obwohl die Differenzierung zwischen Milonga mit und Tango ohne Habanera-Rhythmus für Stücke, die nach 1930 geschrieben wurden, größtenteils zutrifft, kann dies für frühere Kompositionen nicht aufrechterhalten werden. Während der ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde der Habanera-Rhythmus auch zu Tangos gesetzt.


Als Beispiel geben wir die untere Stimme des Klavier-Arrangements von Villoldo's „tango criollo“ Don Pedro wieder, die den Gebrauch des Habanera-Rhythmus veranschaulicht und dem einer Milonga sehr nahe kommt. Der Tango besteht aus drei Teilen (angegeben als A, B und C ), die hier ohne die üblichen Wiederholungen gespielt werden.


Villoldo, Don Pedro, Auszug, langsam


Der Habanera-Rhythmus zieht sich unverkennbar durch das ganze Stück. Der Unterschied zu einer Milonga liegt allein im Tempo. Würde man das Tempo anziehen und das Stück schneller spielen, könnte dieser „tango criollo“ leicht als Milonga getanzt werden:


Villoldo, Don Pedro, Auszug, schnell


Ist die Milonga dann also einfach ein schneller Tango mit dem Habanera-Rhythmus als Begleitfigur? Viele Tangos der dreißiger und vierziger Jahre könnte man so beschreiben. Aber—wie oben angedeutet—zwanzig Jahre früher wäre eine solche Differenzierung auf Grund nicht möglich gewesen, denn der Habanera-Rhythmus wurde auch in Tangos als ausgeprägte Begleitfigur angewandt. Darüber hinaus ist festzustellen, dass das Begriff „Milonga“ in der frühen Geschichte des Tangos eher mit Dichtung und Gesang als mit Tanzmusik oder einem speziellen Tanz assoziiert wurde.

2. Das “Repertorio Criollo”


Die Entwicklung des Tangos verlief—glücklicherweise—parallel zur Entwicklung der musikalischen Tonaufzeichnung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Argentinien noch keine Schallplattenindustrie. Schallplattenfirmen aus Europa und der Vereinigten Staaten schickten aber Techniker nach Buenos Aires, um dort Musik aufzunehmen. Die Aufnahmen wurden in die Heimatländer zur Verarbeitung zurückgeschickt, um schließlich als Schallplatten zum Verkauf wieder nach Argentinien gesandt zu werden.


Um Aufnahmen argentinischer von ausländischer Musik zu unterscheiden, wurden diese üblicherweise als „repertorio criollo“ gekennzeichnet. Das Adjektiv „criollo“ diente zur Identifizierung Musikstücken und -gattungen, die in Argentinien oder der Rio-de-la-Plata-Region entstanden waren. Tango und Milonga gehörten zu diesem Korpus der „einheimischen“ Musik, der eine große Anzahl von Lied- (estilo, décima, vidalita, triste, usw.) und Tanzformen (pericón, gato, zamba, chacarera, usw.) einschloss.


Vor der Einführung des Radios in Argentinien kündigten die größeren Schallplattenfirmen ihre Neuerscheinungen in Zeitschriften an. Zeitungsannoncen sind zwar keine Inventurlisten oder Verkaufsbilanzen, aber sie geben zu erkennen, was für Musik von Orchestern eingespielt und vom Publikum gekauft und gehört wurde. Zumindest zeigen sie an, welche Musik nach Ansicht der Schallplattenproduzenten bei ihren Kunden Anklang finden würde. Das folgende Inserat der nordamerikanischen Firma Victor, veröffentlicht im November 1906, kündigt das Eintreffen eines neuen „Criollo“-Katalogs an, der drei Monate vorher aufgenommen worden war.

Annonce Cassels & Co., Buenos Aires, 1906
Annonce von Cassels & Co., Buenos Aires, 1906



Die komplette Liste mit mehr als 140 Stücken besteht aus “Liedern, relaciones, Tangos, nationalen Liedern, Stücken für Orchester und Blaskapellen, usw.“. Milongas werden nicht erwähnt, aber ein Tango wird in der aufgegliederten Liste angeführt: Villoldos El Porteñito, gesungen mit Orchesterbegleitung von Frau de Campos. Tanzmusik wird nicht ausdrücklich erwähnt; dennoch könnten sich unter den Lieder und Stücken für Orchester oder Blaskapelle natürlich auch Tänze befinden.


Die folgende Annonce von Max Glücksmanns Casa Lepage aus dem Jahre 1909 enthält eine umfangreichere und ausführlichere Liste von Victor Schallplatten. Glücksmann war eine Schlüsselfigur in der Entwicklung von Tango und Film in Argentinien. Er hatte das Casa Lepage, die Firma seines früheren Arbeitgebers, 1908 erworben. Wie kein Zweiter erkannte er die Geschäftsmöglichkeiten von „Criollo“-Produkten und war maßgeblich an der Förderung des Tangos beteiligt. (In einem späteren Interview gab er an, sehr stolz darauf zu sein, drei Männer sehr reich gemacht zu haben: Roberto Firpo, Francisco Canaro und Carlos Gardel.)

Annonce Max Glücksmanns Casa Lepage, Buenos Aires, 1909
Annonce von Max Glücksmanns Casa Lepage Buenos Aires, 1909



Wie die Liste der Annonce von 1906 enthält auch diese hauptsächlich Gesangstitel (30 doppelseitige Schallplatten). Die größte Gruppe von Stücken (24) besteht aus Liedern mit Gitarrenbegleitung. Unter diesen befindet sich neben “Estilos”, “Décimas”, usw. auch eine Milonga, El Perro, gesungen von einem “Payador” (umherziehender Sänger).


Darüber hinaus befinden sich dreizehn Tangos in der Liste. Drei wurden mit Orchesterbegleitung von Alfredo Gobbi (Villoldo, El Porteñito und El Caprichoso), beziehungsweise Lea Conti (Tango de la Pollerita) gesungen. Das Orquesta Argentina Victor (Villoldos El Choclo und—noch einmal—El Porteñito, sowie Bevilacquas Apolo) und das Orchester des Apolo Theaters von Buenos Aires (Ruiz, Golpea que te van a abrir und Alarcón, Tirale mateca al gringo) nahmen fünf Tangos auf. Fünf weitere sind von Blaskapellen eingespielt worden (zwei davon durch John Philip Sousas Kappelle, wahrscheinlich in den Vereinigten Staaten).


Die Musiktypen der Liste können in drei Kategorien aufgeteilt werden. Die größte Gruppe setzt sich aus Liedern mit Gitarrenbegleitung zusammen. Orchester und Blaskapellen bilden eine weitere Gruppe: sie umfasst die meisten Tangos und einige „vals“ und kommt somit der Tanzmusik am nächsten. Die letzte Gruppe ist vielleicht am besten als Bühnenmusik bezeichnet, d.h. Musik, wie sie in einem Theater, Varieté oder Cabaret aufgeführt wurde. Hier finden wir humoristische Lieder und Szenen gesungen von Ángel Villoldo und/oder Alfredo Gobbi, sowie Rezitationen und Auszüge aus Bühnenwerken. Unter den Sängern befinden sich auch Schauspieler. Lea Conti und Arturo de Nava gehörten der Schauspieltruppe der Podestá Familie an. Conti war auch mit Antonio Podestá, dem zugeschrieben wird, die ersten Tangos für das Theater komponiert zu haben, verheiratet. Zweifelsohne wurden einige von diesen von Conti gesungen. Arturo de Nava wirkte in der selben Truppe als Galan und Tangotänzer mit.


Zwei Ereignisse des Jahres 1912 veränderten den Lauf der Tangogeschichte: Tango wurde zum Modetanz in Paris und der deutsche Schallplattenkonzern Lindström eröffnete die erste Produktionsanlage für Schallplatten in Argentinien. Max Glücksmann wurde zum Alleinvertreter für die Schallplattenmarke Odeon ernannt. Die Entwicklungen in Paris verschafften dem Tango auch in Argentinien eine größere Popularität, was unter Anderem zur Entstehung eines einheitlichen Tango-Orchesters beitrug (“orquesta típica”), das sich aus Violinen, Bandoneons, Bass und Klavier zusammensetzte. Glücksmann nahm die besten Musiker und Orchester für Odeon unter Vertrag: zuerst Roberto Firpo, dann Eduado Arolas und später Carlos Gardel und Francisco Canaro.

Annonce von Glücksmanns Casa Lepage, Buenos Aires, 1914

Annonce von Glücksmanns Casa Lepage, Buenos Aires, 1914



Die Musik wird nicht ausdrücklich als Tanzmusik angepriesen, aber die Auswahl der Stücke lässt erkennen, dass die Orchester auf diese Art Musik spezialisiert sind. Neben einer Handvoll „vals“ und nordamerikanischen Tänzen sind die meisten Stücke Tangos. Milongas fehlen in der Liste.

Annonce Victor Talking Machine Co., Buenos Aires, 1917

Annonce Victor Talking Machine Co., Buenos Aires, 1917

Im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte der Tango eine stärkere Identität als Tanzmusik. Das „repertorio criollo” der obigen Annonce teilt sich in Gesangs- und Tanzmusik. Blaskapellen und (Theater-) Orchester wurden durch „orquestas típicas“ und (auch allmählich verschwindenden) „rondallas“ (d.h., Orchester mit einer Besetzung von Violinen, Mandolinen, Flöte und Klavier) ersetzt . Tango ist der mit Abstand am häufigsten aufgenommene Tanz, gefolgt von „vals“ und einem gelegentlichen „criollo“ oder „ausländischem“ Tanz. Eine Milonga gibt es weder als Gesangs- noch als Tanzstück.  


Während der 1920-iger Jahre findet man in Schallplattenannoncen gelegentlich Stücke, die als Milongas gekennzeichnet sind. Dies sind aber nicht Tanzstücke, sondern Lieder, üblicherweise mit Gitarrenbegleitung. Im folgenden Beispiel finden sich zwei solcher Milongas: eine wurde von Rosita Quiroga komponiert und gesungen, die andere vom Duo Néstor Feria („El Gaucho Cantor“) und Italo Goyeche.

Annonce Discos Victor, Buenos Aires, 1923

Annonce Discos Victor, Buenos Aires, 1923

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Aus Verkaufsannoncen für Musikschallplatten der ersten drei Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts läßt sich schließen, dass Tangos seit dem Beginn von Musikaufzeichnungen in Argentinien aufgenommen und verkauft wurden. Die Standardisierung des Tango-Orchesters und eine Konzentrierung auf Tanzmusik begann nach 1912, als Tango in Paris populär geworden war und weltweite Aufmerksamkeit erregt hatte. Schallplatten mit Milongas wurden dagegen selten inseriert, und diese Stücke wurden nicht von Orchestern aufgenommen, sondern waren Lieder mit Gitarrenbegleitung.

3. Die Bedeutung von“Milonga” und “Milonguero” vor 1930


Tango stand von Anfang an mit Tanz in Verbindung. Die meisten Tangos waren instrumentale Stücke, die für Ensembles verschiedener Größe arrangiert wurden. Tangos mit Texten gab es zuerst relativ wenige. Wenn jedoch ein Text geschrieben wurde, thematisierte er häufig den Tango als Tanz sowie seine Tänzer. Der Erzähler von Villoldos El Torito z.B. rühmt sich seiner Geschicklichkeit beim Tanzen der argentinischen Nationaltänze (zu denen die Milonga allerdings nicht gezählt wird):

Aquí tienen a “El Torito",
el criollo más compadrito
que ha pisao la población.
Dondequiera me hago ver
cuando llega la ocasión.
Pa' la danza soy ladino,
y en cualquier baile argentino
donde yo me he presentao,
al mozo más bailarín
he dejao acobardao.


En los bailes nacionales
nadie nos puede igualar,
pues yo y mi prenda formamos
La pareja sin rival.
Lo mismo bailamos tango
que gato con relación,
la zamacueca, el cielito,
la huella y el pericón.
Hier ist er, “der kleine Stier”,
der dreisteste criollo,
der jemals die Ortschaft betrat.
Ich zeige mich überall,
wenn ich dazu Gelegenheit habe.
Ich bin gewieft im Tanz,
und in jedem argentinischen Tanz,
in dem ich aufgetreten bin,
hab' ich selbst den tänzerischsten Burschen

eingeschüchtert zurückgelassen.  

...

In den Nationaltänzen
kommt uns keiner gleich,
denn meine bessere Hälfte und ich
sind ein unvergleichliches Paar.
Wir tanzen Tango genauso wie
gato zu einer relación,
die zamacueca, den cielito

die huella und den pericón.



Im Gegensatz zum Tango ist die Beziehung der Milonga zum Tanz vieldeutiger. Es gibt Textquellen, in denen Situationen beschrieben werden, bei denen man zur Musik einer Milonga tanzte, aber solche Darstellungen gehen nicht über Allgemeines hinaus und machen keine Angaben über den Tanz selbst. Der Grund dafür liegt teilweise in der Verwendung des Begriffes „Milonga“, der nicht nur zur Bezeichnung eines Musiktyps benutzt wurde, sondern auch in einem weiteren Sinne für Veranstaltungen, bei denen Musik gespielt wurde; und in einem spezifischeren Sinne für Veranstaltungen, bei denen Gedichte vorgetragen wurden—gesungen zur Begleitung einer Gitarre.

Abbildung, “La Milonga del Cocoliche”, Caras y Caretas, Buenos Aires, 1916

Abbildung, “Die Milonga des Cocoliche”, Caras y Caretas, Buenos Aires, 1916

Der Begriff „Milonga“ hatte folglich eine starke Verknüpfung mit der Dichtung und dem gesungenen Vortrag eines Gedichtes. Im Argentinien des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts war dichten ein weit verbreitetes Hobby und in allen Bevölkerungsschichten beliebt und ausgeübt. Die Milonga war neben vidalitarelacióndécimatriste, usw. eine der üblichen poetischen Formen, die mit oder ohne Gitarrenbegleitung gesungen vorgetragen wurden.



José Betinotti, Milonga Obsequio, 1913


Milongas sind Gedichte mit einem erzählenden Texten, d.h. sie bestehen aus einer Anzahl von Strophen und geben eine Geschichte wieder. Je nach Erzähler kann der Text eine Szene aus dem Land- oder Stadtleben wiedergeben, aber viele sind Schilderungen von Trübsal und verlorener Liebe.

Es ergibt sich aus der Verbindung von Milonga und Dichtung, dass ein „Milonguero“ kein Tänzer (die moderne Assoziation) war, sondern ein Dichter oder Sänger von Milongas. Der Journalist Ricardo Sanchez beschrieb den Milonguero in 1920 als das städtische Gegenstück zum ländlichen umherziehenden Sänger, dem Payador:

Der Milonguero ist in den Republiken des Rio de la Plata weit bekannt. Seine Wesensart hat etwas vom Payador, dem Gaucho-Dichter (bewundernswert beschrieben von Ascasubi). Jedoch mit der Ausnahme, dass der Letztere mit Improvisationen zum Takte der Musik breitere Horizonte umfasst und seine Inspiration vom inbrünstigen patriotischem Lied, das mitreißt, bis zum berührenden sentimentalem triste steigert. Der Erstere pflegt eine spezielle, besonders gekennzeichnete Gattung mit einem vorstädtischem Aroma, das seinen Gefährten zusagt.


Es gibt einen weiteren Unterschied. Der Payador ist ein ausschließlich ländlicher Typ. Er ist der Troubadour des Hochlands und seine Bühne sind die ländlichen Bodegas und Unterkünfte. Den Milonguero trifft man nur in den Städten an. Die Stätten seines Wirkens sind die kleinen Cafés der Vororte und die als academias bekannten Tanz- und Spielhallen, wo die erlesensten Artgenossen der Unterschicht zusammenkommen.

Es gibt nur wenige echte Milongueros unter uns. Die meisten, die sich so nennen, sind nichts als routinemäßige Imitatoren; oder: weil sie der spontanen Inspiration ihrer Vorgänger ermangeln, singen sie nur, was sie auswendig gelernt haben. Die anderen aber sind meistens originell und reizend.


Die Verbindung von Milonga und Gesang setzte sich auch in den zwanziger Jahre fort und schlug sich auch in Tangos nieder. Der Text von Carlos di Sarlis Milonguero viejo (ein Stück das Osvaldo Fresedo gewidmet war), beschreibt die nächtliche Serenade eines Milongueros:

El barrio duerme y sueña
al arrullo de un triste tango llorón;
en el silencio tiembla
la voz milonguera de un mozo cantor.
La última esperanza flota en su canción,
en su canción maleva
y en el canto dulce eleva
toda la dulzura de su humilde amor.
Das Viertel schläft und träumt
zum Wiegenlied eines traurigen, wehleidigen Tangos;
durch das Schweigen zittert
die Milonguera-Stimme eines jungen Sängers
Die letzten Hoffnung zieht sich durch sein Lied,
in seinem verführerischen Lied
und wonnigem Gesang erhebt sich
die ganze Süße seiner demütigen Liebe.


Enrique Carrera Sotelo, Milonguero viejo


Selbst in 1932, als Homero Manzi und Sebastián Piana ihre „Milonga sentimental“ komponierten und damit den Keim für eine neue Art Milonga schufen, war die Erzählende eine Sängerin:

Milonga pa' recordarte.
Milonga sentimental.
Otros se quejan llorando
yo canto pa' no llorar.
...
Milonga que hizo tu ausencia.
Milonga de evocación.
Milonga para que nunca
la canten en tu balcón.
Milonga, um dich zu erinnern,
sentimentale Milonga.
Andere klagen weinend,
ich singe, um nicht zu weinen.
Milonga, die deine Abwesenheit schuf,
Milonga der Erinnerung.
Milonga, damit sie sie nie

auf deinem Balkon singen.


Homero Manzi: Milonga Sentimental


4. Tango und Milonga als musikalische Formen



Die unterschiedlichen Verwendungen of Tango und Milonga ließen verschiedene musikalische Strukturen entstehen. Da die Musik der Milonga der Begleitung eines Textes diente, wurde sie einfacher gehalten, um nicht vom gesungenen Vortrag des Milongueros abzulenken. Benottis Milonga Obsequio (siehe oben), beginnt mit einer kurzen, vier Takte langen Einleitung der Gitarre (a). Dann singt Benotti die erste Strophe der Milonga, die aus zwei Phrasen von acht, beziehungsweise zwölf Takten besteht (bc). Die Einleitung der Gitarre wird dann wiederholt, und die zweite Strophe wird gesungen, usw. Die sich daraus ergebende musikalische Form ist ein einfaches, sich wiederholendes Schema von Einleitung und Strophe:

a bc a bc a …


Tango war dagegen hauptsächlich Instrumentalmusik, und die musikalische Form musste kunstvoller sein, um sie für dem Hörer interessanter zu machen. Wir merkten oben an, dass der Tango „Don Pedro“ aus drei Abschnitten bestand, dessen dritter Teil (C) als „Trio“ gekennzeichnet wurde. Eine solche dreiteilige Aufteilung ist typisch für Tangos, die vor 1930 komponiert wurden.


Jeder dieser Abschnitte hat seine eigenen Melodien, die so gesetzt sind, dass sie sich im Charakter hörbar von den anderen unterscheiden. Dazu sind die Abschnitte harmonisch voneinander abgegrenzt; oft ist es das „Trio“, das die auffälligste harmonische „Farbe“ beiträgt. Die frühen Komponisten wie Villoldo gingen dafür gerne in die Paralleltonart (Moll oder Dur je nach der Haupttonart), die späteren bevorzugten die Varianttonart (z.B. von A-Moll nach A-Dur, usw.).


Man kann die Abschnitte als Bausteine betrachten, aus denen sich eine Komposition mit Hilfe von Wiederholungen zusammensetzt. Ein Wiederholungsschema kann sich als AB C AB, ABC ABC A oder anders aufbauen. Es gibt keine allgemein gültige Regel, wie das Schema ausgeführt werden muss. Tatsächlich ergibt sich das musikalisch Interessante gerade aus der Vielfalt, in der ein Tango formal konstruiert werden kann. Ein Wiederholungsschema zu variieren gehörte daher auch zu den Mitteln, eine neue Version zu schaffen, die sich von denen der anderen Orchester unterschied.

5. Vom Tango zur Milonga: Villoldos El Porteñito



El Porteñito ist eine der erfolgreichsten Tangos Villoldos. Schon 1906 wurde er zum ersten Mal eingespielt, und es folgte eine lange Serie von Aufnahmen, die sich bis in unsere Tage fortgesetzt hat. Die oben angeführten Zeitungsannoncen von 1906 und 1909 zeigen drei Versionen auf: zwei für Gesang und Orchester (gesungen von „Frau de Campos“ beziehungsweise Alfredo Gobbi) und eine Orchesterversion, gespielt vom Hausorchester der Schallplattenfirma Victor.

Als einer der wenigen Tangos mit Text wurde El Porteñito von vielen Sänger aufgenommen. Das folgende Beispiel gibt die französische Sängerin Andrée Vivianne (oder Andhrée Viviane) wieder, die für einige Jahre in Buenos Aires auftrat und dort den Tango im Jahre 1909 aufnahm.


El Porteñito, Andrée Vivianne, 1909


Wenn der Habanera-Rhythmus und das Tempo der Orchestereinleitung auch an eine modern Milonga erinnern, so verändert sich der Charakter des Stückes jedoch, sobald die Sängerin mit der ersten Strophe einsetzt. Das Tempo verlangsamt sich erheblich. Das vorgetragene Stück ist kein Tanz; es wäre einem tanzenden Publikum zu schwierig den vielen Tempowechseln, Ritenuti und Fermaten zu folgen. Die Aufnahme gibt den typischen Konzertvortrag eines Liedes wieder, wie er in einem Theater, Varieté oder Cabaret dargeboten wurde.


Alfredo Gobbi und seine Frau Flora Rodríguez nahmen eine ähnliche Version auf, auch mit Orchesterbegleitung. Sie änderten allerdings den Text und verwandelten das Stück in eine andere Art des Bühnenvortrags, der ihre Spezialität war: eine komische Szene. El criollo falsificado erzählt die Geschichte eines Immigranten in Buenos Aires, der vorgibt, ein echter „criollo“ zu sein und sich seiner Fähigkeiten im Tango tanzen rühmt. Sein entstelltes Spanisch und tollpatschiges Auftreten stellen ihn aber als einen neu eingetroffenen „Bauern-Gringo“ bloß, der prompt von der echten „porteña“ Flora Rodríguez verhöhnt wird.


El Criollo Falsificado, Flora Rodríguez und Alfredo Gobbi, 1906


In dieser Aufnahme sind die Zwischenspiele des Orchesters zwischen den einzelnen Strophen des Gesangs durch Dialoge ersetzt worden. Die Darbietung ist noch weniger ein Tanz als Viviannes Einspielung. Da der Text aber vom Tango tanzen handelt, ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Gobbis während einer Aufführung selbst tanzten—einen Tango natürlich.


Die folgende Version von El Porteñito, 1949 von Adolfo Pérez und seinem Orquesta Típica de la Guardia Vieja, ist eigentlich die jüngste, die wir hier vorstellen werden. Vom Namen des Orchesters und seiner Besetzung (Bandoneons, Violinen, eine Flöte und zwei Gitarren anstelle eines Klaviers und kein Kontrabass) ist aber ersichtlich, dass das Orchester einen älteren Stil wiedergeben wollte.


El Porteñito, Adolfo Pérez und das Orquesta Típica de la Guardia Vieja, 1949


Die Aufnahme von Pérez ist eine eigenartige Interpretation von El Porteñito, denn sie vermischt Elemente aus unterschiedlichen Phasen der Tangoentwicklung. Eine Besetzung mit Flöte und Gitarren war charakteristisch für Tango-Orchester um 1915. Zu der Zeit wurden Melodie und Begleitung klar getrennt und der Gitarre durchgehend der Habanera-Rhythmus als Begleitfigur zugeteilt. Genau wie die einzige Flöte, waren Violinen und Bandoneons oft nur mit einem Instrument vertreten. Diese Instrumente spielten die Melodie größtenteils zusammen und fügten nur gelegentlich Verzierungen hinzu. Die Orchestrierung von Pérez ist wesentlich komplexer als die der frühen Tangos. Er fügt viele Nebenmelodien, vollklingende Harmonien und lebhafte Bassfiguren hinzu, die man eher von einem Symphonieorchester als einer Tangokapelle erwarten würde. In diesem Sinne ist Pérez' El Porteñito ein Produkt der 1940-iger Jahre, das als langsamer Tango mit Habanera-Rhythmus herausgeputzt wurde, um „historisch“ zu klingen.


Die Wiedergabe von El Porteñito durch das Orquesta Típica Victor ist dagegen typisch für den Stil der späten 1920-iger Jahre. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beispielen ist hier der punktierte Habanera-Rhythmus aus der Begleitung vollkommen verschwunden. Dafür hört man in den tiefen Bandoneons und dem Klavier gleichwertige Achtelnoten, die sich wie ein Pulsschlag durch das ganze Stück ziehen. Es gibt dem Stück einen marschähnlichen Charakter, der klar macht, wofür diese Musik gespielt wird: zum Tanzen, d.h., Tango.


El Porteñito, Orquesta Típica Victor, 1928


Juan D'Arienzo nahm eine Reihe von Villoldos Tangos auf: einige als Milongas, andere (einschließlich El Porteñito) als Tango. Zwischen seiner und der neun Jahre früher aufgenommenen Version der Típica Victor besteht stilistisch kein großer Unterschied. Beide Orchester haben den Habanera-Rhythmus fallen gelassen, spielen in der gleichen Instrumentierung und ungefähr im gleichen Tempo. Unterschiede sind eher im persönlichen Stil der Orchester zu erkennen. D'Arienzo lässt z.B. im Abschnitt C und in der letzten Wiederholung des A Abschnitts die Bandoneons eine variación spielen. Und—als ob er unterstreichen wollte, dass seine Version ein Tango ist—veränderte er die rhythmische Struktur, besonders im Abschnitt B, mit zusätzlichen síncopas.


El Porteñito, Orquesta Típica Juan D'Arienzo, 1937


Unser letztes Beispiel, Ángel d'Agostinos Aufnahme von El Porteñito aus dem Jahre 1943, ist heute vielleicht die bekannteste Version.


El Porteñito, Orquesta Típica Ángel d'Agostino, 1943


Die Aufnahme ist gutes Beispiel für eine „moderne“ Milonga: ein Tanzstück mit schnellem Tempo und einem klar definiertem Habanera-Rhythmus als Begleitfigur. Diese Milonga ist kein Lied, kein gesungenes, von einer Gitarre begleitetes Gedicht. Der Text wurde umgeschrieben und gekürzt, um nur in den beiden Wiederholungen des B Abschnitts gesungen zu werden. Im Vergleich zu den oben angeführten gesungenen Versionen von El Porteñito ist der Text hier von untergeordneter Bedeutung. Aus dem Lied wurde eine Milonga, wie wir sie heute verstehen: ein Stück Tanzmusik.


Es ist offensichtlich, dass sich von den 1920-iger Jahren bis zur Zeit von d'Agostinos Aufnahme das ganze Konzept der Milonga verändert hatte. Dies ist eine Geschichte für sich, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Um jedoch noch einmal zu zeigen, dass Musiker vor und nach 1930 eine andere Auffassung von der Milonga hatten, wollen wir noch ein weiteres Beispiel anführen.


In den späten 1920-iger Jahren wurden viele Aufnahmen mit Titeln veröffentlicht, die sich auf die Milonga beziehen: „Cuando llora la milonga”, „Milonga”, „Milonga con variación”, „Milonga canyengue”, „La eterna milonga”, „Milonga criolla” (Canaro, 1928), usw. Diese Stücke waren aber alle Tangos. Selbst Canaros „Milonga criolla“ aus dem Jahre 1928 ist ein Tango und nicht mit der bekannten Milonga „Milonga criolla“ aus dem Jahre 1936 identisch. Drei Jahrzehnte später nahm er den Tango „Milonga criolla“ noch einmal auf—diesmal aber unter dem Titel „Arrabalera“ und bearbeitet als ... eine Milonga.


Orquesta Típica Francisco Canaro (1936, 1928), Quinteto Pirincho (1960)



© 2017 Wolfgang Freis.

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