1. Einleitung
Unser
letzter Artikel beschäftigte sich mit der Frage, wie Tonalität mit
Hilfe von Tonleitern (Tonartschlüssel) und harmonischen
Progressionen von der Dominante zur Tonika (in den folgenden
Beispielen als V, beziehungsweise I angezeigt) ausgedrückt wird.
(Siehe Eine kurze Tangoharmonielehre, Teil I
für eine Erörterung der Bewertung von Tonarten.) Hier werden wir zwei weitere Begriffe der Dur- und
Moll-Tonalität behandeln: die Subdominante sowie die Zwischen- oder
Nebendominanten.
1a. Die Subdominante
Die
Subdominante leitet ihren Namen von ihrem Verhältnis zur Tonika ab.
Während die Dominante sich eine Quinte (d.h. fünf Tonleiterstufen)
über dem Grundton befindet, liegt die Subdominante eine Quinte unter
dem Grundton. Durch Umkehrung ist sie auch wieder auf der vierten
Stufe über dem Grundton zu anzutreffen. Sie wird daher üblicherweise
durch die römischen Ziffern IV angezeigt.
Die
Subdominante ist ein gewöhnlicher Bestandteil von Kadenzen, in denen
sie oft vor der Dominante anzutreffen ist. Eine Progression von der
Tonika zur Subdominante, dann zur Dominante und schließlich wieder
zur Tonika ist typisch als Kadenzformel (I-IV-V-I, siehe das folgende
Beispiel).
Darüber
hinaus findet man die Subdominante im sogenannten Plagalschluss (auch
Plagalkadenz), der als Subdominant-Tonika-Progression an eine normale
Kadenz angehängt wird ( … V-I-IV-I). Diese Figur ist oft am
Schluss von Kirchenliedern zu finden.
Beispiel
2: Kadenzen mit Subdominanten
1b. Nebendominanten
Das
Konzept einer Nebendominante ist einfach: man richtet einen Akkord so
ein, dass er als Dominante für einen anderen Akkord fungiert, der
nicht die Tonika ist. Um zu einer Nebendominante zu werden, muss
zumindest ein Ton des Akkordes verändert werden. Der daraus
resultierende Dominant-Akkord gehört nicht zu den natürlichen
Zusammenklängen der Tonart, in der er verwendet wird. Er ist
sozusagen eine Dominante, die (vorübergehend) von einer anderen
Tonart ausgeborgt wird.
Nebendominanten
werden dazu verwendet, die Harmonien eines Stückes zu bereichern und
die Spannung vor der Auflösung zur Tonika zu steigern. Dies wird
häufig dadurch erreicht, dass der Dominante eine Nebendominante
vorgesetzt wird (im folgenden Beispiel als V/V angezeigt). Die
Nebendominante löst sich in der Dominante auf, die dann wiederum
ihre Auflösung in der Tonika findet.
Als
Beispiel für eine einfache harmonische Progression in Dur folgt eine
kurze Kadenz, die mit Dominante und Tonika endet:
Beispiel
3: einfache Kadenz (zur Vereinfachung sind nur Dominante und
Tonika angegeben)
Um
die Empfindung von Spannung und Auflösung zu erhöhen, kann die
Dominante von ihrer eigenen Dominante (angezeigt als V/V in folgenden
Beispiel) eingeführt werden. Der Klavierauszug zeigt, dass der
Akkord nicht in seiner natürlichen Form gesetzt wurde, sondern das
ein Ton (der tiefste) um einen Halbton erhöht wurde. Diese Erhöhung
erzeugt einen Leitton, d.h., die durch die Erhöhung erzeugte
Spannung bedingt eine Auflösung in dem darauffolgenden Ton.
Beispiel
4: Kadenz mit Nebendominante
Es
wurde obern erwähnt, dass eine Nebendominante auf jedem Akkord
gebildet werden kann. Selbst Nebendominanten können das Zielobjekt
einer weiteren Nebendominante werden, wie das nächste Beispiel
zeigt. Vom zweiten bis zum vierten Takt folgen vier Dur-Akkorde
aufeinander. Jeder von diesen bildet eine Dominante zum
darauffolgenden Akkord. So bildet sich die folgende Progression:
H-Dur – E-Dur – A-Dur (Dominante) – D-Dur (Tonika).
Beispiel
5: Kadenz mit zwei Nebendominanten
2. “El Himno Bonaerense”
Angel
Villoldos El Porteñito
gehört zu den bekanntesten Tangos. Schon bald nach seiner
Komposition im Jahre 1903 war er einer der ersten, die auf
Schallplatte aufgenommen wurde. Villoldo bezeichnete das Stück als
tango criollo, aber
seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre wird er auch als Milonga aufgeführt. So gut wie alle argentinische Filme, die in Buenos
Aires um die Wende des 20th
Jahrhunderts spielen, weisen eine Tanzszene auf, in der El
Porteñito—oft in
halsbrecherischem Tempo—gespielt wird. Wenn es einen Tango gibt,
der mehr als jeder andere Buenos Aires repräsentiert, dann ist es
sicherlich El Porteñito.
3. Die formale Struktur
El
Porteñitos
formale Struktur ist einfach und sehr symmetrisch. Sie besteht aus
drei Teilen mit einer Länge von 16 Takten (im Folgenden als A, B
beziehungsweise C angezeigt). Die drei Teile sind „durchkomponiert“,
d.h., sie wurden durchgehend ohne Angabe von Wiederholungen notiert.
Dessen ungeachtet endet jeder Teil mit einer klaren und starken
Kadenz, die einen Einschnitt in den Ablauf der Musik bewirkt und
damit den Wechsel von einem Teil zu anderen anzeigt.
Die
Teile ihrerseits teilen sich in zwei acht-taktige Phrasen auf (im
Folgenden A1, A2, B1, usw.). Diese Vorder- und Nachsätze sind sich
melodisch und harmonisch sehr ähnlich und unterscheiden sich nur im
Abschluss. Teil A zeichnet sich durch lebhafte Motive mit kurzen
Notenwerten in absteigender Bewegung aus, die zu kleinen Figuren im
typischsten Tangorhythmus führen, der síncopa
(im folgenden Beispiel durch eckige Klammern über dem Notensystem
angezeigt).
Beispiel
6: Teil A1, Vordersatz
|
Beispiel
7: Teil A2, Nachsatz
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Beispiel
8: Teil A
Auch
die Vorder- und Nachsätze des B-Teils ähneln sich. Um Gegensatz zu
A ist die melodische Bewegung durch längere Notenwerte allerdings
ruhiger, und die síncopa wird fast vollkommen vermieden.
Beispiel
9: Teil B1, Vordersatz
Beispiel
10: Teil B2, Nachsatz
|
Beispiel
11: Teil B
Es
muss angemerkt werden, dass die fundamentale Struktur der Melodien in
den Teilen A und B sich nur gering voneinander unterscheiden. Die
Richtung der melodischen Bewegung ist die gleiche (abwärts), und die
Zielnoten der absteigenden Motive decken sich. Ein Vergleich des
melodischen Grundrisses der Teile A und B veranschaulicht die
Gemeinsamkeiten der beiden Teile.
Beispiel 12:
Teile A und B, melodischer Grundriss
|
Im
Gegensatz dazu zeigt sich im Teil C eine größtenteils aufsteigende
Bewegung der Melodie ohne síncopas.
Beispiel
13: Teil C1, Vordersatz
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Beispiel
14: Teil C2, Nachsatz
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Beispiel
15: Teil C
Der
melodische Grundriss bestätigt die aufsteigende Tendenz der Melodie
und damit den Kontrast zu den Teilen A und B.
Beispiel
17: Teil A1, Vordersatz
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Beispiel 18: Teil B1, Vordersatz |
Beschreiben
wir diese Progression rückschreitend in ihrer funktionalen
Bedeutung, so können wir feststellen, dass der Tonika (I) die
Dominante (V) vorangeht, dieser die Dominante der Dominante (E) und
dieser noch einmal eine weitere Dominante (H) vorgesetzt ist.
Die
Harmonien in C1 verbleiben dagegen innerhalb der Grenzen von Tonika
und Dominante. Nur am Ende schwingt der harmonische Impuls mit dem
Plagalschluss in die entgegengesetzte Richtung zur Subdominante.
Beispiel
19: Teil C1, Vordersatz
|
Betrachtet
man den größeren Zusammenhang, in dem dieser einmalige
Plagalschluss erscheint, so fällt auf, dass er nicht zufällig oder
willkürlich eingesetzt wurde. Teil C entspricht einem „Trio“,
einem Abschnitt, der in instrumentalen Tangos so komponiert wurde,
dass er sich stilistisch von den anderen Teilen unterschied. Wir
haben bereits festgestellt, dass sich Teil C von den anderen beiden
Teilen in der Richtung der melodischen Bewegung abhebt. In A und B
verläuft diese Bewegung abwärts, in C aber aufwärts. Entsprechend
macht sich auch ein Unterschied in der harmonischen Richtung
bemerkbar: A und B bewegen sich im Raum der Dominante und ihrer
Nebendominanten, während C in der Subdominant-Tonart steht und in
der Mitte einen Plagalschluss aufweist. Die harmonische Bewegung in
Teil C entfaltet sich damit in der entgegengesetzten Richtung von A
und B.
5. Die Wiederholungen
Wir
haben anfangs erwähnt, dass El Porteñito “durchkomponiert”
wurde, d.h., Teile A bis C wurden ohne Angaben von Wiederholungen in
der Partitur niedergeschrieben. Allerdings werden Kompositionen
dieser Art immer auf eine oder andere Weise mit Wiederholungen
gespielt. Ein einfaches, normales Wiederholungsschema besteht darin,
die Teile A bis C durchzuspielen und dann A und B zu wiederholen.
Damit wird die kontrastierende Anlage von C betont und dem ganzen
Stück eine symmetrische Struktur verliehen (ABCAB). Das Quarteto
Roberto Firpo hat dieses Schema in einer Aufnahme aufgegriffen und
durch eine zusätzliche Wiederholung aller drei Teile erweitert (AB C
AB C AB).
Beispiel 20: El Porteñito, Quarteto Roberto Firpo (1936)
Man
trifft das Standardschema oder eine Variation davon oft in den vielen
Aufnahmen El Porteñitos an. Tango-Orchester verstanden sich
allerdings darauf, ihre eigenen, bezeichnenden Arrangements aufzunehmen. Zwei interessante Versionen von Villoldos Tango mit
abweichenden Wiederholungsschemen sollen hier erwähnt werden.
Die
erste ist Aufnahme mit dem Orquesta Típica Victor aus dem Jahre
1928. (Wir möchten dazu auffordern, dem hervorragenden ersten Geiger
dieser Aufnahme besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Leider ist uns
sein Name nicht bekannt, aber es handelt sich wahrscheinlich um
Elvino Vadaro oder Agesilao Ferrazano, die im Típica Victor zu Ende
der 20er Jahre mitwirkten.)
Beispiel 21: El Porteñito, Orquesta Típica Victor
Auffallend
an dieser Version ist, dass sie mit Teil C, also in der
Subdominant-Tonart, beginnt. Das ganze Wiederholungsschema ergibt
sich wie folgt: CABCA.
Francisco
Canaro hat El Porteñito mindestens dreimal eingespielt. Zwei
dieser Aufnahmen folgten dem Standardschema in den Wiederholungen,
aber eine Aufnahme mit dem Quinteto Pirincho aus den 50er Jahren
weicht entschieden davon ab.
Beispiel 22: El Porteñito, Quinteto Pirincho
Canaro
wiederholt in dieser Version alle drei Teile der Reihe nach. Damit
beginnt das Stück in D-Dur, endet aber in G-Dur, der
Subdominant-Tonart.
Die
Versionen von Canaro und der Típica Victor werfen die Frage auf, ob
die Umgestaltung der drei Teile den formalen und tonalen Zusammenhang
des Stückes verändern. Die Wiederholungen im Standardschema folgen
der kompositionstechnischen Logik: Teile A und B artikulieren eine
musikalische Idee (D-Dur), Teil C präsentiert ein Gegenstück
(G-Dur) und die Wiederholung von A und B kommt auf die Anfangsidee
zurück. Formal und tonal ist der Unterschied zwischen AB und C
offensichtlich: das Stück endet dort, wo es begann und stellt eine
geschlossene Einheit dar.
Die
Victor und Canaro Versionen lösen den formalen und tonalen
Zusammenhang auf. Aber diese Orchester standen damit nicht allein da.
Es war keineswegs ungewöhnlich, ein Stück mit einer „falschen“
Tonart anzufangen oder zu beenden. Stücke wie El Porteñito
waren dem Publikum bekannt genug, um schnell als besonderes
Arrangement erkannt zu werden. Der Zweck heiligte offensichtlich die
Mittel.
© 2017 Wolfgang Freis