Monday, May 21, 2018

Ein Denkmal für den "Unbekannten Arrangeur"




In der Tango-Literatur finden sich viele Würdigungen von Komponisten und Musikern. Weniger Information kann man über die Arrangeure aufspüren—die Musiker, die die effektive Orchestrierung von Tangos entwarfen.

Es wird weitgehend als selbstverständlich akzeptiert, dass Orchester ihre eigenen Versionen spielten. Dabei wird leicht übersehen, dass ein Tango keine Beethoven-Symphonie ist, in der die Orchestrierung Teil des Kompositionsprozesses war. Notenausgaben von Tangomusik wurden größtenteils als Klavierauszüge vertrieben, die keine detaillierten Angaben für eine Orchesteraufführung einschlossen. Jedes größere Orchester brauchte einzelne Instrumentalstimmen für die jeweiligen Orchestergruppen. Und, was noch wichtiger war, jedes Orchester musste eine Version im eigenen Stil darbieten. Diese Aufgabe fiel den Arrangeuren zu.

Arrangeure wurden im Gegensatz zu Komponisten und ausführenden Musiker normalerweise nicht als Mitautoren angegeben. Obwohl ihr Beitrag ausschlaggebend für den Erfolg eines Stückes sein konnte, fiel er offenbar eher in die Kategorie der „Lohnarbeit“ als des kreativen Schaffens. Das ist überraschend, denn die Abgrenzung zwischen Komponisten und ausführenden Musiker einerseits und Arrangeuren andererseits war fließend: die Erstgenannten konnten auch als Arrangeure in Erscheinung treten. In Autobiografien und Interviews mit Musikern wird Arrangieren, wenn überhaupt, nur als Nebentätigkeit erwähnt. Aus diesem Grund wird es oft als Autorenbeitrag übergangen worden sein.

Lucio Demare und Mariano Mores z.B. wiesen in Interviews darauf hin, dass sie gelegentlich auch als Arrangeure gearbeitet hatten. Als Demare nach einigen auf Tour nach Buenos Aires zurückkehrte, wurde er von Francisco Canaro engagiert, Orchestrierungen für die Musik-Komödien, die Canaro mit Ivo Pelay inszenierte, anzufertigen. Fast alle Lieder, die Canaro für die Theaterstücke komponierte, wurden zwischen 1935 und 1937 auch von Canaro's Orchester mit dem Sänger Roberto Maida aufgenommen—darunter so bekannte Tangos wie „Envidia“, „Casas viejas“ und „Qué le importa el mundo”. Es ist daher möglich, dass diese Stücke von Demare orchestriert wurden. Aber ohne unwiderlegbare Belege für seine direkte Mitwirkung an diesen Aufnahmen läßt sich das nicht mit Bestimmtheit geltend machen.

Auch Mariano Mores erwähnte in einem Interview, dass er Arrangements entworfen hatte, bevor er als Pianist in Canaros Orchester engagiert wurde. Er nahm vermutlich an den Aufnahmen seiner Tangos „Uno“ und „Cristal“ teil, die Canaro 1943 beziehungsweise 1944 produzierte. Als Komponist und Pianist scheint seine Einbindung als Arrangeur naheliegend zu sein, aber mit Sicherheit läßt sich das auch nicht ermitteln.

Die mangelnde Wertschätzung der Arrangements ist bedauerlich. Arrangieren heißt nicht, lediglich Noten auf Notensystem zu verteilen. Ein gutes Arrangement bedarf kreativen Denkens. Tangos sind keine hochgradig komplexe Kompositionen. Sie gehören der Unterhaltungsmusik an und sind dazu bestimmt, von einem breiten Publikum aufgenommen zu werden. Es ist aber das Arrangement, dass eine Einspielung als das Werk eines bestimmten Orchesters zu erkennen gibt und es von anderen Versionen unterscheidet.

Canaros Tangos bieten ein interessantes Thema zur Untersuchung der Arrangements. Er konnte es sich erlauben, mit seinem Orchester nach 1928 nicht mehr in Kabaretts oder auf Tanzveranstaltungen zu spielen (mit Ausnahme der großen Karnevalsbälle). Stattdessen konnte er sich auf Schallplatten- und Radioaufnahmen konzentrieren. Für ihn war es daher leichter, eine Auswahl von Instrumenten einzubeziehen, die man normalerweise nicht in einem Tango-Orchester antrifft. Unter seinen vielen Aufnahmen findet man mitunter überraschende Arrangements, in denen die Orchestrierung als ausdrucksvolles Mittel zur Bereicherung des Textes eingesetzt wurde. Zwei Beispiele werden im Folgenden besprochen: die Aufnahmen von „Yo también soñé“ mit Roberto Maida (1936) und „Cristal“ mit Carlos Roldán (1944).

„Yo también soñé”, ein tango canción, wurde von Canaro komponiert und seinem „sehr alten und guten Freund“ Charlo gewidmet. Charlo nahm das Stück ein Jahr vor Roberto Maida als tango canción auf, d.h., als Gesangsvortrag zu dem nicht getanzt wurde. Der Schwerpunkt liegt bei solchen Aufnahmen auf dem Text und der Interpretation des Sängers, während das Orchester eine unterstützende Rolle spielt und im Hintergrund bleibt. Die Aufnahme mit Maida ist dagegen Tanzmusik, in der das Orchester die Hauptfigur ist. Der Sänger singt nicht den ganzen Text, sondern nur Auszüge. Er ist gewissermaßen ein weiteres Instrument des Orchesters, und die Wiedergabe des Textes könnte mit einer Evokation statt einer Interpretation verglichen werden. Es ist erwartungsgemäß die Tanzversion, in der das Orchesterarrangement interessanter ist und maßgeblich zur Aussagekraft des Stückes beiträgt.

Der Aufbau der musikalische Phrasen in „Yo también soñé“ entspricht einem typischen tango canción. Das Stück besteht aus zwei Teilen (im Folgenden als A beziehungsweise B bezeichnet), die sich wiederum in einen Vor- und einen Nachsatz aufteilen. Auf Grund einiger sequenzieller Phrasendehnungen und verbindenden Übergängen sind die Aufteilungen nicht symmetrisch. Beide Teile werden in Maidas Aufnahme zweimal durchgespielt: zuerst allein vom Orchester, dann zusammen mit dem Sänger.


Das Orchesterarrangement ist so aufgebaut, dass es die formale Struktur mit Hilfe von Kontrasten darlegt. Teil A wird vom ganzen Orchester mit kurzen, hart angeschlagenen marcato Noten gespielt. Diese „gehämmerte“ Vortragsweise mit ihren gleichförmig pulsierenden, jeden Taktbeginn betonenden Noten ist ein Merkmal der Tanzmusik. Die starken Akzente vermitteln den Tänzern den Rhythmus und das Tempo.



 Beispiel 1: “Yo también soñé”, Teil A


Im Teil B ändert sich der Charakter der Musik. Der Rhythmus wird nicht mehr „gehämmert“, sondern mit weicheren, verbundenen portato-Noten gespielt, wodurch die erweiterte melodische Linie betont wird. Während die Melodie im Teil A hauptsächlich von den Violinen ausgeführt wurde, wird sie im Teil B den Bandoneons zugeteilt. Das tritt besonders im Nachsatz in den Vordergrund, in dem sich ein Kontrast zwischen dem tiefem und hohem Register des Bandoneons entfaltet. Im Vordersatz erklingt zum ersten Mal eine gedämpfte Trompete.



 Beispiel 2: “Yo también soñé”, Teil B


Nachdem die Teile A und B einmal allein vom Orchester gespielt wurden, werden sie zusammen mit dem Sänger wiederholt. Im Gegensatz zum akzentuierten und energischen Spielstil des ersten Durchganges tritt das Orchester nun im Teil A in den Hintergrund und begleitet den Sänger. Die Bandoneons setzen die rhythmische Begleitung in einem sanfteren Ton fort, und die Violinen spielen eine Gegenmelodie, die die Harmonie bereichert.



 Beispiel 3: “Yo también soñé”, Teil A, Wiederholung


Im Vordersatz des Teils B setzt der Sänger überraschenderweise aus, und die gedämpfte Trompete greift die Melodie auf.



 Beispiel 4: “Yo también soñé”, Teil B, Wiederholung, Vordersatz


Dies ist ein dramatischer Moment in der Orchestrierung: nicht nur, weil die Melodie von der Trompete übernommen wird, sondern auch, weil der Text unterbrochen wird. Die ersten beiden Textzeilen des Refrains werden übergangen:

Es más amargo el despertar
cuanto más tierno fue el amor del sueño.
Das Erwachen ist umso bitterer,
je zärtlicher die Liebe des Traumes war.

Man kann annehmen, dass das Publikum den Text gut kannte. Charlo hatte „Yo también soñé“ vor Maida mit Canaro als tango-canción aufgenommen und sang den Tango außerdem in einem Film (“Puerto nuevo”, 1936). Die Auslassung dieser wichtigen Textzeilen muss aufgefallen sein.


Der Sänger setzt im Nachsatz des B-Teils wieder ein. Hier zeigt sich der Grund für die Auslassung der beiden Textzeilen: sie betont den Text, den der Sänger an dieser Stelle aufgreift:

Una mano de hierro nos llamó a la realidad
y los sueños se cambian en miserias y maldad.
Eine eiserne Hand rief uns zur Realität zurück,
und Träume werden Elend und Qual.

Mit diesem Text führt der Arrangeur ein vollkommen neues Instrument ein, eine Celesta. Die Celesta ist ein Tasteninstrument mit einem Glockenspiel-ähnlichem Klang, den die meisten Hörer aus Tchaikovskys „Nussknacker“-Ballett oder Mozarts „Zauberflöte“ kennen werden. Der eigentümliche Klang des Instruments entsteht durch Hämmer, die auf kleine Metallplatten schlagen. Es zeugt von einem Geniestreich des Arrangeurs, die „eiserne Hand“ des Schicksals mit dem metallenen Klang der Celesta anzukündigen!



 Beispiel 5: “Yo también soñé”, Teil B, Wiederholung, Nachsatz




Beispiel 6: Francisco Canaro, “Yo también soñé”

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Das Arrangement von “Yo también soñé” ist nicht das einzige Beispiel unter Canaros Tangos, in dem eine Celesta in Erscheinung tritt. Das Instrument wurde in dieser Aufnahme allerdings mit außergewöhnlicher Wirksamkeit eingesetzt. Es gibt auch noch ein anderes Material, dass einen klaren, metall-ähnlichen Klang hervorbringt, wenn es angeschlagen wird: Glas. In Canaros Aufnahme von Mariano Mores' Tango „Cristal“ (1944), gesungen von Carlos Roldán  wurde daher auch auf die Celesta in das Arrangement einbezogen. Auch hier hat die Anwendung des Instruments einen direkten Bezug zum Text. Indem sie eine Assoziation zur Zerbrechlichkeit wachruft, verdichtet die Celesta die Aussagekraft der Musik:

Mas fragil que el cristal, fue mi amor junto a ti.
Cristal—tu corazón, tu mirar, tu reir.
...
Zerbrechlicher als Glas war meine Liebe zu Dir.
Aus Glas—Dein Herz, Dein Blick, Dein Lachen.
...





Beispiel 7: Francisco Canaro, “Cristal”, Auszug

Um den Einfluss des Arrangements auf den Charakter der Darbietung zu verdeutlichen, ziehen wir einen kurzen Vergleich zu einer anderen Aufnahme heran. 1943 wurde „Cristal“ von Aníbal Troilos Orchester mit dem Sänger Alberto Marino aufgenommen. Troilos Orchester-Besetzung schloss allerdings keine außergewöhnlichen Instrumente ein, sondern blieb im Rahmen des traditionellen orquesta típica.

Genau wie Canaros Version ist Troilos darauf ausgerichtet, den Text zu vermitteln. Anders als Canaro machte sich Troilo nicht die Instrumentierung zu Nutze, sondern verlangsamte das Tempo. Damit wird dem Sänger Zeit gegeben, die Worte zur Geltung zu bringen und somit den Text dem Publikum eindrücklich zu übermitteln. Troilos Interpretation nähert sich damit dem Aufführungsstil des tango canción an.




Beispiel 8: Aníbal Troilo, “Cristal”, Auszug

Wir hoffen, veranschaulicht zu haben, dass die Kunst des Orchester-Arrangements ein wichtiger Bestandteil in der Produktion der Tango-Musik war. Von ihr hing der Charakter der Wiedergabe ab. Tango-Kompositionen wurden als Klavierauszüge herausgegeben (so wie die Notenauszüge in den vorangegangenen Beispielen). Obwohl diese Klavierauszüge vereinfachte Versionen darstellen, die für den Gebrauch des allgemeinen (Amateur-) Publikums gedacht waren, werden die Handschriften der Komponisten nicht viel anders ausgesehen haben. Sie stellten aber keine Partitur dar, von der ein Orchester hätte spielen können. Die Orchesterstimmen mussten arrangiert werden.

Unsere kurze Analyse von „Yo también soñé“ hat aufgezeigt, dass ein gutes Arrangement einem komplexen und kreativem Aufwand zu Grunde liegt, der weit darüber hinausgeht, die Noten auf die Instrumente zu verteilen. Dieses Arrangement wurde sorgfältig gestaltet. Der Arrangeur zog die musikalische Form und den Text in Betracht. Kontraste in der Instrumentierung spiegeln die formal Struktur des Stückes wieder. Darüber hinaus wurde angestrebt, mit der Orchestrierung die Aussagekraft des Textes zum Vorschein zu bringen und zu verdichten.

Im Gegensatz zu Canaros anderer, ebenso hervorragender Version von „Yo también soñé“ (gesungen von Charlo als tango canción) ist die Fassung mit Maida ein Stück Tanzmusik. Das Orchester steht im Mittelpunkt, und die Instrumente treten nicht hinter dem Gesang zurück. Es ist eine außerordentliche Aufnahme: wunderschön gesungen und vom Orchester hervorragend gespielt. Es ist nachvollziehbar, dass diese Leistung zum großen Teil dem großartigen Arrangement des „Unbekannten Arrangeurs“ zuzuschreiben ist.








© 2018 Wolfgang Freis




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