Ein gemeinsamer Beitrag von Daniela Pastina und El Victrolero.
Von den vielen Begriffen, mit denen der argentinische Tango in Verbindung gebracht wird, ist Tanzmusik wohl der geläufigste. Obwohl Tango früh als Tanz besungen und beschrieben wurde, war er nie ausschließlich Tanzmusik, sondern wurde auch als Musik zum Zuhören komponiert und aufgeführt. Eine andere gängige Vorstellung sieht Tango als eine Musik des Kummers und Schmerzes. Diese Vorstellung ist keine der Folge der Musik, sondern eine Reaktion auf die Texte vieler Tangolieder. Es gehört zu den Besonderheiten des Tango, dass man sich bei einer unterhaltsamen Freizeitbeschäftigung—einem Gesellschaftstanz—zu Texten amüsiert, die Angelegenheiten der unangenehmsten Art in Erinnerung bringen: verlorene Liebe, Täuschung und Alkoholismus bis hin zum Tod.
Natürlich ist es nicht die Thematik des Elends, an dem das Tangopublikum Vergnügen findet, sondern vielmehr die Qualität der Dichtung. Der Tango hat glücklicherweise das Interesse einiger hervorragender Dichter wachgerufen, die die Ausdruckskraft von Liedertexten weit über das Niveau der Allgemeinplätze anderer Unterhaltungsmusikstile erhoben haben. Hómero Manzi, Enrique Cadícamo und Enrique Santos Discepolo sind nur die bekanntesten unter ihnen. Der Name Carmelo Santiago, der sich mehr als Filmregisseur und -produzent einen Namen machte, wird nur wenigen Tangoliebhabern bekannt sein. Nichtsdestoweniger schrieb er einige bezaubernde Tangotexte, von denen Amarras auf Grund seiner hervorragenden Aufnahme mit Héctor Mauré und dem Orchester Juan D'Arienzo unter Tangotänzern der beliebteste sein wird. Weitere Texte sind: La melodía de nuestro adiós (mit Musik von Fioravanti Di Cicco, aufgenommen von Francisco Canaro),Cuando el corazón (komponiert und aufgenommen von Francisco Canaro; dieser Tango wurde auch von Roberto Maida im Film Dos amigos y un amor gesungen) und La melodía del corazón (komponiert, nach Chopin, von Fioravanti Di Cicco und Héctor María Artola; aufgenommen von Edgar Donato).
1. Die Poesie des Leides
Der Text von Amarras stellt ein ergreifendes Beispiel für die Themen, Sinnbilder und psychologische Glaubwürdigkeit eines traditionellen Tangostextes dar. Das Bild, das vom Gedicht entworfen wird, führt den Hörer zu einem der mythischen Ursprungsorte des Tangos: dem Hafen. Die Beschreibung eines ausgedienten und vertäuten Kohlenschiffs, mit dem sich der Akteur des Gedichtes vergleicht, beschwört eindrucksvoll eines der klassischen Tangomotive herauf: eine verlorene Liebe. Der Akteur, von seiner Geliebten verlassen und nicht fähig, sich von seiner Vergangenheit zu lösen, sieht sich jeden Grundes seiner Existenz beraubt. Wie eine römische Ruine in einem romantischen Gemälde wird das Kohlenschiff zum modernistischem Symbol einer vergangenen Tätigkeit, einem Überbleibsel ohne Aussicht auf einen anderen Gebrauch als einer Mahnung über die Kurzlebigkeit aller menschlichen Errungenschaften.
Beispiel 1: Amarras
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Die Musik scheint, wie es oft der Fall war, vor dem Text komponiert worden zu sein. Anzeichen dafür finden sich in der formalen Struktur der Verse und Strophen. Übereinstimmend mit der Musik ist der Text in zwei Strophen aufgeteilt (als A bzw. B in der linken Spalte des obigen Beispiels angegeben). Die Strophen wiederum sind in drei Abschnitte aufgegliedert (in der linken Spalte des obigen Beispiels von 1 bis 3 nummeriert) , die ihrerseits aus zwei Zwei- oder Dreizeilern bestehen. (Die Gruppierung der Verse in Zwei- und Dreizeiler beruht auf dem Reimschema, das im obigen Beispiel in Fettschrift markiert wurde.)
Man sagt, dass die erste Person Singular die bedeutendste grammatikalische Struktur der Tangolyrik ist. Kaum ein anderes Gedicht könnte das besser veranschaulichen als Amarras. Der Inhalt der erste Strophe (A.1-3) beschäftigt sich ausschließlich mit dem Akteur des Gedichtes und beschreibt seine Geistesverfassung. Fast jeder Anfangsvers der Zwei- und Dreizeiler der ersten Strophe beginnt mit einem Zeitwort in der ersten Person Singular: „vago“ (ich irre), „soy” (ich bin), „siento” (ich fühle), und „lloro” (ich beweine). Darüber hinaus sind diese Zeitwörter akzentuiert: musikalisch ausgedrückt fallen sie alle auf den schweren Taktteil (siehe die Erläuterung der Musik unten). Die markante Position dieser aktiven Zeitwörter in der ersten Person Singular weist auf die Gemütsverfassung des Akteurs hin und unterstreicht dessen Verzweiflung.
Nur der erste Zweizeiler des zweiten Abschnitts (A.2) weicht etwas von diesem Muster ab und beginnt mit einem Personalpronomen—es überrascht kaum, es ist: „yo“ (ich). Gerade in diesem Zweizeiler wird die Verbindung zwischen dem Kohlenschiff und dem Akteur klar artikuliert. Einerseits stellen die ersten Worte der beiden Verse (im folgenden Beispiel unterstrichen) die Verbindung zwischen dem Kohlenschiff und dem Akteur her. Andererseits wird mit Hilfe von Binnenreimen auf den Worten “atado” (gebunden), “pasado” (Gestern) und “anclado” (verankert) eine Veränderung des Versrhythmus hervorgerufen, die auf die Analogie zwischen der Unfähigkeit des Akteurs, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, sowie des am Ufer verankerten Kohlenschiffs hinweist.
Beispiel 2: Amarras, A.2, erster Zweizeiler
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Im zweiten Zweizeiler ändert sich die Klangqualität der Worte, mit der der Dichter das Gefühl des Zurückgehalten-Werdens beschreibt. Während der erste Zweizeiler viele offene Vokale enthielt (siehe die Binnenreime), werden die a-Klänge durch verbundene r-Konsonanten im zweiten Zweizeiler kürzer und härter (siehe Fettschrift im folgenden Beispiel). Als solle der durch die Vertäuung hervorgerufene Schmerz hörbar gemacht werden, setzt sich dieser Zweizeiler aus rau und schärfer klingenden Worten zusammen. Auch die Wiederholung des Klangmusters „como garfios, como garras“ verstärkt das Gefühl der Verzweiflung, das der Akteur in diesen Zeilen ausdrückt.
Beispiel 3: Amarras, A. 2, zweiter Zweizeiler |
Die zweite Strophe (B.1-3) wendet sich von Akteur ab und richtet die Aufmerksamkeit auf die verlorene Liebe. Dieser Wechsel des Blickfeldes schlägt sich auch in der rhythmischen Struktur der Verse nieder. In der vorangegangenen Strophe fielen alle rhythmischen Schwerpunkte auf das erste Wort jedes Zwei- oder Dreizeilers. Hier in der zweiten Strophe beginnen alle Verse mit unbetonten Silben, und der rhythmische Schwerpunkt fällt auf das Ende der Verse.
Beispiel 4: Amarras, rhythmische Schwerpunkte
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Der Effekt dieser Verlagerung ist ein rhythmischer Schwung vorwärts, der auf seine Auflösung am Ende des Verses zustrebt. Der Dichter dehnte den Schwung durch Binnenreime jedoch noch bis zum Ende des jeweiligen Zwei- oder Dreizeilers aus. Im ersten Abschnitt der zweiten Strophe (B.1) tritt die maßgebliche Auflösung erst mit dem letzten Wort des Zweizeilers ein. Die so akzentuierten Worte bilden wiederum den Reim des Abschnitts.
Beispiel 5: Amarras, B.1
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Wie in der ersten Strophe setzt sich auch hier der zweite Abschnitt (B.2) inhaltlich von den umgebenden ab. Der Akteur macht wiederum auf sein Missgeschick aufmerksam, was der Dichter durch eine erhöhte rhythmische Spannung mittels Binnenreimen hervorbringt.
Beispiel 6: Amarras, B.2
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Mit einem Aufschrei der Verzweiflung erkennt der Akteur hier die Aussichtslosigkeit seiner Situation und findet sich resignierend damit ab, dass nur Tod der ihn von seinen Qualen erlösen kann.
Die Thematik von Amarras ist typisch für viele Tangotexte. Der Vergleich eines unglücklich Verliebten mit einem Kohlenschiff war schon von Enrique Cadícamo in Niebla del Riachuelo verwendet worden. Auch das entsprechende Wortmaterial (wie „amarrado”, „alejarse”, „recalada“ usw.) findet sich dort wieder. Man kann bemängeln, dass Amarras es mit Selbstmitleid, Elend und Tod ein wenig übertreibt, aber man muss auch sehen, dass der Text Teil einer Tradition ist. Natürlich sind Texte wie Amarras Gattungsdichtung, d.h., sie beruhen auf einer Thematik und einem Wortschatz, den man in Tangotexten immer wieder antrifft. Dennoch ist Amarras das Werk eines Dichters, der sich auf Dramatik verstand. Der Text zeigt eine Entwicklung auf, die den Zuhörer von der Beschreibung der Gemütsverfassung des Akteurs in der ersten Strophe bis zur Erkenntnis der Aussichtslosigkeit seiner Situation in der zweiten führt. Das hat viel mit Opernarien aus dem 19. Jahrhundert gemein, die Tangodichter und -musiker als Kinder italienischer und spanischer Einwanderer sicherlich zu Hause gehört hatten. Vincenzo Bellinis Spruch, dass „Oper uns singend weinen, schaudern und sterben lassen muss“ scheint in vielen Tangotexten Resonanz gefunden.
2. Die Poesie der Musik
Unsere vorangehende Erläuterung der poetischen Form und des Inhalts vonAmarrasging auf viele Details ein, um zu verdeutlichen, dass das Gedicht auch ohne die Musik und die wunderbare Aufnahme mit Héctor Mauré und dem Orchester Juan D'Arienzo einen künstlerischen Wert besitzt. Leider können wir keine ebenso detaillierte Darstellung der Musik vorlegen. Es ist uns weder gelungen, etwas über das Leben des Komponisten, Carlos Marchisio, in Erfahrung zu bringen, noch einen Klavierauszug des Tangos aufzutreiben (von einer Partitur von D'Arienzos Arrangement ganz zu schweigen). Wir waren daher für unsere Besprechung ganz auf die allgemein zugänglichen Musikaufnahmen angewiesen.
Amarras ist ein typischer tango canción, d.h, er wurde nicht zum Tanzen, sondern zum Zuhören komponiert. In einem tango canción lag das Interesse im Gesang und der Interpretation des Textes, während das Orchester lediglich eine Begleitfunktion spielte. Wenn ein Tanzorchester einen tango canción spielte, verlegte sich der Schwerpunkt von der Interpretation des Textes auf die Musik. Der Sänger eines Tanzorchester sang niemals den ganzen Text, sondern nur Teile davon. Das Orchester lieferte dann nicht mehr die Begleitung, sondern spielte instrumental über lange Strecken allein. Das ermöglichte es den Arrangeuren, die einzelnen Teile eines Tangostückes nach Belieben zu vertauschen, da der Zusammenhang des Textes nicht mehr maßgebend war. Das künstlerische Interesse einer Tanzorchester-Version liegt im orchestralen Arrangement der Partitur. Eine systematische Auseinandersetzung mit solchen Arrangements wäre in der Tat hochinteressant, sollten sich solche Partituren noch auffinden lassen, aber leider hat man diese Art der Recherche in Argentinien auf das Gröbste vernachlässigt.
Die Musik von Amarras folgt der für einen tango canción typischen Gliederung in zwei Teile. Sie sind im folgenden als A bzw. B gekennzeichnet und stimmen mit den oben besprochenen zwei Strophen des Textes überein. In einer typischen Aufführung imtango-canción-Stil spielt das Orchester eine kurze Einleitung, dann werden alle Strophen in der Reihenfolge des Textes mit den entsprechenden Wiederholungen der Musik gesungen. (Es existiert eine Aufnahme im tango-canción-Stil vonAmarrasmit Héctor Mauré und dem Orchester Héctor Varela. In dieser Fassung wird der ganze Text gesungen, und das Orchester passt sich dem Vortrag von Mauré an, d.h., das Tempo ist flexibler und folgt dem Sänger, nicht den Tänzern.)
Für ein Tanzorchester war es nicht wesentlich, ein Stück in der Reihenfolge des Textes zu spielen. Die einzelnen Teile der Musik konnten nach Belieben umgestellt werden, aber das war keine zwingende Voraussetzung. In Alberto Castillos Aufnahme von Amarraswerden z.B. die Teile A und B, zweimal in Reihenfolge gespielt: zuerst instrumental vom Orchester, danach mit Castillos Gesang. Das Schema der Wiederholungen ist folgendes: ABAB. (Die gesungenen Teile sind durch Fettdruck angezeigt).
Juan D'Arienzos Aufnahme beginnt dagegen mit Teil B in einer instrumentalen Fassung, dann werden A und B gesungen und zum Abschluss wiederholt das Orchester Teil B. Der Sänger setzt noch einmal in dieser letzten Wiederholung ein und singt den letzten Abschnitt (B.3) mit dem gleichen Text wie vorher. Hier ist das Schema der Wiederholungen wie folgt: BAB+[B.1B.2B.3] (Die gesungenen Teile sind durch Fettdruck angezeigt).
Der musikalische Aufbau von Amarras stimmt mit dem des Gedichtes überein. So wie sich jede Textstrophe in drei Abschnitte aufteilen läßt, so gliedern sich auch die entsprechenden Teile der Musik in drei Abschnitte. Die Abschnitte lassen sich wiederum in zwei Phrasen zerlegen, d.h. in einen Vordersatz und einen Nachsatz. Mit wenigen Ausnahmen sind alle Phrasen 4 Takte lang, und die meisten Abschnitte erstrecken sich über 8 Takte.
Beispiel 7 : Amarras, die musikalische Struktur
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Die vorangehende Tabelle zeigt an, dass der zweite Abschnitt der ersten Strophe, A.2, aus zwei Phrasen von jeweils 3 Takten besteht und damit einen kürzeren Abschnitt von 6 Takten ergibt. In diesem Abschnitt wird, wie oben erwähnt, der Vergleich zwischen dem Akteur und dem vertäuten Kohlenschiff aufgestellt, der durch eine Verdichtung des Sprachrhythmus mit Hilfe von Binnenreimen zum Ausdruck gebracht wurde. Mit seinen zwei verkürzten Phrasen bildet der musikalische Satz dazu eine einfallsreiche Ergänzung, die die Verdichtung der Versrhythmik mit einer Verkürzung der Phrasierung musikalisch verstärkt.
Der letzte Abschnitt des Tangos, B.3, weist eine weitere Unregelmäßigkeit in der Phrasenstrukture auf. Anders als der „verdichtete“ Abschnitt A.2, in dem Vorder- und Nachsatz gleich lang sind, ist der Nachsatz in B.3 doppelt so lang wie der Vordersatz. Diese Unausgewogenheit, die allen anderen Phrasen entgegensteht, stellt eine andere Art musikalischer Verstärkung der Versrhythmik dar.
Textlich und musikalisch findet das Stück im Abschnitt B.3 seinen Abschluss. Um aber das Gefühl zu vermitteln, das der Schlusspunkt erreicht wurde, müssen sich all Spannungen, die im Laufe eines Stückes entwickelt wurden, ihre Auflösung finden. Die Auflösung wird von den Hörern eindringlicher wahrgenommen, wenn sie nicht unvermittelt auftritt, sondern hinausgezögert wird. Das ist genau, was die Verlängerung des letzten Abschnittes zu erreichen versucht.
Die unregelmäßige Verslänge im Abschnitt B.3 hätte leicht „normalisiert“ werden können, indem auf die beiden inneren Verse verzichtet worden wäre:
Ahora que sé que no vendrás
para alejarme,
y así matando mi obsesión
vago sin fin por la recova.
Busco valor para partir,
lejos de ti poder morir.
Das Ergebnis wäre eine regelmäßige Struktur der Verse mit zwei Zweizeilern und einem Silbenmaß (8, 9; 8, 8 , das den andere Versen entsprechen würde. Die Verse wären allerdings ziemlich trocken und ausdruckslos. Die Einfügung der zusätzlichen Verse, die den Rhythmus durch die Wiederholung des Wortes „para“ noch einmal verdichten, bekräftigen die Empfindung eines Abschlusses zu den letzten zwei Worten, „poder morir“, und bringen den Text zu einem dramatischen Abschluss.
Musikalisch gesehen bereitet der Nachsatz in B.3 die Schlusskadenz des Stückes vor. Es ist eine Eigenschaft von Kadenzen, dass sie den harmonischen Rhythmus (d.h., die Zeitspanne zwischen den Harmoniewechseln) verlangsamen. Durch diese Verzögerung wird die Erwartung der harmonischen Auflösung erhöht, und wenn diese eintrifft (d.h., wenn der Schlussakkord erklingt), entsteht die Empfindung eines Abschlusses. Man kann daher sagen, das eine musikalische Kadenz mit ihrer Verlangsamung des harmonischen Rhythmus einer Erweiterung der Versstruktur, so wie sie oben beschrieben wurde, entspricht. Kadenzen sind gewöhnliche musikalische Vorgänge, und tatsächlich ist die Schlusskadenz von Amarras sehr konventionell. Trotzdem ist es faszinierend, wie Poesie und Musik im letzten Abschnitt zusammenfinden und einen dramatischen Abschluss hervorbringen.
Den aufmerksamen Lesern oder Zuhörern wird es aufgefallen sein, dass die zweite Strophe (B) in D'Arienzos Aufnahme im ganzen dreimal gespielt wird. In Hinsicht auf die ausführliche Vorbereitung der Schlusskadenz muss man sich fragen: Verschleißt sich der Effekt der Auflösung und des Abschlusses nicht mit jeder Wiederholung? Zu Beginn spielt das Orchester Teil B allein, und man wird beim ersten Mal, da man noch nicht das ganze Stück gehört hat, keine Schlusskadenz erwarten. Dann singt der Sänger beide Strophen (A und B), und das Stück könnte nachvollziehbar zu einem Ende kommen. Aber hier macht das Orchester deutlich, dass es noch weiter geht. Die Worte „poder morir“, zu denen die harmonische Auflösung der Schlusskadenz erfolgt, werden von Mauré mit einer absteigenden Quinte vom a' zum Grundton d' in einem wunderschönen piano gesungen. Die Worte sind leise intoniert, wie ein stiller Gedanke, was darauf schließen läßt, dass die Seelenqual des Akteurs noch kein Ende gefunden hat.
Die Wiederholung des letzten Abschnitts von Mauré am Ende der Aufnahme hinterlassen einen ganz anderen Eindruck. Hier singt Mauré die Worte in einem starken forte und—wie in einer Opernarie—steigt die Melodie eine Quarte vom a' zum Grundton d“ auf. Allein die Intensität des Klanges, die durch ein mit Nachdruck spielendes Orchester noch unterstützt wird, vermittelt jedem Zuhörer oder Tänzer, dass das Stück nun wirklich sein Finale erreicht hat.
3. Die Poesie des Tanzens
Als Schlusswort möchten wir diesem Artikel eine getanzte Interpretation von D'Arienzos Amarras-Aufnahme anfügen. Von den vielen Versionen, die in Youtube erhältlich sind, haben wir uns für die Darbietung von Silvana Anfossi und Alejandro Hermida entschlossen. Mehr als jede andere ist sie uns nicht als raffiniertes Bravourstück aufgefallen, sondern als eine Choreografie, die sich aus der Musik ergibt. Die formalen Aspekte von Amarras, die wir in diesem Artikel aufgezeigt haben, klingen auch in den Tanzschritten von Anfossi und Hermida nach. (Um die Choreografie mit der musikalischen Form in Verbindung zu bringen, haben wir die Kennzeichen der Abschnitte im Video eingeblendet.)
Auffallend an der Choreografie ist, dass sie der musikalischen Phrasierung folgt. Das ist sogar bemerkbar, wenn man der Routine ohne Musik (ohne Ton) zuschaut. Die Übergänge zwischen den Strophen (A und B) und Abschnitten (A.1, A.2 usw.) zeigen das besonders deutlich. In Text und Musik sind Übergänge durch einen Einschnitt gekennzeichnet, der, je nach formalem Stellenwert, stärker oder schwächer ist. In der Choreografie ist es nicht anders. Wenn sich die Musik einer Kadenz am Ende einer Strophe nähert, wird die Choreografie lebhafter und baut mehr Tanzfiguren ein. Mit der Auflösung in der Kadenz findet auch die Figurenfolge ihren Abschluss. Die Tänzer sammeln sich, suchen die Haltung, und fahren dann mit dem nächsten Schrittfolge fort.
Zwei Aspekte der Choreografie und ihrer Ausführunf sind unserer Meinung nach besonders bemerkenswert. Der erste ist die Ruhe und Mühelosigkeit—man möchte sagen Abgeklärtheit—der Tänzer, die sich durch die ganze Aufführung zieht. Nichts geschieht übereilt oder außerhalb des Taktes der Musik. Der zweite Aspekt ist der „unbühnenhafte“ Charakter der Choreografie. Anders als viele andere Tango-Präsentationen, die sich am Bühnentanz orientieren, basiert die von Anfossi und Hermida auf der caminada. Die Tänzer bewegen sich durchgehend in eine Richtung (vorwärts) und bleiben in der Regel „in der Linie“. Anhängern eines mehr bühnenmäßigen Stils mag diese Darbietung vielleicht zu traditionell sein. Wir sehen in ihr allerdings eine Art des Aufführungstanzes, die dem Ideal eines Gesellschaftstanzes am nächsten kommt und der es gelingt, Musik und Tanz miteinander zu verschmelzen.