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Schon bald nachdem Tango zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer ausgeprägten und bodenständigen Musikrichtung der Rio-de-la-Plata-Region erklärt wurde, erschienen auch “Theorien” über seine Geschichte. Diese waren allerdings meist nicht das Ergebnis objektiver Recherche, sondern Äußerungen in journalistischen Arbeiten oder Meinungen, die, oft wiederholt, dann als allgemein bekannt akzeptiert wurden.
Milonga und Tango, die beide den Habanera-Rhythmus als Begleitfigur aufwiesen, zeigten ganz offensichtlich Einflüsse der Habanera. Als Folge dessen wurde behauptet, dass die Habanera von kubanischen Matrosen in Buenos Aires eingeführt wurde. Dort wurde sie von einheimischen Musikern aufgegriffen und in zwielichtigen Hafenspelunken getanzt. Später vermischte sie sich mit der Milonga und entwickelte sich danach zum Tango. Diese rein spekulative Annahme wurde so oft wiederholt, dass ihr sogar heute noch Glauben geschenkt wird. Sie beruht aber nicht auf historischen Fakten, sondern auf oberflächlichen Klischees, von denen eine Abstammung abgeleitet wurde.
Tango wurde von Anfang an als die Musik niedriger sozialer Schichten angesehen, und so wurden ihm Vorgänger gleichen Ranges zugeordnet. Die Milonga war ein Musikstil aus den ländlichen Gegenden Argentiniens, die von payadores (umherziehenden Sängern, die sich selbst auf der Gitarre begleiteten) vorgetragen wurde. Die Habanera, die von “gemeinen“ kubanischen Seeleuten in die Wohnviertel der Unterschicht eingeführt worden war, erhielt durch ihre Beziehung zur Milonga ebenfalls die Stellung eines ländlichen Tanzes.
Bildliche Darstellung eines Habanera-Tanzes aus einer Kurzgeschichte, “Los bailes de mi pago”.
Veröffentlicht in Caras y Caretas, 1899
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Obwohl die Präsenz des Habanera-Rhythmus in Tango und Milonga eine Abstammung, so wie sie oben dargelegt wurde, andeutet, läßt sie sich angesichts nachweislicher historischer Sachverhalte nicht beibehalten. Zum einen ist es höchst unwahrscheinlich, dass eine große Anzahl kubanischer Matrosen Buenos Aires besuchte (von Seeleuten, die musikalisch so begabt waren, dass sie die einheimischen Musiker beeindrucken konnten, ganz zu schweigen), da Kuba über keine Handelsflotte verfügte. Zum anderen läßt diese Darlegung das zeitgenössische Musikleben in Buenos Aires vollkommen außer acht.
1. Tanzmusik in Buenos Aires, 1861-1898
Sicheres Datenmaterial über Musik, die im 19. Jahrhundert tatsächlich gespielt, gehört und getanzt wurde, ist schwer zusammenzubringen—besonders über Argentinien auf Grund eines eklatanten Mangels an Forschungsarbeit. Ein Bestandsverzeichnis von Stücken argentinischer Komponisten, die zwischen 1861 und 1898 in der Presse als Neuerscheinungen erwähnt wurden, kann darüber aber wenigstens etwas Auskunft geben, so unvollständig sie auch sein mag. Die meisten Stücke gehörten der Tanzmusik an. Wenn die Anzahl der Kompositionen mit einem Beliebtheitsgrad übereinstimmt, dann waren die 5 beliebtesten Tänze: Walzer (168), Polka (137), Mazurka (113), Habanera (64), und Schottische (32). Diese Tänze waren (was nicht überraschen sollte) auch die am häufigsten komponierten (und getanzten) Stücke in Europa.
Klassifikationen von Tanzmusik sind oft bedenklich. Ein Tanz, der durch einen Titel angegeben wird, kann sich lediglich auf den Stil der Komposition beziehen (ein Klavierstück „im Stil“ eines Walzers), anstatt auf einen Gesellschaftstanz hinzuweisen. Diese Problematik zeigt immer wieder bei Habanera ähnlichen Stücken, die oft so kurz sind, dass es sich kaum lohnen würde, sich dafür auf die Tanzfläche zu begeben. Es gibt aber Belege dafür, dass die Habanera in der Tat ein beliebter Gesellschaftstanz war—und das in Buenos Aires.
Der Höhepunkt der jährlichen Ballsaison in Buenos Aires wie in Europa waren die Karnevalstänze. 1877 wurden im prestigeträchtigsten Theater von Buenos Aires, der Oper, zum ersten Mal öffentliche Karnevalstänze veranstaltet. Eine Zeitungsannonce kündigte folgendes an:
Oper |
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DIE RENOMMIERTEN TÄNZE DER OPERNGESELLSCHAFT |
Auf Wunsch zahlloser Mitglieder der eleganten Jugend werden |
glanzvolle Gesellschafts-, Phantasie- und Aufführungstänze |
am Sonnabend, den 20. Januar, und am Sonntag, den 21. Januar, gegeben. |
GROSSARTIGE NEUHEIT |
Das Theater wurde in einen großen Saal verwandelt, in dem das Proszenium auf 200 Quadratellen erweitert und mit ausreichender Ventilation versehen wurde. Alle Dekorationen und Ausschmückungen wurden zu diesem Anlass neu angefertigt. Eine große, üppig dekorierte Tribüne wird in der Mitte des Theaters aufgebaut, um einem großen Orchester der besten Musiklehrer Platz zu bieten. Sie werden die modernsten Tänze der namhaftesten französischen, deutschen, italienischen und spanischen Komponisten (Strauss, Gungel, Labitzky, Riege, Offenbach, Lecoq, Hervé, Littolff, Capitani, Levi, Iradier usw.) spielen. |
Die Tänze werden je 10 Minuten, zuzüglich einer Pause von 5 Minuten, dauern. Der Ablauf ist folgender: 1. Polka, 2. Habanera, 3. Quadrille (französisch), 4. Walzer, 5. Mazurka, 6. Schottische, 7. Quadrille (französisch). |
Mit einer Einladung des Tanzkomitees ist der Eintritt für Damen GRATIS. |
Ankündigung der Karnevalstänze in der Oper von Buenos Aires (1877).
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Das Programm der Tänze wurde im Voraus bekanntgegeben. Es entspricht einer Auswahl, die man auch auf Tanzveranstaltungen in Europa angetroffen hätte. Wie allgemein üblich im 19. Jahrhundert bildeten die Quadrilles den Höhepunkt des Abends, da sie das Zusammenwirken des ganzen tanzenden Publikums verlangten.
Die Komponisten, die im Programm angeführt wurden, stammten alle aus Europa und waren für ihre Tanzmusik bekannt. Auch Sebastián Iradier, der prominenteste Komponist von Habaneras, findet sich in der Liste. Im ersten Artikel dieser Serie stellten wir fest, dass seine Habaneras größtenteils Gesangsstücke waren, oft von sehr kurzer Dauer. Das Programm kündigt aber Tänze von 10 Minuten an. Das Orchester muss daher ein Arrangement von mehreren Habaneras gespielt haben. (Walzer, die als Tanzmusik komponiert wurden, setzen sich üblicherweise aus vier oder mehr Teilen zusammen. Jeder Teil für sich ist ein „kompletter“ Tanz. Nacheinander gespielt und wiederholt ergibt sich so leicht eine Aufführungsdauer von 10 oder mehr Minuten.)
Die Annonce veranschaulicht zwei Sachverhalte: spanische Habanera-Musik wurde in Buenos Aires sehr geschätzt. Das Erscheinen von Iradiers Namens in der Annonce weist auch darauf hin, dass seine Musik zur besten gehörte, die man zur Verfügung hatte. Darüber hinaus wurde die Habanera tatsächlich als Gesellschaftstanz gepflegt und hatte ihre Anhänger in den besten Kreisen der Gesellschaft.
Tango erschien allerdings nicht auf dem Programm. Es sollte noch 25 Jahre dauern bis Tango zum festen Programm der Karnevalsfeste gehörte. Es finden sich auch nur wenige Tangos im oben erwähnten Inventar der neu-veröffentlichten Stücke argentinischer Komponisten. Für die Jahre 1862-91 gibt es nur 10 Einträge, die sich auf Tangos beziehen. Die Musik der meisten Stücke scheint nicht überliefert worden zu sein. Vier Einträge beziehen sich auf Lieder, die von „schwarzen“ Karnevalsgesellschaften (sociedad de negros) vorgetragen wurden. Diese Gesellschaften hatten eine weiße Mitgliedschaft, die Festwagen für die Karnevalsprozessionen ausstatteten und Lieder sangen, in denen sie sich als negros präsentierten. Zwei weitere Tangos im Inventar sind Klavierauszüge aus spanischen Zarzuelas. Einer davon verdient besondere Beachtung, wie wir im folgenden bemerken werden.
2. El Tango de la Menegilda
Der argentinische Komponist Francisco Hargreaves veröffentlichte 1889 einen Klavierauszug des Tango de la Menegilda aus der Revue La Gran Vía der spanischen Komponisten Federico Chueca und Joaquín Valverde. Die Revue war 1886 in Madrid uraufgeführt worden und wurde drei Jahre später zum ersten Mal in Buenos Aires auf die Bühne gebracht. Dass Hargreaves—selbst ein namhafter Opernkomponist—sich umgehend daran machte, einen Klavierauszug eines Stückes anderer Komponisten zu veröffentlichen, ist vielsagend. Der zu erwartende Gewinn eines Klavierauszuges des populärsten Liedes der Revue muss außerordentlich gewesen sein. In der Tat, La Gran Vía war kein gewöhnliches Werk. Es feierte triumphale Erfolge in Paris, London, New York und anderen Weltstädten. Noch 20 Jahre nach der Erstaufführung in Buenos Aires erinnerte man sich an den spektakulären Erfolg der Revue.
El Tango de la Menegilda (“Der Tango des Dienstmädchens”) wird in der Revue zweimal gesungen: zuerst von einem Dienstmädchen, dann von der Hausherrin, doña Virtudes (Frau „Tugendhaft“). Das Dienstmädchen beschreibt, wie sie, als sie nach Madrid kam, nur auf Geheiß zu schrubben, fegen, kochen, bügeln und nähen lernte. Als sie erkannte, dass sie das nicht weiterbringen würde, entschloss sie sich, das Bestehlen und Bemogeln ihrer Herrschaften zu lernen. Sie stellte sich darin sehr geschickt an und wurde schließlich Hausmädchen bei einem senilen alten Mann, bei dem sie nun die Hausherrin ist. Doña Virtudes singt dann über ihre Probleme mit stehlenden, faulen und unverschämten Dienstmädchen.
Musikalisch ähnelt El Tango de la Menegilda sehr den Bühnentangos, die im vorgehenden Artikel dieser Serie besprochen wurden. Er zeigt alle Merkmale einer Habanera ähnlichen Komposition: den Habanera-Rhythmus als Begleitfigur, Kreuzrhythmen in der Melodie und eine zweiteilige Form in kontrastierenden Varianttonarten, hier in E Moll bzw. E Dur.
Die Bedeutung des Tango de la Menegilda für die Entwicklung des argentinischen Tangos liegt im Rollenaufgebot des Liedes und der Revue, sowie im Einfluss, den La Gran Vía auf das Theater in Buenos Aires ausübte. Habaneras und Tangos repräsentierten, wie wir festgestellt haben, etwas Exotisches mit Bezug auf die schwarze Bevölkerung Kubas. Im Theater gehörten Schwarze in den Bereich der Dienerschaft, d.h. zu Rollen, die herkömmlicher Weise als (oftmals komisches) Gegenstück zu den Hauptrollen aufgestellt wurden. Das Neue in La Gran Vía lag darin, dass die Rollen der „Unterschicht“ in der Vordergrund rückten und als sympathische Persönlichkeiten dargestellt wurden. El Tango de la Menegilda präsentiert ein Dienstmädchen, eine Person zweifelhaften Charakters, das über keine anderen Mittel verfügt, um vorwärts zu kommen, als von denen zu nehmen, die mehr haben als sie: ihre besser gestellten Herrschaften. Doña Virtudes, die Hausherrin des Dienstmädchens, stellt als Kontrast die Oberschicht dar: eine penible Hausherrin, die aber nur Sympathie für das stibitzende Dienstmädchen erweckt. Die traditionellen Rollen der „Unterschicht“ (Dienstmädchen, Kleinkriminelle, Soldaten, Lebemänner, usw.) sind in La Gran Vía zur Hauptrolle geworden. Dieses Personenaufgebot sollte auch in den Texten des argentinischen Tangos eine entscheidende Rolle spielen.
La Gran Vía war so erfolgreich, dass sie unverzüglich imitiert wurde. Innerhalb eines Jahre feierte De Paseo por Buenos Aires, eine argentinische Version, Premiere. Es handelte sich um eine Fassung, die viele Rollen des Modells übernahm und, wie der Titel andeutet, in Buenos Aires spielte. Weitere Revuen sollten noch folgen. Die Inszenierung von Charakteren aus den unteren Bevölkerungsschichten wurden auch von den Dramatikern des in den 1890iger Jahren aufkommenden argentinischen Theaters übernommen. (Vor der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts bestand das Theaterleben in Buenos Aires fast ausschließlich aus ausländischen Theatertruppen.) Sainetes, kurze Theaterstücke, die in Buenos Aires oder ländlichen Gegenden spielten, machten bald dem ernsthaften Theater den Rang streitig. Ein beliebter Schauplatz für Handlungen im städtischen Umfeld war der conventillo, die Mietskasernen der Unterschicht und Immigranten. Tango wurde zur Musik und zum Tanz der Bewohner der conventillos stilisiert.
(Aufnahmen von El Tango de la Menegilda sind auf YouTube erhältlich.)
3. Justicia criolla
Es dauerte nicht lange bis die Gedankenverbindung von conventillo und Tango alltäglich wurde. Ezequiel Sorias Zarzuela Justicia criolla, die 1897 zur Aufführung gebracht wurde, war in dieser Hinsicht ein Schlüsselwerk. Die Handlung, die in einem conventillo spielt, schließt ein Fest ein, bei dem die Bewohner einen Tango tanzen. Es ist nicht der einzige Tanz, der verlangt wird (Walzer und Quadrille, die wir auch in der Liste der Karnevalstänze der Oper antrafen, werden auch erbeten), aber Tango wird in diesem Stück als bodenständiger Tanz dargestellt. Damit hat er seine Verbindung mit Kuba verloren.
Erster Mann Ein Walzer.
Einige Nein, nein, Tangos.
Andere Quadrilles!
Benito Herrschaften, etwas Ruhe, bitte! Alles wird getanzt. Ich schlage vor, dass wir als gute criollos die Versammlung mit einem Tango eröffnen, und wenn die Mehrheit dem zustimmt, können die Gitarristen anfangen, auf ihren ihren Instrumenten zu klimpern.
Alle Den Tango, den Tango!
Benito Wie schnell ich das eingelenkt habe! Ich habe eine sichere Hand für Mehrheiten. (Sie spielen und tanzen Tango. ...)
Benito, eine der Hauptrollen des Stückes, ist ein schwarzer Pförtner im Kongress. Als Nebenhandlung des Stückes hat er sich in Juana verliebt, die er beim Tanz eines Schottische kennengelernt hatte. Obwohl Tango immer mit Tanzen in Verbindung gebracht wurde, wird in Justicia criolla eine genauere Verbindung zu einer bestimmten Art und Weise des Tanzens hergestellt. Argentinischer Tango wurde mit corte y quebrada getanzt (mit “Einschnitt” und “Bruch”). Andere Tänze, z.B. der Walzer, wurden sin corte getanzt. Hinweise auf spezielle Tanzfiguren wie die quebrada (“gebrochen”) waren schon früher in der Literatur erschienen, aber nicht unbedingt mit dem Tango in Verbindung gebracht worden. Ungenau wie diese Hinweise sind, scheint es sich dabei um eine Beugung der Frau zu handeln, die als skandalös empfunden wurde, da sie die traditionell aufrechte Körperhaltung „zerbrach“. Die ausdrückliche Verbindung zwischen Tango, corte und quebrada wurde vielleicht zum ersten Mal in Justicia criolla formuliert.
In einem Dialog mit José, einem spanischen Immigranten und Pförtner im Justizpalast, beschreibt Benito, wie er Juana auf einem Karnevalstanz eroberte:
…
dann, während eines Tangos, He!, legte ich los
und eroberte sie mit einem reinen corte.
Später im Stück beschreibt Benito die Umarmung Juanas während eines Tangos. Er wird in enger Umarmung getanzt, die Tänzer lehnen sich aneinander und führen eine quebrada aus.
Gitarrist Und diese Juanita, wie ist sie?
Benito So, he! (er schließt seine Faust) Die beste! ... Wenn ich mit ihr einen Tango tanze (er führt ein paar Tanzschritte auf),
lege ich sie fest gegen meine Hüfte und lasse mich
zum Rhythmus der Musik gehen. Und ich versenke mich
in ihre schwarzen Augen, und sie neigt ihren Kopf an meine Brust,
und bei einer Drehung komm eine kleine quebrada...
Oh, Bruder, alles löst sich auf … jede Missstimmung löst sich auf.
Gitarrist Diese Juana möchte ich kennen lernen.
Das Bild des Tangos, das in Justicia criolla unterscheidet sich deutlich von dem in der spanischen Zarzuela. Es ist hier eher Zufall (aber vielleicht nicht unbedeutend), dass Benito schwarz ist. Tango hat sich zum Tanz des conventillos, d.h. der argentinischen Unterschicht, entwickelt.
In der ersten Aufführung von Justicia criolla wurde Benito von einem spanischen Schauspieler, Enrique Gil, einem der gefeiertsten Bühnenkünstler Buenos Aires', gespielt. Den Gitarristen gab der damals einundzwanzig-jährige Arturo de Nava, der oft als Tangotänzer auf der Bühne stand und einer der bekanntesten Sänger volkstümlicher argentinischer und uruguayischer Musik (payador) wurde.
Arturo de Nava (dunkles Jacket) als Tangotänzer
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4. Die Anfänge des argentinischen Tangos
Die Anfänge des argentinischen Tangos fielen mit der Entstehung eines nationalen argentinischen Theaters zusammen. Die ersten Stücke, die eindeutig als argentinische Tangos bezeichnet werden können, wurden um die Zeit des Wechsels zum 20. Jahrhundert veröffentlicht. Sie stammen von einer kleinen Gruppe Komponisten, die vor 1880 geboren wurden. Die „dienstältesten“ (und vielleicht wichtigsten) Mitglieder dieser Gruppe—Ángel Villoldo (1861-1919) und Cayetano Rosendo Mendizábal (1868-1913)—komponierten die ältesten Tangos, die heute noch als Tanzmusik gespielt werden. Zwei weitere Mitglieder—Alfredo Eusebio Gobbi (1877-1938) und Enrique Saborido (1878-1941) (voriger trat zusammen mit seiner Frau Flora Rodríguez in Theatern auf, letzterer betätigte sich auch als Tanzlehrer)—trugen entschieden zur Popularisierung des Tangos in Paris bei.
Das Werk und die künstlerische Entwicklung dieser Musiker (genauer gesagt, aller argentinischen und uruguayischen Tangomusiker) ist nie ausreichend dokumentiert worden, und es ist daher unmöglich eine Chronologie ihrer Werke aufzustellen. Es ist aber offensichtlich, dass die Stücke zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung Eigenschaften erkennen lassen, die sie deutlich von den älteren Habanera ähnlichen Tangos unterscheiden.
Zwei Unterschiede sind besonders auffallend: erstens sind die meisten argentinischen Tangos als Instrumental-Stücke konzipiert worden. Während die Habanera ähnlichen Stücke, die größtenteils Gesangskompositionen waren, eine zweiteilige Gliederung (AB) aufweisen, läßt sich bei den instrumentalen Tangos eine dreiteilige Rondo-Form (ABC) nachweisen. Stücke mit drei Abschnitten, bestehend aus jeweils 16 Takten (diese wiederum in zwei acht-taktige Phrasen gegliedert), wurden zum Standardmodell instrumentaler Tangos.
Zweitens, Kreuzrhythmen, die durch Triolen in der Melodie und dem Habanera-Rhythmus als Begleitfigur entstanden, wurden aufgegeben. Stattdessen wurde die síncopa der markante und vorherrschende Rhythmus des argentinischen Tangos. In einigen Stücken ist der Rhythmus so bestimmend, dass sie Eindruck hinterlassen, „um die síncopa herum“ komponiert worden zu sein. Zudem nahm die Musik auf Grund ihres instrumentalen Ursprungs einen rhythmisch stärkeren Charakter an, der sich in manchmal kurzen, stark akzentuierten Motiven und dynamischen Kontrasten ausdrückte, die einen Eindruck von schelmischer Übertreibung hinterlassen.
Natürlich blieb der Einfluss der Habanera noch für einige Zeit erkennbar. Der Habanera-Rhythmus war immer noch die vorherrschende rhythmische Figur in der Bass-Begleitung. Verzierungen in der Melodie erinnern an die zahlreichen Pralltriller der spanischen Zarzuela-Tangos. Kontrastierende Varianttonarten in Dur und Moll blieben ein standardmäßiges Mittel zur formalen Gestaltung für die gesamte Tangoliteratur.
In einer früheren Serie von Artikeln wurden frühe instrumentale Tangos aus dem Zeitraum, der uns hier beschäftigt, eingehend analysiert. Wir werden deshalb hier davon absehen, diesen Vorgang zu wiederholen und verweisen die Leser auf zwei Kompositionen, Ángel Villoldos El Porteñito and Arturo De Bassis El Incendio, die in vielen Aspekten als exemplarisch gelten können.
El Porteñito, Quarteto Roberto Firpo (1936)
El Incendio, Aufnahme von Roberto Firpo und seinem orquesta típica, 1927
Nach den Quellen zu urteilen, die heute noch existieren und zugänglich sind, ist es erstaunlich, dass der argentinische Tango innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes in Erscheinung trat und von Anfang an klar definierte Züge aufwies. Es gibt wenig Anzeichen für eine stilistische Entwicklung. Abgesehen von den Einflüssen der Habanera und der Zarzuela scheint es, dass die Grundform und Besonderheit des argentinischen Tangos von allen Komponisten von vornherein verstanden und geteilt wurde.
Eine Erklärung dafür ergibt sich aus dem Umstand, dass die grundlegende Form des argentinischen Tangos nicht neu war. Die dreiteilige Rondoform (ABC) ist eine der üblichsten Muster in der westlichen Musik, insbesondere in Tanz- oder Tanz ähnlichen Musikgattungen. Das plötzliche Auftreten eines ausgeprägten argentinischen Tangos, dessen Komponisten auf die gleichen musikalischen Formen und tonalen Ausdrucksformen zurückgreifen, ist ein Indiz dafür, das diese Musik von professionellen Musikern gepflegt wurde, die in der Tradition der westlichen Musik ausgebildet worden waren. Neu im Tango war nicht die musikalische Form, sondern der musikalische Stil. Dieser neue Stil äußerte sich in rhythmischen und melodischen Eigenschaften (z.B. der síncopa), später in der Zusammensetzung spezialisierter Ensembles (dem orquesta típica) und einer besonderen Aufführungspraxis.
5. La Morocha
“Für mich liegt der Ursprung des Tangos in der Habanera. In seiner ersten Epoche hatte er den Rhythmus der Habanera. Jetzt ist er anders, aber das war der Ursprung. Man merkt das, wenn man sich La Morocha anschaut.”
Arturo De Bassi, 1937
Enrique Saboridos La Morocha (1905) ist einer der bekanntesten frühen Tangos. Seine emblematische Stellung beruht zum großen Teil auf seiner so gut wie obligatorischen Präsenz in argentinischen Filmen, deren Handlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt. Saboridos Bedeutung beschränkt sich nicht nur auf seine Kompositionen. Er war auch ein bekannter Tangolehrer und unterhielt eine Tanzschule in Buenos Aires. 1911 wurde er nach Paris eingeladen und unterrichtete dort bis zu Beginn des 1. Weltkrieges.
1928 schilderte Saborido in einem Interview die Entstehungsgeschichte von La Morocha. Ihm hatte es seinerzeit eine brünette (morocha) Tänzerin, Lola Candales, angetan. Seine Freunde forderten ihn eines Abends heraus, einen Tango zu komponieren, den Candales erfolgreich singen könnte. Nachdem er in den frühen Morgenstunden nach Hause zurückgekehrt war, machte er sich an die Komposition und schrieb den Tango innerhalb von 1-1/2 Stunden nieder. Daraufhin suchte er Ángel Villoldo auf und bat ihn, einen Text für das Lied zu schreiben. Nach einigen Stunden war das Stück zum Proben fertig, und Lola Candales führte es am folgenden Abend zum großen Applaus von Saboridos Freunden auf.
La Morocha wurde als tango criollo gekennzeichnet. Damit kann man ihn den argentinischen Tangos zuschreiben. Es ist eine schlichte Komposition, die aus zwei Teilen von je 16 Takten besteht, zuzüglich einer Einleitung und einer Coda von jeweils 4 Takten. Der erste Teil, die Einleitung und die Coda stehen in D Moll, der zweite Teil dagegen in D Dur.
Durch das ganze Stück zieht sich der Habanera-Rhythmus als die vorherrschende Begleitfigur. Auch die Melodie ist recht einfach. Im ersten Teil besteht sie aus fast nur einem Motif, das sich, leicht abgewandelt, dem harmonischen Zusammenhang anpasst.
La Morocha, Teil A, Vordersatz. Die roten Klammern zeigen das melodische Motif an.
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Das Gleiche gilt für den zweiten Teil, der auch ein sich wiederholendes Motif aufweist, das dem harmonischen Zusammenhang angepasst wird. Interessanterweise setzt sich dieses Motif aus Triolen zusammen, die einen Kreuzrhythmus gegen den Habanera-Rhythmus in der Begleitfigur entstehen lassen.
La Morocha, Teil B, Vordersatz. Die roten Klammern zeigen das melodische Motiv mit den Triolen an.
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Saboridos tango criollo scheint allen formalen Elementen des argentinischen Tangos, die oben angeführt wurden, zu widersprechen. Mehr als einem Tango gleicht La Morocha einer Habanera—mit Habanera-Rhythmus in der Begleitfigur, Kreuzrhythmen in der Melodie und einer zweiteiligen formalen Struktur mit tonalen Kontrasten durch die Varianttonarten D Moll und D Dur.
Der Betrachter steht vor einem Problem: der Komponist nannte das Stück einen Tango, aber die musikalischen Indizien weisen auf eine Habanera hin. Diente etwa eine spanische Habanera wie Iradiers La Paloma dem vielleicht emblematischsten argentinischen Tango, La Morocha, als Vorbild?
Komponisten sind weder Analytiker noch Bibliothekare ihrer Musik. Man kann mit gutem Grund annehmen, dass ihnen die erfolgreiche Verbreitung ihrer Stücke wichtiger ist als eine zweifelsfreie Einordnung. La Morochas Klassifizierung als Tango kann daher vielleicht als ein Zeichen der wachsenden Popularität des Tangos und des Niedergangs der Habanera angesehen werden. Wie auch immer, ein aufmerksameres Lesen von Saboridos Geschichte läßt erahnen, dass die Umstände unter denen La Morocha komponiert wurde nicht ganz den Gegebenheiten entsprachen, die geschildert wurden.
Der Erklärung, dass Saborido den Tango für eine Tänzerin—keine Sängerin!—schrieb, scheint merkwürdig, wenn auch nicht unmöglich. (Selbst Fred Astaire versuchte sich am Anfang seiner Karriere als Sänger zu präsentieren.) Zweifelhafter ist der Text, den Villoldo für La Morocha verfasste: er spielt auf dem Land; die darin auftretenden Personen sind die „Brünette“ und ein ländliches Ensemble aus Gauchos, pamperos und einem berittenen Grundbesitzer. Das ist nicht die typische Besetzung für einen Tango, sondern eher für eine Habanera, die—wie wir am Anfang dieses Artikels erwähnten—als ländlicher Tanz angesehen wurde.
Die Inhalte der Texte, die Villoldo für seine eigenen tangos criollos schrieb, stellen dagegen in eine ganz andere Umwelt dar. Sie spielen alle in einem städtischen Milieu und sind mit Personentypen ausgestattet, die man in einem conventillo erwartet. Typischerweise sind die Akteure dieser Texte auch eifrige Tangotänzer. Es ist daher schwer nachzuvollziehen, warum Villoldo die Handlung von La Morocha in die Pampa verlegte, als Saborido ihn bat, einen Text für einen Tango zu schreiben, den eine Tänzerin in einer Bar in Buenos Aires singen würde.
1906, als La Morocha veröffentlicht wurde, und 1928, als Saborido sein Interview gab, erfreute sich Tango großer Beliebtheit in Buenos Aires. Die Habanera hatte dagegen ihren Höhepunkt überschritten. Sie wurde 1905 immer noch getanzt, aber konnte nicht mehr die Begeisterung hervorrufen, die Tango erweckte. Bei 1928 war die Habanera ein Tanz vergangener Tage. Welche Motivationen zu der fraglichen Klassifizierung von La Morocha führten, läßt sich heute wohl nicht mehr ergründen. Denkbar ist allerdings, dass das Stück als Habanera nicht den großen Erfolg genoßen hätte, der ihm als tango criollo zufiel.
Libertad Lamarque singt La Morocha (1938). Zu beachten ist, dass die Triolen, die die Kreuzrhythmen in der Originalfassung erzeugen, hier als síncopas gespielt werden. Das kleine Orchester-Zwischenspiel macht es besonders deutlich.
6. Schlussbemerkungen
Historische Einschätzungen haben die Abstammung des argentinischen Tangos von der Habanera gewöhnlich in einer nicht genau definierten, entfernten Vergangenheit und in ländliche Gegenden weitab von Buenos Aires vermutet. Unsere Untersuchung hat ein anderes Bild präsentiert: die Habanera war während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der argentinischen Hauptstadt genauso bekannt und beliebt wie in Paris oder Madrid. Im Gegensatz zu ihrer klischeebeladenen Einschätzung als Tanz der Landbevölkerung wurde sie als Gesellschaftstanz in den besten Kreisen der Gesellschaft gepflegt.
Das Theater spielte eine entscheidende Rolle in der Entwicklung des argentinischen Tangos. Das soziale Umfeld des Tango stimmt mit dem überein, dass in den sainetes des neuen argentinischen Theaters eine zentrale Rolle spielte. Die Bewohner der conventillos, Angehörige der der sozialen Unterschicht, gehörten zu den bevorzugten Themen dieser Theaterstücke, und Tango wurde zum typischen Tanz des conventillo stilisiert. Somit verlagerte sich sein Image von einem Tanz der Schwarzen zu einem Tanz der sozialen Unterschicht von Buenos Aires und Montevideo.
Das Auftreten des argentinischen Tangos deckt sich mit der wachsenden Beliebtheit der sainetes. Argentinischer Tango zeigt schon früh charakteristische Merkmale, rief aber keine gattungsmäßige Auseinandersetzung zwischen dem neuen „einheimischen“ Tango und der alten „importierten“ Habanera hervor. Saboridos La Morocha war ein sehr erfolgreicher tango criollo, trotz seiner stilistischen Abhängigkeit von der „veralteten“ Habanera.
Zum | Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 |
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Hallo Wolfgang, da ich nicht auf Facebook bin und deine E-Mail-Adresse nicht finde, möchte ich dich bitten, mir an juh at sudelbuch punkt de eine kurze Mail zu schicken. Ich habe Fragen zu deiner Habanera-Serie und würde dich gerne kontaktieren.
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