Im Teil 1 unserer Untersuchung sahen wir, dass Iradier seine Kompositionen La Paloma und El Arreglito als canción americana beziehungsweise canción habanera klassifizierte. Außer diesen beiden und der danza habanera, trifft man bei Iradier noch eine weitere Kategorie an: den tango americano.
Der Ursprung des Begriffes “Tango” und mit welcher Art von Musik er in Beziehung stand ist noch nicht eindeutig geklärt worden. Fest steht aber, dass er nicht neu war, als spanische Komponisten wie Iradier in der Mitte des 19. Jahrhunderts anfingen, Stücke unter diesem Namen zu schreiben. Bei eingehendem Studium der Partituren fragt man sich allerdings, was z.B einen Tango von einer Habanera unterscheidet. Das fällt besonders in Iradiers Werk auf: seine „amerikanischen“ Stücke, einschließlich der danzas, sind alle Gesangskompositionen, sind auf dem Habanera-Rhythmus aufgebaut und zeigen die typischen melodischen Kreuzrhythmen auf, die wir in La Paloma und El Arreglito angetroffen haben.
Das Werk Iradiers ist aber nicht das einzige, in dem sich solche Vieldeutigkeit aufzeigen läßt. Tangos and Habaneras wurden als Bühnen- und Instrumentalmusik ohne übereinstimmende Unterscheidung komponiert. Man muss sich mit der Erkenntnis zufriedengeben, dass Komponisten sich mit der Kategorisierung ihrer Stücke sehr beiläufig beschäftigt haben.
Der im Teil 1 besprochene danza habanera La Cubana von Florencio Lahoz ist z.B. ein Klavierstück, das viele Ähnlichkeiten mit dem tango La Flor de Santander (1861) von Dámaso Zabalza (1835-1894) aufweist.
Dámaso Zabalsa |
1. La Flor de Santander
Dámaso Zabalza war Konzertpianist und Professor für Klavier am Konservatorium in Madrid. Als Komponist von Klaviermusik zeigte er sich überaus produktiv und veröffentlichte Etüden, Klavierauszüge von Opern und populäre Tanzmusik, zu der auch „amerikanische“ Stücke wie habaneras, contradanzas und tangos gehörten.
Zabalzas tango La Flor de Santander (88 Takte) ist ein längeres Stück als La Cubana, aber es ist dennoch eine kompakte Komposition. Sie besteht aus 4 Teilen sowie einer Einleitung. Grundsätzlich baut sich jeder Teil auf einem 16-taktigen Satz auf. Nur dem Vordersatz des ersten Teils sind jeweils ein „leerer“ Takt voran- bzw. nachgestellt, sodass der Satz etwas unbalanciert klingt. Außer dieser kleinen Abweichung ist die Phrasenstruktur von La Flor de Santander sehr regelmäßig.
Teil
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Tatsächliche Länge
(in Takten)
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Fundamentale Länge
(in Takten)
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Tonart
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Einleitung
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8
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c Moll
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A
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18
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10 (8+2) + 8
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c Moll
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B + Überbrückung
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20
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16 + 4
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Es Dur → c Moll
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A (Wiederholung)
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18
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10 (8+2) + 8
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c Moll
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C
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8 (16 mit Wiederholung)
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8
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c Moll
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D
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16
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C Dur
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Der Komponist greift auch auf die tonale Beziehungen von Dur- und Molltonarten zurück, um die formale Struktur des Stückes auszudrücken. Iradier hat in El Arreglito die formalen Abschnitte abwechselnd durch die Varianttonarten D-Moll und D-Dur kontrastiert. Auch La Flor de Santander verwendet Varianttonarten, allerdings in einer anderen Form: das Stück beginnt in C-Moll und endet in C-Dur. Zusätzlich scheint sich der Vordersatz des Teils B der Paralleltonart Es-Dur zuzuwenden, kehrt dann aber im Nachsatz nach C-Moll zurück. Diese kurze Verschiebung zur Paralleltonart ist dennoch formal bedeutend, da sie den Schluß in der Dur-Variante vorausahnen läßt.
Gleichsam interessant ist der harmonische Ablauf des Teils D. Vorder- und Nachsatz kann man als erweiterte Kadenzen bezeichnen, also als harmonische Abläufe, die die Tonalität eindeutig im C-Dur verankern. Der Nachsatz besteht aus der elementaren Dur-Kadenz, die sich über Subdominante und Dominante zur Tonika auflöst. Die Harmonien des Vordersatzes sind dagegen bunter ausgestaltet, indem sie eine Serie von Nebendominanten durchlaufen. Die Nebendominanten sind durchweg Dur-Akkorde: von A-Dur, über D-Dur nach G-Dur und schließlich zur Auflösung nach C-Dur. Der Gegensatz zu den vorangegangenen Teilen des Stückes ist hervorstechend. Vom Anfang bis zum Teil C bewegt sich das Stück in C-Moll und neigt sich dabei nur flüchtig dem parallelen Es-Dur zu. Teil D dagegen ist nicht nur in C-Dur, sondern der ganze harmonische Ablauf besteht ausschließlich aus Dur-Akkorden.
Wir begannen unsere Besprechung von La Flor de Santander mit dem Hinweis, dass dieser tango Übereinstimmungen mit dem danza habanera La Cubana von Lahoz aufwies. Beide Stücke sind Klavierkompositionen, ihr Phrasenaufbau ähnelt sich (16-taktige Phrasen mit geringen Unregelmäßigkeiten) unddie rhythmische Struktur der Melodien zeigt Übereinstimmungen auf (Kreuzrhythmen, síncopa).
La Cubana basiert auf einem einfachen musikalischem Entwurf: einer zweiteiligen Liedform. Es ist nicht schwierig, sich das Stück als Harmonisierung eines Gedichtes mit Strophe und Refrain vorzustellen. La Flor de Santander zeigt dagegen eine komplexere Gliederung auf, die sich auf ein Konzept der Harmonielehre bezieht: die Beziehungen zwischen Variant- und Paralleltonarten. Das Stück beginnt in C-Moll und endet in der Varianttonart C-Dur nach einem „Ausflug“ zur Paralleltonart Es-Dur. Der harmonische Ablauf zeugt davon, dass der Komponist in Harmonielehre unterrichtet worden war. Was noch wichtiger ist: die Harmonien sind in einer tonalen Sprache abgefasst, die auch einige Jahrzehnte später von den Komponisten der „alten Schule“ des argentinischen Tangos (wie Villoldo, Firpo, Greco oder Arolas) verwendet wurden. (Den Lesern unserer Eine kleine Tango-Harmonielehre werden die hier besprochenen harmonischen Abläufe und die Prinzipien des formalen Aufbaus bekannt vorkommen.)
2. Der Abnehmerkreis für Klaviermusik
Iradier widmete viele seiner Gesangs-Kompositionen (manchmal international) bekannten Sängern. Es war allgemein gebräuchlich bei Komponisten, einem Sänger oder Musiker ein Stück zuzuschreiben—in der Hoffnung, dass es aufgeführt wurde. Dies wiederum förderte den Verkauf der Noten. Wenn ein Stück öffentlich von einem bekannten Künstler aufgeführt worden war, wurde dies vom Verleger auf der Titelseite als Werbung vermerkt. La Flor de Santander ist allerdings ein sehr bescheidenes Klavierstück—zu einfach, um das Interesse eines bekannten Pianisten zum Vortrag anzuregen. Daraus läßt sich schließen, dass La Flor de Santander und ähnliche Stücke wie La Cubana für das weitere klavierspielende Publikum der Musikliebhaber gedacht war.
Die Wichtigkeit von leicht zu spielenden Klavierstücken sollte nicht unterschätzt werden. In einer Zeit ohne Fernsehen, Radio oder Grammophon gehörten die Oper, der Konzertsaal oder ein Café zu den wenigen Plätzen, an denen man Musik hören konnte. Ansonsten musste man selber ein Instrument spielen. Klaviermusik wurde als billige Notenblätter oder kleine Sammlungen angeboten. Sie waren ein wirksames Vertriebsmittel mit dem neue Musikstücke der weiteren Öffentlichkeit übermittelt wurden—nicht nur in Europa, sondern auch in der Neuen Welt.
Dies gilt auch für den argentinischen Tango. In der Frühzeit des Tangos, als Schallplatten teuer und das Radio noch nicht erfunden waren, bildeten Notenblätter das wichtigste Medium für die Verbreitung von neuen Kompositionen. In den 1930iger Jahren äußerte sich Arturo De Bassi in einem Interview zu seinem ersten großen Erfolg als Komponist. 1906, als mit gerade 16 Jahren als Musiker im Orchester des Apolo Theaters in Buenos Aires spielte, schrieb er seinen Tango El Incendio. Die Erstaufführung erfolgte durch das Orchester während einer Theaterpause. Da De Bassi aber keinen Verleger für sein Stück finden konnte, entschloss er sich, es auf eigene Kosten drucken zu lassen und gab es in Musikgeschäften in Kommission. Das Stück wurde ein Erfolgsschlager und 50,000 Exemplare wurden verkauft.
Der Erfolg von El Incendio war sicher außergewöhnlich und die Verkaufszahlen akkumulierend. Dennoch weist der Umstand, dass ein junger, unbekannter Komponist ohne die Hilfe eines Verlegers eine beachtliche Anzahl seines Stückes verkaufen konnte, darauf hin, dass die Nachfrage nach Klaviernoten in der weiteren Öffentlichkeit groß war.
Unsere Untersuchung der Entwicklung von der Habanera zum Tango führte uns von Bühne und Musiksalon (d.h., den Schauplätzen von Berufsmusikern) in die private Heimstatt von Musikliebhabern, die Klaviermusik zur persönlichen Unterhaltung oder Übungszwecken erwarben. Die Produzenten dieser Art von Musik waren Fachleute (Komponisten, Arrangeure, Verleger), die ihrer Kundenschaft mit einer Vielzahl von Klavierausgaben zum privaten Zeitvertreib anboten. Die Auswahl bestand aus populärer Musik im weitesten Sinne: Klavierauszügen aus Opern und Operetten, Liedern, Tänze und „amerikanische“ Stücke wie habaneras, tangos, oder danzas cubanas.
© 2019 Wolfgang Freis
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