Tuesday, June 13, 2017

Fresedo, qu'avez-vous fait de mon tango?

Photo of Osvaldo Fresedo
Osvaldo Fresedo
(English Version)

Diejenigen, die sich einmal näher mit klassischer Musik auseinandergesetzt haben, werden sich an die Sonatenform erinnern. Sie steht für ein Kompositionsmodell, das typisch und charakteristisch für die Musik der „klassischen“ Periode ist. Bei genauerem Hinsehen kann man sich jedoch nicht des Eindrucks erwehren, dass die Komponisten—besonders die phantasievollen—sich zwar dieses Modells bedienten, aber doch immer wieder zeigen wollten, dass es auch anders ginge und damit das Modell negierten. Und genau darin liegt oft das Interessante dieser Musik, nämlich: dass sie eine Erwartung aufstellt, sie aber nicht erfüllt und mit etwas Unerwartetem und Überraschendem ersetzt.

Was macht einen Tango zum Tango? Um sich nicht ins Uferlosen zu verlieren, präzisieren wir die Frage: Woran erkennt man einen „klassischen“ argentinischen Tango? Mit einer musikalischer Form lässt sich die Frage nicht befriedigend beantworten, denn Tango basiert auf einfachen Gesangsformen, die „universell“ auch in anderen Musikgattungen angewendet werden. Die Frage mit der Instrumentierung, dem orquesta típica, zu beantworten, bringt eine Lösung auch nicht näher, denn Instrumentierung ist nicht mehr als Dekoration, und orquestas típicas (Rodríguez, Carabelli, Canaro, usw.) haben auch ohne weiteres andere Musikgattungen als Tango aufgeführt, die dadurch nicht zu Tangos wurden.


Das Thema ist zu weitläufig, um mit einer einfachen Stellungnahme beantwortet werden zu können. Beschränken wir uns daher auf zwei Aspekte des Tangos, die man als charakteristisch bezeichnen kann, da man sie in fast jedem Tango antrifft. Der erste Aspekt ist eine rhythmische Figur, die síncopa; der zweite ein stilbildendes Prinzip, in dem zusammengehörende Teile durch unterschiedliche Ausführung kontrastiert werden.

Die Síncopa


Eine Synkope ist eine rhythmische Figur, in der eine oder mehrere Noten, die normalerweise auf einem betonten Taktteil erscheinen, auf einem unbetonten angespielt und zum nächsten betontem Taktteil gehalten werden. Synkopen können sich über mehrere Takte erstrecken, aber im Tango gibt es eine charakteristische kurze Figur, die síncopa, die in fast jedem Tango gehört werden kann. (Wir benutzen für diese Figur daher die spanische Bezeichnung síncopa, um auf den speziellen Kontext im Tango hinzuweisen.)

Hier ein Beispiel. Im 2/4 Takt des Tangos könnte eine typische síncopa folgendermaßen notiert werden:


Die Pfeile über dem Notensystem zeigen die betonten Impulse des Taktes an. Daraus ergibt sich, dass die äußeren Noten auf betonte Taktteile fallen, die inneren aber auf unbetonte.





Die Komponisten der guardia vieja der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts benutzten die síncopa gerne und bauten manchmal ganze Melodien auf dieser Figur auf. Als Beispiel diene uns das erste melodische Thema aus Roberto Firpos Tango La Bordadora, in dem die síncopa vier Mal erscheint.

La Bordadora (Roberto Firpo): Vereinfachtes rhythmisches Schema des ersten melodischen Themas. Die eckigen Klammern unter den Notensystemen weisen auf die síncopas hin.





Musikalischer Kontrast als stilbildendes Prinzip


Der strukturelle Aufbau eines Tangos bleibt im Rahmen einer einfachen musikalischen Form. Tangos bestehen normalerweise aus drei 16-taktigen Melodien, die in der einen oder anderen Form wiederholt und variiert werden. Das musikalische Interesse eines Stückes liegt in der Ausführung dieser Wiederholungen. Die Orchester der Blütezeit des Tangos haben sich darauf verstanden, die einfachen musikalischen Formen durch Variation im Vortrag und Instrumentierung so zu beleben, dass die Stücke trotz des begrenzten Materials nie monoton wirkten. Abwechslung und Kontrast sind ein stilbildendes Prinzip: Wird eine Melodie oder Teil einer Melodie zuerst auf eine Art gespielt, so wird die Fortsetzung oder Wiederholung auf eine andere Art wiedergegeben.

Abwechslung und Kontrast können sich sehr unterschiedlich ausdrücken: in der Instrumentation (Violinen werden den Bandoneons oder dem Klavier gegenübergestellt), im Tonregister (die Melodie erscheint im hohen Register, dann im tiefen), in der Artikulation oder Phrasierung der Melodie, usw. Die abwechselnde Wiedergabe einer Melodie als lange oder kurze Notenwerte ist, wie die síncopa, eine typische Komponente des Tangos. Ausgeführt von den Violinen heißt „lange Notenwerte“, dass der Bogen auf der Saite bleibt und über den ganzen Notenwert durchgezogen wird. Bei „kurzen Notenwerte“ bleibt der Bogen nicht auf der Saite, sondern schlägt die Töne nur an und wird wieder von der Saite genommen. Das Resultat ist eine unterschiedliche Klangqualität.


Nehmen wir Osvaldo Fresedos Tango Aromas als Beispiel. (Wir beziehen uns hier auf Fresedos Aufnahme mit den Sänger Roberto Ray aus dem Jahre 1939.) Das Stück besteht aus drei 16-taktigen Melodien und ihren Wiederholungen. Jede Melodie besteht ihrerseits aus zwei 8-taktigen Phrasen, die einen Vorder- und einen Nachsatz bilden. Zur Differenzierung der Melodien und ihrer Teile benennen wir sie 1 A und B, 2 A und B, und C 1 und 2.


Thema 1, Teil A wird durchgehend mit langen Notenwerten gespielt, d.h. in den Violinen „auf der Saite“.
Fresedo Aromas, 1 A
Fresedo Aromas, 1 A






Thema 1, Teil B zeigt eine Spiegelsymmetrie in den 8-taktigen Phrasen. Die erste beginnt mit kurzen „gehämmerten“ Noten und endet mit langen „auf der Saite“ gespielt; die zweite beginnt mit langen Noten „auf der Saite“ und endet mit kurz gespielten Noten.

Fresedo Aromas, 1 B
Fresedo Aromas, 1 B





Im Thema 2, Teil A, beginnt die erste Phrase mit kurzen, „gehämmerten“ Noten und endet mit langen Noten „auf der Saite“. Die zweite wiederholt die Instrumentierung der vorangegangenen Phrase.

Fresedo Aromas, 2 A




Im Thema 2, Teil B, wird die erste Phrase ganz mit langen, die zweite ganz mit kurzen Noten gespielt.

Fresedo Aromas, 2 B




Thema 3, Teile A und B, zeigt eine freiere Abwechslung von lang und kurz gespielten Noten. Die Verteilung ist dennoch so gewählt, dass die interne Struktur des Themas klar aufgedrückt wird.

Fresedo Aromas, 3 A



Fresedo Aromas, 3 B





Schematisch lässt sich die Folge von Phrasen ausgeführt als kurze oder lange Notenwerte folgendermaßen darstellen:

Fresedo Aromas, schematische Darstellung der Orchestrierung

Zweierlei zeigt sich an dieser schematischen Darstellung. Erstens: die Orchestrierung folgt der inneren Struktur der Melodien, d.h., dass die Wechsel zwischen Notenwerten „auf der Saite“ oder „gehämmert“ an Schnittpunkten von melodischen Einheiten (bestehend aus zwei, vier, acht oder sechzehn Takten) erfolgen. Die Struktur, die Form des Musikstücks, wird dadurch hörbar gemacht. Zweitens: die Aufteilung innerhalb der 8-taktigen Phrasen zeigt eine architektonische Symmetrie auf. (Dies tritt in den ersten beiden Themen besonders klar hervor.) Dies spricht für Planung und zeigt, dass der Arrangeur den Kontrast zwischen „langen“ und „kurzen“ Notenwerten als Ausdrucksmittel auswerten wollte.

Fresedos Sueño azul


Die oben angeführten Beispiele für stilbildende Elemente im Tango wurden ausgewählt, weil sie das zur Diskussion stehende besser illustrieren als andere Stücke. Man sollte allerdings nicht erwarten, dass jedes Stück dem gleichen Modell folgt, denn sonst wäre die Musik langweilig, da ihr jedes Überraschungselement fehlen würde. Mit ein wenig Übung wird man aber bald die síncopa aus jedem Tango heraushören und in den Wiederholungsschemen der Melodien kontrastierende Instrumentierungen erkennen, selbst wenn sie sich anders ausdrücken als in langen und kurzen Notenwerten.

Trotzdem findet man immer wieder Stücke, die sich gegen eine Kategorisierung sperren. Musiker als kreativ denkende Künstler tendieren wohl eher zum Chaotischem als zum Systematischen. Fresedos Sueño azul ist ein Stück, dem das, was oben als exemplarisch beschrieben wurde, ganz zu fehlen scheint. Es wurde zwei Jahre vor Aromas aufgenommen. Der volle, weiche Streicherklang, die Harfe, der Gesang von Roberto Ray erlauben es aber, beide Stücke in die selbe Stilperiode einzuordnen. Der erste Klangeindruck lässt keinen Zweifel darüber, dass es sich um das gleiche Orchester in der gleichen Besetzung handelt.

Sueño azul unterscheidet sich allerdings von Aromas in zwei entscheidenden Punkten. Die Orchestrierung bleibt für das ganze Stück die gleiche: die Violinen spielen die Melodien durchgehend „auf der Saite“. Selbst während des Gesanges, wenn die sie in den Hintergrund treten und eine Gegenmelodie zu der nun gesungenen Hauptmelodie spielen, bleibt die Artikulation weich und gebunden. Der Kontrast zwischen langen Noten „auf der Saite“ und kurzen „gehämmerten“ Noten fehlt völlig. Selbst eine síncopa ist nicht herauszuhören. Die einzige Stelle, die an eine síncopa erinnert, kommt am Ende der ersten Phrase im achten Takt, aber es ist keine síncopa, sondern eine Triole.





Ist das noch Tango? Dem Namen nach schon, allerdings kein argentinischer! Die Musik von Sueño azul wurde von einem ungarischen Musiker, Tibor Barciz, zu einem französischem Text von komponiert und hieß im Original Vous, qu'avez-vous fait de mon amour?. Das Stück wurde 1933 in Paris in einer Theater-Revue von Henri Varna, Vive Paris!, uraufgeführt. Es war offensichtlich erfolgreich, denn es wurde auch später wiederholt von anderen Orchestern auf Schallplatte eingespielt (siehe die Versionen von René Juyn und dem Grand Orchestre Perfectaphone [1933], Tino Rossi und dem Orchestre M. Pierre Chagnon [1934] und Jean Lumière [1934] ).

Mit einem argentinischen Tango hat Vous, qu'avez-vous fait de mon amour? wenig gemein. Es ist ein strophisches Lied, dem ein fortlaufender Habanera-Rhythmus mit síncopa als Phrasierungsschluss in achten Takt untergelegt wurde.


Vous, qu'avez-vous fait de mon amour?, Jean Lumière


Es ist allgemein bekannt, dass der Habanera-Rhythmus das Fundament für einen der drei Tango-Tänze, der Milonga, bildet. Er kommt aber auch gelegentlich in (argentinischen) Tangos vor. Tatsächlich war er zehn oder zwanzig Jahre vor der Komposition von Vous, qu'avez-vous fait de mon amour? recht beliebt. Solche Tangos wurden üblicherweise als “Tango Milonga” bezeichnet (siehe Roberto Firpos El amenecer, Francisco Canaros Charamusca oder José Padulas Nueve de Julio als Beispiele). Seit den 30er Jahren wird der Habanera-Rhythmus in diesen Stücken allerdings kaum noch gespielt. Das heißt, der punktierte Rhythmus wird “vereinheitlicht” und als gleiche, nicht punktierte Noten gespielt. (Man höre di Sarli's Version von El amenecer zum Vergleich.) Aus argentinischer Sicht scheint der Gebrauch des Habanera-Rhythmus in Vous, qu'avez-vous fait de mon amour? für die 30er Jahre daher ein wenig altmodisch zu sein.


Darüber hinaus wird der Habanera-Rhythmus im argentinischen Tango-Milonga als Mittel zur stilistischen Kontrastierung von Abschnitt zu Abschnitt, entsprechend der oben beschriebenen Abwechslung von langen und kurzen Notenwerten, benutzt. In den französischen Aufnahmen von Vous, qu'avez-vous fait de mon amour? erscheint der Habanera-Rhythmus aber durchgehend ohne Differenzierung von Abschnitt zu Abschnitt. So eine Anwendung eines rhythmischen Schemas ist nicht typisch für argentinischen Tango, sonder eher für europäische Tanzmusik. Die “argentinischen” Stilmittel in den französischen Aufnahmen sind daher nicht mehr als eine Schablone.

Als Vous, qu'avez-vous fait de mon amour? mit einem spanischen Text als Sueño azul in Argentinien veröffentlicht wurde, bezeichnete der Verleger das Stück nicht einfach als „Tango“, sondern als „großen ungarischen Tango“. Da das Stück in Paris erfolgreich war, ist es nicht verwunderlich, dass ein argentinischer Musiker wie Fresedo es in sein Repertoire aufnahm. Man wundert sich allerdings, warum er jeglichen Hinweis auf Tango—sein Metier—vermied und es nicht in einer „authentischen“  (argentinischen) Form wiedergab.



(© 2017 Wolfgang Freis)

No comments:

Post a Comment