Sunday, January 13, 2019

Von der Habanera zum Tango, Teil 3



Paris war während des 19. Jahrhunderts die kulturelle Hauptstadt der westlichen Welt. In Paris Karriere zu machen war der Traum jedes ambitionierten Musikers, und was in Paris geschah wurde überall zur Kenntnis genommen. Sebastián Iradier war einer von vielen spanischen Komponisten, die berufliche Verbindungen zu Paris unterhielten. Als Gesangslehrer der Kaiserin Eugenia kann er auch als einer der erfolgreicheren Musiker in Paris gelten.

Da Kuba damals noch eine spanische Kolonie war, überrascht es nicht, dass spanische Komponisten Elemente der kubanischen Musik als Teil ihres eigenen (kolonialen) Kulturerbes übernahmen. Die Habanera erfreute sich aber auch in anderen Ländern großer Beliebtheit, die weder koloniale noch sprachliche Verbindungen zu Kuba aufwiesen. Ihr Erfolg in Paris ist daher besser mit einem Interesse am Exotischen erklärt.

Andere, unbekannte Kulturen faszinierten Künstler und ihr Publikum während des ganzen 19. Jahrhunderts. In der Musik drückte sich das z.B. in einem ausgiebigen Angebot von Opern aus, die in weit entfernten Ländern spielten (Lakmé,Die Perlenfischer,Aida, usw.). Orchester- und Klavierwerke, auf slawischen, ungarischen, kubanischen oder anderen Tänzen basierend, die von Produzenten und Publikum als „exotisch“ empfunden wurden, erfreuten sich ebenso großer Beliebtheit. 

1. Le Petit Coco d'Amérique


The französische Sänger Louis Bousquet veröffentlichte 1858 in Paris den Klavierauszug eines chanson havanaise oder tangos mit dem Titel Le Petit Coco d'Amérique. Der Text erzählt die Geschichte Cocos, eines Schwarzen, ursprünglich aus Mozambique, der als armer Mann aus Südamerika nach Paris gekommen war, um zu Geld zu kommen. In den Straßen von Paris hatte er, singend und Tango-tanzend, großen Erfolg und machte ein Vermögen. Gekleidet wie ein Herr von Stand plant Coco nun nach Südamerika zurückzukehren, um seinen Vater und seine Auserwählte aus der Sklaverei freizukaufen.

Bousquet führte Le Petit Coco d'Amérique im Théâtre de l'Ambigu-Comique als entr'acte während der Darbietung des Dramas“à grand spectacle”Les Fugitifs (Auguste Anicet-Bourgeois und Ferdinand Dugué) auf. Das Theaterstück spielt in Indien und bringt französische Siedler, englische Soldaten und Matrosen, sowie indische Diener, Rebellen und Banditen auf die Bühne. Bousquets Einlage hatte nichts mit der Handlung des Dramas zu tun, aber doch mit dem Exotischen: Coco aus Mozambique, der in den Straßen von Paris Tango tanzt, ist nicht weniger exotisch als ein Rettungsdrama, das in Indien spielt.

Le Petit Coco d'Amérique, Titelseite

Der musikalische Aufbau von Le Petit Coco d'Amérique ist in Hinsicht auf unsere Untersuchung nicht besonders interessant. Es handelt sich um ein einfaches strophisches Lied, das sich aus zwei Phrasen, einer kurzen Einleitung und einer Coda zusammensetzt. Der Habanera-Rhythmus bildet das rhythmische Fundament des Stückes, doch es zeigen sich weder Kreuzrhythmen noch síncopas. Die Melodie bewegt sich immer mit dem Rhythmus, niemals gegen ihn.

Le Petit Coco d'Amérique, Auszüge


Tangos dieser Art—einfache strophische Lieder mit dem Habanera-Rhythmus als Begleitung—trifft man öfter in der spanischen Zarzuela an. Und tatsächlich ist Bousquets Lied einem solchen Musiktheaterstück entnommen worden: es gehürt zu El Relámpago, einer Zarzuela von Francisco Asenjo Barbieri, die ein Jahr vor Le Petit Coco d'Amérique veröffentlicht wurde. In der Zarzuela bildet dieses Stück, das als Tango gekennzeichnet ist, das Finale und trägt den Titel “¡Ay, qué guto, qué placé!”. (Aufnahmen finden sich in Youtube.)

Bousquet ist auf der Titelseite von Le Petit Coco d'Amérique als Urheber angegeben, aber er ist bestenfalls der Autor des französischen Textes. Man sollte Bousquets Druckwerk allerdings nicht als einfaches Plagiat verwerfen, denn es ist auch ein Beleg für die Bühnenrolle, die er kreierte und aufführte.

Barbieri's Zarzuela spielt im kolonialen Kuba. Der Tango wird von einem „coro de negros“ gesungen und getanzt, die die Dienerschaft der weissen Hauptrollen darstellen. Wie in vielen Habanera-Liedern singen die Akteure des Textes in ¡Ay, qué guto, qué placé! (Standard-Spanish: ¡Ay, qué gusto, qué placer!) im angeblichen Dialekt der schwarzen kubanischen Bevölkerung über die Freuden des Tanzens. Le Petit Coco d'Amérique, Bousquet's Bühnenrolle, folgt dem Modell des Tangos von Barbieri: Coco ist schwarz, singt in fehlerhaftem Französisch und hat sein Vermögen durch Singen und Tanzen erworben.

Wir haben keine Belege über Bousquets Motivation, sich an Baribieris Tango zu bedienen und sich als singender und tanzender Schwarzer zu kostümieren. Sein Entschluss legt aber die eine oder andere Schlussfolgerungen nahe. Erstens, die Verbindung zwischen tango, Tanz und schwarzen Menschen, die in den Habanera ähnlichen Stücken spanischer Komponisten deutlich hervortrat, war auch für Bousquet selbstverständlich. Zweitens, diese Verbindung entstand wahrscheinlich auf europäischen Theaterbühnen und wurde durch öffentliche Aufführungen wie Barbieris Zarzuela und Bousquets entr'acte verbreitet.

2. Zig-zig-zig-tong



Henrique Alves de Mesquita (1830-1906) studierte Musik am Konservatorium von Rio de Janeiro und erhielt nach erfolgreicher Abschlussprüfung ein Stipendium zur Fortsetzung seiner Studien in Paris. Seine ersten Kompositionen—Tanzmusik für Klavier, größtenteils Polkas und Quadrillen—erschienen Ende der 1850iger Jahre. Nach seiner Rückkehr aus Paris etablierte er sich als Komponist, Dirigent, Musikprofessor in Rio de Janeiro und erwarb sich einen Namen als Operettenkomponist. Eines seiner Stücke, dass noch heute gespielt wird, ist ein Tango aus der Operette Ali Baba. Den Text, der auf die Geschichte aus Tausendundeiner Nacht zurückgeht, verfasste der portugiesische Librettist Eduardo Garrido. (Aufnahmen finden sich in Youtube.)

Henrique Alves de Mesquita (1830-1906)

Dieser Tango mit dem Titel Zig-zig-zig-tong unterscheidet sich nicht wesentlich Barbieri's Tango in El Relámpago. Er ist ein kurzes Stück mit zwei Teilen, das die typische Phrasenaufteilung einfacher Lieder und Tänze aufweist (32 + 3 Takte im ersten Teil, 15 + 5 im zweiten). Beide Teile wurden mit Hilfe eines in Habanera ähnlichen Stücken häufig anzutreffenden Schemas tonal kontrastiert: den Varianttonarten (A-Moll im ersten, A-Dur im zweiten Teil).

Der Habanera-Rhythmus bildet die rhythmische Grundlage in der Bass-Begleitfigur des ganzen Stückes. Es finden sich keine melodischen Kreuzrhythmen, aber die síncopa ist ein wichtiges rhythmische Element im ersten Teil.

Zig-zig-zig-tong, Teil 1, Auszug

Dagegen führt der zweite Teil einen lebhaften, polka-ähnlichen Rhythmus in die Melodie ein. Zusammen mit der A-Dur Tonart und einem etwas schnellerem Tempo verleiht dies dem Teil einen leichten, dynamischen Tanzcharakter.

Zig-zig-zig-tong, Teil 2, Auszug

Heute ist das Stück allgemein als „der Tango aus Ali Baba“ bekannt. Der Umstand, dass es aber einen ordentlichen Titel aufweist, Zig-zig-zig-tong, weist darauf hin, dass es einen Text hatte und es sich hier um eine Gesangs- und Tanznummer aus der Operette handelt, gerade wie Barbieris ¡Ay, qué guto, qué placé!. Auch die Lithographie auf der Titelseite des Klavierauszuges legt dies nahe. Sie stellt drei schwarze Männer dar, die tanzen und Musik machen. Auch hier wird Tango wieder mit Tanz und schwarzen Menschen in Verbindung gebracht.

Zig-zig-zig-tong, Titelseite

Der Tango Zig-zig-zig-tong zeigt viele der typischen Elemente auf, die für die Habanera und Habanera ähnlichen Kompositionen kennzeichnend sind. Alves de Mesquita traf in Paris ein, als die Habanera von Komponisten in Spanien und Frankreich aufgegriffen wurde. Ob er die Habanera zu dieser Zeit kennenlernte und sie durch ihn in Rio de Janeiro eingeführt wurde, scheint unwahrscheinlich und ist letzten Endes nicht maßgeblich. Wichtiger ist, dass er nach seiner Rückkehr weiterhin Musik komponierte (einschließlich Tangos), die dem Publikum und den Verlegern in Paris zusagte. Daran zeigt sich, dass Berufsmusiker (Komponisten und Ausführende) und Institutionen der Musikbranche (Theater, Verleger) einen andauernden, bilateralen kulturellen Austausch pflegten, der kontinentale Grenzen überschritt.

Eine interessante Anmerkung zu unserer Ausführung: Es wird Alves de Mesquita zugeschrieben, der Urheber eines brasilianischen Musikstils, des maxixe (auch als „brasilianischer Tango“ bekannt), zu sein. Dieser Tanz eroberte 1906 die Ballsäle in Europa und Nordamerika, nur wenige Jahre vor dem argentinischen Tango, der 1912 zum letzten Schrei wurde.

3. El Negro Schicoba


Eine Durchsicht der argentinischen Schriften zur Geschichte des Tangos hinterläßt manchmal den Eindruck, dass das Land selbst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts musikalisch ein verschlafenes Nest war. Dieser Darstellung liegt zu Grunde, dass die Verfasser sich auf das konzentrierten, was als „argentinisch“ gedeutet werden konnte, und anderes außer Acht ließen.

Wenn man das Musikleben von Buenos Aires aber als Ganzes betrachtet, fällt auf, dass die Stadt sich nicht so sehr von Paris oder Madrid unterschied. Man spielte und tanzte zur gleichen Musik und erfreute sich an Auftritten von vielen ausländischen Künstlern in Theatern, Konzertsälen und Cafés. Im Dezember 1862 berichtete die Zeitung El Nacional über den Auftritt des Schauspielers Fernando Cuello:

Cuello erregte Aufsehen in dieser Aufführung [der Komödie Fuego en el Cielo]. Was das Publikum am meisten begeisterte war ein Tango, den er am Ende sang. Als Beweis, dass es gerechtfertigt war, bieten wir [Cuello] einen neuen Tango an, damit er ihn zu Musik setzen lasse und singe.

Der Name und die Musik des Stückes wurden leider nicht übermittelt, und wir wissen auch nicht, in welcher Rolle sich der Schauspieler präsentierte, als er seinen Tango vortrug. Die Situation aber, in der das Stück—das Paradestück eines Sängers oder Tänzers als Zugabe oder entr'acte zum regulären Programm—aufgeführt wurde, erinnert an die Darbietung von Le Petit Coco d'Amérique in Paris.

Ein ähnliches Stück wurde 1867 im Teatro Argentino in Buenos Aires aufgeführt. Zum Abschluss der Vorstellung einer Komödie sang Germán (Herman?) MacKay, der erste in Argentinien arbeitende nordamerikanische Schauspieler, El Negro Schicoba. Der Schauspieler schrieb den Text selbst, aber die Musik, die als Klavierstück überliefert ist, wurde von José María Palazuelos, einem Argentinier, komponiert. MacKay, eigentlich ein Schauspieler von ernsten Theaterrollen, kostümierte sich bei dieser Gelegenheit als ein schwarzer Besenhändler. Sein possenhaftes Tanzen und die anzüglichen Verse, die er dazu auch improvisierte, wurden mit tosendem Applaus vom Publikums belohnt.

Der nordamerikanische Schauspieler Germán MacKay 
und seine Rolle, "El Negro Schicova"

Die Klavierstimme gibt nicht an, um was für ein Stück es sich handelt, aber es ist offensichtlich eine  der Habanera ähnliche Komposition. Wie die oben besprochenen Tangos handelt es sich um ein einfaches zweiteiliges Lied, das aus zwei Phrasen mit 16 bzw. 14 Takten, sowie einer Einleitung und einer Coda besteht. Die Begleitung der Melodie ist eine durchgehende Ausführung des Habanera-Rhythmus.

Die Melodie des ersten Teils zeigt die síncopa auf. In der Harmonie setzt der Vordersatz die Grundtonart E-Moll fest, während der Nachsatz sich in die Paralleltonart G-Dur verlagert. Im zweiten Teil zeigt sich eine typische melodische Figur mit Triolen. Hier läuft sie allerdings nicht wie sonst als Kreuzrhythmus gegen den Habanera-Rhythmus. Der Begleitrhythmus wechselt zu Triolen über, und der Rhythmus ist in beiden Stimmen synchronisiert. Die Harmonien des Vordersatzes bewegen sich in der Varianttonart E-Dur und schließen im Nachsatz wieder mit der Haupttonart E-Moll ab.



El Negro Schicoba präsentiert sich fast als eine Reprise der oben besprochenen Stücke. So wie in anderen der Habanera ähnlichen Stücken tanzt und singt auch hier eine schwarze Person. Die Gelegenheit, in der die Aufführung stattfand, entspricht der Darbietung von Le Petit Coco d'Amérique. Als musikalische Komposition entspricht das Stück ¡Ay, qué guto, qué placé! und Zig-zig-zig-tong. Und der harmonische Ablauf entfaltet sich zwischen Parallel- und Varianttonarten so wie der Klavier-Tango La Flor de Santander.

Wenn man die in unserer Artikelserie besprochenen Stücke als Sammlung betrachtet, ergibt sich einerseits, dass es unmöglich ist, auch nur einem der Habanera ähnlichen Stücke definierende Charakteristiken zuzuschreiben. Ob habaneracanción americana, oder tango, alle teilen sich formale und stilistische Merkmale, aber diese beschränken sich weder auf eine bestimmte Kategorie, noch sind sie zwingend vorhanden. Die Namen der Kategorien sind Bezeichnungen, aber als solche sind sie so ungenau, dass sie für analytische Aussagen unbrauchbar werden.

Dennoch zeigen Habanera ähnliche Stücke als eine Familie von Musikformen einheitliche, sich wiederholende Merkmale: den Habanera-Rhythmus als durchgehende Begleitfigur, Kreuzrhythmen, síncopas, tonale Kontraste mittels Parallel- und Varianttonarten, eine Beziehung zum Tanz und, wenn sie gesungen werden, eine Verbindung mit schwarzen Personen. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Kompositionen der Art und Zeitraums, die hier in Betracht gezogen wurden, empfiehlt es sich daher, diese als Angehörige einer Kategorie anzusehen, d.h. als Muster der Habanera.

Die Habanera trat in den 1850iger Jahren in Spanien als Musikform hervor und wurde schnell von Komponisten außerhalb Spaniens aufgegriffen. Die Stücke, die wir genauer untersucht haben, können ungefähr innerhalb eines Zeitraums von 20 Jahren datiert werden. Wichtig ist die geographische Verteilung, in der sie komponiert und aufgeführt wurden; sie reicht von Madrid nach Paris und weiter nach Rio de Janeiro und Buenos Aires. Das Wiederauftreten stilistischer Merkmale und die Übereinstimmungen in der Aufführungspraxis weisen darauf hin, dass es Regeln für die Komposition und Aufführung der Habanera gab, die überall verstanden und geschätzt wurden. Das bedeutet, dass man eine Habanera oder einen Tango, der 1870 in Paris geschrieben wurde, auch als Tango in Buenos Aires zu schätzen wusste und umgekehrt. Darüber hinaus war es für das Theaterpublikum in jeder Stadt selbstverständlich, dass sich ein Tango-singender und -tanzender Schauspieler auf Grund der offenkundigen Assoziation mit Kuba als schwarzer Mann kostümierte.

Zum Abschluss sollte noch darauf hingewiesen werden, dass die Verbreitung der Habanera nicht zufällig verlief, sondern über Netzwerk-Verbindungen professioneller Musiker. Komponisten ließen sich von der kubanischen Musik inspirieren, aber Sänger, Instrumentalisten und Verleger führten deren Werk einem Publikum zu, wo immer sie eins finden konnten—sei es Madrid, Paris, Rio de Janeiro oder Buenos Aires.

Titelseite eines Klavierauszugs von Francisco Barbieris El Relámpago,
einschließlich des Tangos "¡Ay, qué guto, qué placé!",
veröffentlicht 1867 in Montevideo, Uruguay







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