Der argentinische Sänger
und Textdichter Juan Carlos Marambio Catán (1895-1973) schildert in
seiner Autobiographie seine ersten Begegnungen mit dem Tango. Sie
erfolgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als er noch keine 10 Jahre
alt war. Marambio Catán wurde 1895 in Bahía Blanca geboren. Im
Alter von fünf Jahren verstarb seine Mutter, und sein Vater schickte
ihn nach Buenos Aires in die Obhut seinen Onkels
David Marambio Catán, eines hochrangigen Offiziers. Dort ging
Marambio Catán zum ersten Mal ins Theater, genauer gesagt, ins
Teatro Apolo. Marambio Catán schrieb:
Ich hatte einen Onkel, einen Bruder meiner Mutter, der in der Corrientes Straße neben dem Apolo Theater wohnte. Sie brachten mich dort hin, um einige Tage bei ihm und seiner Frau (María Gatti, Tochter eines stämmigen Geschäftsmannes, der ein großes Geschäft gegenüber des Theaters besaß) zu verbringen. Man vertraute mich einer Angestellten an, die mich ins Apolo mitnahm, um die sainetes zu sehen (d.h., sie schmuggelte mich halbwegs hinein, denn es war nicht üblich, dass sich Kinder solche Schauspiele ansahen). Damals—als ich die Musik, die witzigen und gewagten Texte, die die Sänger vortrugen, hörte—entwickelte sich meine Liebe, meine glühende Berufung für den Gesang von Buenos Aires...
Musik und Inszenierung
beeindruckten Marambio Catán so sehr, dass er die Lieder lernte und
zu Hause zum großen Vergnügen seines Onkels aufführte:
Oberst Gramajo und seine Frau Misia Arminda kamen gelegentlich zu Besuch zu meinem Onkel. Er war mit meinem Onkel für die Militärkompanie des Präsidenten Roca verantwortlich. Für diese Ereignisse wurde ein großzügig ausgestatteter Tisch vorbereitet, denn beide verfügten über einen außergewöhnlichen Appetit, über den damals ständig Witze und äußerst amüsante Kommentare in der Presse gemacht wurden. Nach dem Essen wurde über alles Mögliche geredet, und wenn die Begeisterung der Tischgenossen über den Funken eines guten Weines und die Genugtuung über ein gutes Gericht nachließen, fragte mich mein Onkel liebevoll mit einer überzeugenden Geste: „Lass uns sehen, Juan Carlitos, putz Dich mal als compadrito heraus und sing etwas für Gramajo.“ Ich ließ mich nicht zweimal bitten und rannte ins Haus, um mich vorzubereiten. Wenn ich wiederkam, trug ich einen Schlapphut, ein Tuch um den Hals und begann meinen Auftritt mit dem Gang eines Halunken, den man umgangssprachlich „Eierschritt“ [pisahuevos] nennt, auf Grund der schwankenden Weise, in der die Füße über den Boden gleiten. Dazu trug ich riesige Schulterkissen und gab einen großspurigen Blick zum Besten. Auf die Rolle so eingespielt legte ich los: gestikulierend und mit ein paar Tanzschritten sang ich mit voller StimmeQué calá, calá
qué calamidá
calaté el funyi
calaté el funyi
hasta la mitá.
(Auszug aus dem Tango Qué calamidad von Bernardino Teres und Pascual Contursi)
Die Aufführung endete mit
schallendem Gelächter, nachdem der Onkel den jungen Sänger gefragt
hatte, welcher politischen Partei er angehörte. Juan Carlitos
antwortete: „der resolut-radikalen “, einer Partei in der
Opposition zur Regierungspartei, die die anwesenden Offiziere
unterstützten.
Es war das Ensemble von
Pablo Podestá und seiner erweiterten Familie, das Marambio Catán im
Apolo Theater so beeindruckt hatte. Die Podestá begannen als
Zirkusartisten, führten aber auch Pantomimen mit Handlungen aus der
erzählerischen Gaucho-Dichtung auf. 1892 wurde
„El año 1892“, der erste sainete
(Schwank, Burleske) criollo
des Argentinischen Dramatikers Ezequiel Soria in Buenos Aires von
einer spanischen Theatergruppe aufgeführt. Es war das erste
Theaterstück, in dem Personen aus dem einheimischen Milieu
dargestellt wurden, und es wurde begeistert vom Publikum aufgenommen.
Als sich das teatro criollo
in ein selbstständiges Genre entwickelte, wechselten die Podestá
von der Manege auf die Bühne und gehörten bald zu den wichtigsten
Vertretern des neuen argentinischen Theaterstils. Das teatro
criollo bot Stücke mit
Handlungen dar, die in den Wohnvierteln der unteren
Gesellschaftsschichten von Buenos Aires spielten. Das war auch das
Milieu, das mit dem Tango verknüpft war. Mit der wachsenden
Anerkennung des teatro criollo
erzielte auch der Tango große Popularität mit der breiten
Öffentlichkeit von Buenos Aires.
Marambio
Catán lernte den Tango durch Theaterschauspiele kennen. Es ist daher
nicht verwunderlich, dass er sich kostümierte und eine Rolle
spielte, um einen Tango zu singen. Der compadrito, den man ihn
aufforderte darzustellen, ist die kennzeichnende Figur des criollo
aus der unteren Gesellschaftsschicht, d.h., des in Argentinien
geborenen Einwohners der Vororte von Buenos Aires. (Andere
Erscheinungsformen des compadrito criollo
sind der malevo
[Gauner, Krimineller] und guapo
[Beau, Zuhälter].) Die Figur des compadrito
trat um die Wende des 20. Jahrhunderts in Erscheinung. Sie ist nicht
nur im teatro criollo
anzutreffen, sondern auch in Literatur und graphischen Darstellungen
und wurde später in Filmen verewigt.
Marambio
Catáns Auswahl des Kostüms und der Darstellungsweise gehören zu
den Eigenarten des compadrito
criollo: ein Schlapphut
und Halstuch. Dazu gehören auch Halbstiefel mit hohen Absätzen, die
einen eigentümlichen Gang bewirkten. Bestimmt hatte er Schauspieler
gesehen, die sich dementsprechend kostümiert hatten. Als Kind einer
gut-situierten Offiziersfamilie wird er nicht viel Gelegenheit gehabt
haben, die Kleiderordnung und das Verhalten der vorstädtischen
Ganoven und Eckensteher zu studieren. Auch hätte die Familie seinen
Auftritt wohl nicht so geschätzt, wenn es sich dabei nicht um das
Nachspielen einer bekannten Theaterrolle gehandelt hätte.
Einer
der Schauspieler, den Marambio Catán
gesehen haben könnte, war Arturo de Nava, eine bekannter Sänger,
der in den Inszenierungen der Podestá als payador
und Tangotänzer auftrat. Es gibt auch Photographien aus dem Jahr
1903 (also z.Zt. als Marambio Catán bei seinem Onkel in Buenos Aires
lebte), in denen de Nava als Tangotänzer zu sehen ist.
Die
Kleidung der männlichen Tänzer ist typisch für den compadrito:
Schlapphut, Halstuch und Stiefel mit hohen Absätzen. Man kann daher
annehmen, dass de Nava im Bühnenkostüm für die Photos posierte.
Die
Kleidungsattribute des compadrito änderten sich wenig in den
darauffolgenden Jahrzehnten. Sie wurden Teil der Ikonographie des
Einwohners der Vororte von Buenos Aires. Eine
Erzählung—veröffentlicht 1906 im Wochenmagazin Caras y
Caretas—schrieb der Erscheinung zweier compadritos
folgendes zu:
„pomadisiere Mähne, rotes Halstuch, tailliertes Jackett, französische Hosen, Halbstiefel mit hohen Absätzen, und ein langer Fingernagel am kleinen Finger 'um die Schuppen zu kratzen'“.
Aus
"Entre gauchos...", Caras y Caretas,
No. 421, 1906: Die zwei compadritos
sitzen links.
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Der
Zeichner gewährte den compadritos
noch einen chambergo,
einen Schlapphut. Im Vergleich zu den oben angeführten Photos von
Arturo de Nava scheint die Bekleidung in diesem Beispiel „eleganter“
zu sein, ist aber im Wesentlichen die gleiche—nur mit „tailliertem“
Jackett, “französischen“ Hosen und „Halbstiefeln“ mit hohem
Absatz. Eine übereinstimmende Garderobe finden wir auch in einer
Karikatur aus dem Jahre 1912 wieder:
„Die Psychologie des Grammophons“
Und
während man den akrobatischen Walzer aus der „Lustigen Witwe“ in
den Tänzen der Vororte verlangt, sind die schicken Mädchen in den
Salons ganz verrückt nach dem Tango unserer compadritos.
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Die
Original-Karikatur veranschaulicht in acht Bildern, welchen Einfluss
die Musik einer Gesellschaftsklasse auf eine andere ausüben kann.
Dieser Austausch von Musik zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen
wurde durch das Grammophone und die Schallplatte ermöglicht. Das
obige Beispiel zeigt was passieren könnte, wenn compadritos
aus den Vororten (links) in ihrem Stil—mit „corte y quebrada“—zu
einem Walzer aus Franz Lehars „Lustiger Witwe“ tanzen; oder wenn
die Oberschicht (rechts) Tango tanzt. Die Verschiedenheit der
Gesellschaftsklassen zeigt sich wieder in der Kleidungsordnung:
Schlapphut, Halstuch und Halbstiefel mit hohen Absätzen
unterscheiden den compadrito
vom Stadtbewohner (ohne Hut, Kragen und Fliege, Halbschuhe statt
Stiefel).
Karikatur
eines compadrito, 1930
|
Gehen
auf Criollo
Bei
seinen Auftritt hatte Marambio Catán auch einen speziellen Gang
aufgeführt, den er pisahuevos,
den er “Eierschritt” nannte. Dieser Gang steht direkt mit dem
Tango in Verbindung. In einem Artikel in Caras y Caretas
aus dem Jahre 1899 ändert ein guapo
seine Gangart, sobald er Tangomusik hört:
Lief er eine Straße entlang, so bereitete ihm die verführerische Milonga-Musik der Drehorgeln ein wollüstiges Kitzeln in den Fesseln. Wenn er um eine Straßenecke bog, schob er das Bein um die Ecke herum, als wäre es der gewellte Rocksaum der china, und ging mit den Schritten eines baile con corte weiter, die Arme angehoben, den Kopf voll mit Vorstellungen des Bordells und lüsternen Gefühlen, die sein ganzes Rückgrat hinunterliefen.
Aus
"Plétora Mortífera", Caras y Caretas No. 63, 1899
Sargento Pita (1903), der
Verfasser des Artikels, in dem die Photos von Arturo de Nava
erschienen (siehe oben), schrieb den eigenartigen Gang der
compadritos
ihrem Schuhwerk, den Stiefel mit hohen Absätzen, zu:
Die [compadritos] von Alto und Balvanera sind verschwunden: mit ihren ländlichen Hosen; dem Poncho über der Schulter; auf den Lippen freche Unverschämtheit, die untrennbare Begleiterin des heimtückischen Dolches und der Stöckelschuhe, die den Schritt behinderten und ein feminines Schwingen der das Gleichgewicht suchenden Hüften erzwangen!
Es gibt allerdings
Anzeichen dafür, dass der compadrito-Gang
auch nur ein Bühnen-Requisit war—so wie der Schlapphut und die
Stiefel mit den hohen Absätzen. Der Journalist Juan José de Soiza
Reilly beschrieb die erste Aufführung eines erfolgreichen sainete
criollo von Ezequiel Soria,
„Justicia criolla“,
im Jahre 1897. Nach de Soiza Reilly war es Soria, der dem spanischen
Schauspieler Enrique Gil den echten Schritt eines compadrito
beibrachte:
Ein paar Stunden vor der Premiere, auf der Bühne zwischen den Vorhängen, brachte Soria selbst [Enrique] Gil die richtige Art auf criollo zu gehen bei: überheblich, die Arme angehoben, ganz in der Art wie zur Zeit der langen Mähne und des spitzen Absatzes.—„Ja. Ja, jetzt versteh ich.“ sagte der große Schauspieler.Kurz bevor der Vorhang aufging bemerkte der Impresario Larco plötzlich, dass Gil ein Seil auf dem Boden ausgestreckt hatte und darauf wie ein Hochseilartist entlanglief.—„Was machst Du, Enrique?“
—„Ich lerne criollo zu gehen!“
Schlapphut,
Halstuch, ein schiebender Gang mit angehobene Armen, Tango tanzen: Es
zeigt sich, dass das Bild des compadrito auf der Theaterbühne
entworfen wurde. Und mit dem Erfolg des argentinischen teatro
criollo fand die Musik des compadrito—Tango—Aufnahme
und Zustimmung. Ein breites Publikum in Buenos Aires machte sich die
Musik zu eigen. Das Bild des Tango tanzenden compadritos
gehörte nicht mehr der Bühne allein, sondern wurde schnell ein
Bestandteil der Populärkultur. Und als solcher wird es auch heute
noch anerkannt.
Libertad Lamarque tanzt La Morocha mit einem compadrito.
© 2017 Wolfgang Freis
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