In der Tango-Literatur
finden sich viele Würdigungen von Komponisten und Musikern. Weniger
Information kann man über die Arrangeure aufspüren—die Musiker,
die die effektive Orchestrierung von Tangos entwarfen.
Es wird weitgehend als
selbstverständlich akzeptiert, dass Orchester ihre eigenen Versionen
spielten. Dabei wird leicht übersehen, dass ein Tango keine
Beethoven-Symphonie ist, in der die Orchestrierung Teil des
Kompositionsprozesses war. Notenausgaben von Tangomusik wurden
größtenteils als Klavierauszüge vertrieben, die keine
detaillierten Angaben für eine Orchesteraufführung einschlossen.
Jedes größere Orchester brauchte einzelne Instrumentalstimmen für
die jeweiligen Orchestergruppen. Und, was noch wichtiger war, jedes
Orchester musste eine Version im eigenen Stil darbieten. Diese
Aufgabe fiel den Arrangeuren zu.
Arrangeure wurden im
Gegensatz zu Komponisten und ausführenden Musiker normalerweise
nicht als Mitautoren angegeben. Obwohl ihr Beitrag ausschlaggebend
für den Erfolg eines Stückes sein konnte, fiel er offenbar eher in
die Kategorie der „Lohnarbeit“ als des kreativen Schaffens. Das
ist überraschend, denn die Abgrenzung zwischen Komponisten und
ausführenden Musiker einerseits und Arrangeuren andererseits war
fließend: die Erstgenannten konnten auch als Arrangeure in
Erscheinung treten. In Autobiografien und Interviews mit Musikern
wird Arrangieren, wenn überhaupt, nur als Nebentätigkeit erwähnt.
Aus diesem Grund wird es oft als Autorenbeitrag übergangen worden
sein.
Lucio Demare und Mariano
Mores z.B. wiesen in Interviews darauf hin, dass sie gelegentlich
auch als Arrangeure gearbeitet hatten. Als Demare nach einigen auf
Tour nach Buenos Aires zurückkehrte, wurde er von Francisco Canaro
engagiert, Orchestrierungen für die Musik-Komödien, die Canaro mit
Ivo Pelay inszenierte, anzufertigen. Fast alle Lieder,
die Canaro für die Theaterstücke komponierte, wurden zwischen 1935
und 1937 auch von Canaro's Orchester mit dem Sänger Roberto Maida
aufgenommen—darunter so bekannte Tangos wie „Envidia“, „Casas
viejas“ und „Qué le importa el mundo”. Es ist daher möglich,
dass diese Stücke von Demare orchestriert wurden. Aber ohne
unwiderlegbare Belege für seine direkte Mitwirkung an diesen
Aufnahmen läßt sich das nicht mit Bestimmtheit geltend machen.
Auch Mariano Mores
erwähnte in einem Interview, dass er Arrangements entworfen hatte,
bevor er als Pianist in Canaros Orchester engagiert wurde. Er nahm
vermutlich an den Aufnahmen seiner Tangos „Uno“ und „Cristal“
teil, die Canaro 1943 beziehungsweise 1944 produzierte. Als Komponist
und Pianist scheint seine Einbindung als Arrangeur naheliegend zu
sein, aber mit Sicherheit läßt sich das auch nicht ermitteln.
Die mangelnde
Wertschätzung der Arrangements ist bedauerlich. Arrangieren heißt
nicht, lediglich Noten auf Notensystem zu verteilen. Ein gutes
Arrangement bedarf kreativen Denkens. Tangos sind keine hochgradig
komplexe Kompositionen. Sie gehören der Unterhaltungsmusik an und
sind dazu bestimmt, von einem breiten Publikum aufgenommen zu werden.
Es ist aber das Arrangement, dass eine Einspielung als das Werk eines
bestimmten Orchesters zu erkennen gibt und es von anderen Versionen
unterscheidet.
Canaros Tangos bieten ein
interessantes Thema zur Untersuchung der Arrangements. Er konnte es
sich erlauben, mit seinem Orchester nach 1928 nicht mehr in Kabaretts
oder auf Tanzveranstaltungen zu spielen (mit Ausnahme der großen
Karnevalsbälle). Stattdessen konnte er sich auf Schallplatten- und
Radioaufnahmen konzentrieren. Für ihn war es daher leichter, eine
Auswahl von Instrumenten einzubeziehen, die man normalerweise nicht
in einem Tango-Orchester antrifft. Unter seinen vielen Aufnahmen
findet man mitunter überraschende Arrangements, in denen die
Orchestrierung als ausdrucksvolles Mittel zur Bereicherung des Textes
eingesetzt wurde. Zwei Beispiele werden im Folgenden besprochen: die
Aufnahmen von „Yo también soñé“ mit Roberto Maida (1936) und
„Cristal“ mit Carlos Roldán (1944).
„Yo también soñé”,
ein tango canción,
wurde von Canaro komponiert und seinem „sehr alten und guten
Freund“ Charlo gewidmet. Charlo nahm das Stück ein Jahr vor
Roberto Maida als tango
canción auf, d.h.,
als Gesangsvortrag zu dem nicht getanzt wurde. Der Schwerpunkt liegt
bei solchen Aufnahmen auf dem Text und der Interpretation des
Sängers, während das Orchester eine unterstützende Rolle spielt
und im Hintergrund bleibt. Die Aufnahme mit Maida ist dagegen
Tanzmusik, in der das Orchester die Hauptfigur ist. Der Sänger singt
nicht den ganzen Text, sondern nur Auszüge. Er ist gewissermaßen
ein weiteres Instrument des Orchesters, und die Wiedergabe des Textes
könnte mit einer Evokation statt einer Interpretation verglichen
werden. Es ist erwartungsgemäß die Tanzversion, in der das
Orchesterarrangement interessanter ist und maßgeblich zur
Aussagekraft des Stückes beiträgt.
Der
Aufbau der musikalische Phrasen in „Yo también soñé“
entspricht einem typischen tango
canción.
Das Stück besteht aus zwei Teilen (im Folgenden als A
beziehungsweise B bezeichnet), die sich wiederum in einen Vor- und
einen Nachsatz aufteilen. Auf Grund einiger sequenzieller
Phrasendehnungen und verbindenden Übergängen sind die Aufteilungen
nicht symmetrisch. Beide Teile werden in Maidas Aufnahme zweimal
durchgespielt: zuerst allein vom Orchester, dann zusammen mit dem
Sänger.
Das
Orchesterarrangement ist so aufgebaut, dass es die formale Struktur
mit Hilfe von Kontrasten darlegt. Teil A wird vom ganzen Orchester
mit kurzen, hart angeschlagenen marcato
Noten
gespielt. Diese „gehämmerte“ Vortragsweise mit ihren
gleichförmig pulsierenden, jeden Taktbeginn betonenden Noten ist ein
Merkmal der Tanzmusik. Die starken Akzente vermitteln den Tänzern
den Rhythmus und das Tempo.
Beispiel 1: “Yo también soñé”, Teil A
Im
Teil B ändert sich der Charakter der Musik. Der Rhythmus wird nicht
mehr „gehämmert“, sondern mit weicheren, verbundenen
portato-Noten
gespielt, wodurch die erweiterte melodische Linie betont wird.
Während die Melodie im Teil A hauptsächlich von den Violinen
ausgeführt wurde, wird sie im Teil B den Bandoneons zugeteilt. Das
tritt besonders im Nachsatz in den Vordergrund, in dem sich ein
Kontrast zwischen dem tiefem und hohem Register des Bandoneons
entfaltet. Im Vordersatz erklingt zum ersten Mal eine gedämpfte
Trompete.
Beispiel 2: “Yo también soñé”, Teil B
Nachdem die Teile A und B einmal allein vom Orchester gespielt
wurden, werden sie zusammen mit dem Sänger wiederholt. Im Gegensatz
zum akzentuierten und energischen Spielstil des ersten Durchganges
tritt das Orchester nun im Teil A in den Hintergrund und begleitet
den Sänger. Die Bandoneons setzen die rhythmische Begleitung in
einem sanfteren Ton fort, und die Violinen spielen eine Gegenmelodie,
die die Harmonie bereichert.
Beispiel 3: “Yo también soñé”, Teil A, Wiederholung
Im Vordersatz des Teils B setzt der Sänger überraschenderweise aus,
und die gedämpfte Trompete greift die Melodie auf.
Beispiel 4: “Yo también soñé”, Teil B, Wiederholung,
Vordersatz
Dies ist ein dramatischer Moment in der Orchestrierung: nicht nur,
weil die Melodie von der Trompete übernommen wird, sondern auch,
weil der Text unterbrochen wird. Die ersten beiden Textzeilen des
Refrains werden übergangen:
Es más amargo el despertar
cuanto
más tierno fue el amor del sueño.
|
Das Erwachen ist umso bitterer,
je zärtlicher die Liebe des Traumes war. |
Man
kann annehmen, dass das Publikum den Text gut kannte. Charlo hatte
„Yo también soñé“ vor Maida mit Canaro als tango-canción
aufgenommen und sang den Tango außerdem in einem Film (“Puerto
nuevo”, 1936). Die Auslassung dieser wichtigen Textzeilen muss
aufgefallen sein.
Der Sänger setzt im Nachsatz des B-Teils wieder ein. Hier zeigt sich
der Grund für die Auslassung der beiden Textzeilen: sie betont den
Text, den der Sänger an dieser Stelle aufgreift:
Una mano de hierro nos
llamó a la realidad
y los sueños se cambian en miserias y maldad.
|
Eine eiserne Hand rief uns
zur Realität zurück,
und Träume werden Elend
und Qual.
|
Mit diesem Text führt der
Arrangeur ein vollkommen neues Instrument ein, eine Celesta. Die
Celesta ist ein Tasteninstrument mit einem Glockenspiel-ähnlichem
Klang, den die meisten Hörer aus Tchaikovskys „Nussknacker“-Ballett
oder Mozarts „Zauberflöte“ kennen werden. Der eigentümliche
Klang des Instruments entsteht durch Hämmer, die auf kleine
Metallplatten schlagen. Es zeugt von einem Geniestreich des
Arrangeurs, die „eiserne Hand“ des Schicksals mit dem metallenen
Klang der Celesta anzukündigen!
Beispiel 5: “Yo también soñé”, Teil B, Wiederholung, Nachsatz
Beispiel 6: Francisco
Canaro, “Yo
también soñé”
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Das Arrangement von “Yo
también soñé” ist nicht das einzige Beispiel unter Canaros
Tangos, in dem eine Celesta in Erscheinung tritt. Das Instrument
wurde in dieser Aufnahme allerdings mit außergewöhnlicher
Wirksamkeit eingesetzt. Es gibt auch noch ein anderes Material, dass
einen klaren, metall-ähnlichen Klang hervorbringt, wenn es
angeschlagen wird: Glas. In Canaros Aufnahme von Mariano Mores' Tango
„Cristal“ (1944), gesungen von Carlos Roldán wurde daher auch auf
die Celesta in das Arrangement einbezogen. Auch hier hat die
Anwendung des Instruments einen direkten Bezug zum Text. Indem sie
eine Assoziation zur Zerbrechlichkeit wachruft, verdichtet die
Celesta die Aussagekraft der Musik:
…
Mas fragil que el
cristal, fue mi amor junto a ti.
Cristal—tu corazón,
tu mirar, tu reir.
...
|
…
Zerbrechlicher als Glas
war meine Liebe zu Dir.
Aus Glas—Dein Herz, Dein
Blick, Dein Lachen.
...
|
Beispiel
7: Francisco Canaro, “Cristal”, Auszug
Um den Einfluss des
Arrangements auf den Charakter der Darbietung zu verdeutlichen,
ziehen wir einen kurzen Vergleich zu einer anderen Aufnahme heran.
1943 wurde „Cristal“ von Aníbal Troilos Orchester mit dem Sänger
Alberto Marino aufgenommen. Troilos Orchester-Besetzung schloss
allerdings keine außergewöhnlichen Instrumente ein, sondern blieb
im Rahmen des traditionellen orquesta típica.
Genau
wie Canaros Version ist Troilos darauf ausgerichtet, den Text zu
vermitteln. Anders als Canaro machte sich Troilo nicht die
Instrumentierung zu Nutze, sondern verlangsamte das Tempo. Damit wird
dem Sänger Zeit gegeben, die Worte zur Geltung zu bringen und somit
den Text dem Publikum eindrücklich zu übermitteln. Troilos
Interpretation nähert sich damit dem Aufführungsstil des tango
canción an.
Beispiel
8: Aníbal Troilo, “Cristal”, Auszug
Wir
hoffen, veranschaulicht zu haben, dass die Kunst des
Orchester-Arrangements ein wichtiger Bestandteil in der Produktion
der Tango-Musik war. Von ihr hing der Charakter der Wiedergabe ab.
Tango-Kompositionen wurden als Klavierauszüge herausgegeben (so wie
die Notenauszüge in den vorangegangenen Beispielen). Obwohl diese
Klavierauszüge vereinfachte Versionen darstellen, die für den
Gebrauch des allgemeinen (Amateur-) Publikums gedacht waren, werden
die Handschriften der Komponisten nicht viel anders ausgesehen haben.
Sie stellten aber keine Partitur dar, von der ein Orchester hätte
spielen können. Die Orchesterstimmen mussten arrangiert werden.
Unsere kurze Analyse von „Yo también soñé“ hat aufgezeigt,
dass ein gutes Arrangement einem komplexen und kreativem Aufwand zu
Grunde liegt, der weit darüber hinausgeht, die Noten auf die
Instrumente zu verteilen. Dieses Arrangement wurde sorgfältig
gestaltet. Der Arrangeur zog die musikalische Form und den Text in
Betracht. Kontraste in der Instrumentierung spiegeln die formal
Struktur des Stückes wieder. Darüber hinaus wurde angestrebt, mit
der Orchestrierung die Aussagekraft des Textes zum Vorschein zu
bringen und zu verdichten.
Im Gegensatz zu Canaros anderer, ebenso hervorragender Version von
„Yo también soñé“ (gesungen von Charlo als tango canción)
ist die Fassung mit Maida ein Stück Tanzmusik. Das Orchester steht
im Mittelpunkt, und die Instrumente treten nicht hinter dem Gesang
zurück. Es ist eine außerordentliche Aufnahme: wunderschön
gesungen und vom Orchester hervorragend gespielt. Es ist
nachvollziehbar, dass diese Leistung zum großen Teil dem großartigen
Arrangement des „Unbekannten Arrangeurs“ zuzuschreiben ist.
© 2018 Wolfgang Freis