Monday, May 21, 2018

Ein Denkmal für den "Unbekannten Arrangeur"




In der Tango-Literatur finden sich viele Würdigungen von Komponisten und Musikern. Weniger Information kann man über die Arrangeure aufspüren—die Musiker, die die effektive Orchestrierung von Tangos entwarfen.

Es wird weitgehend als selbstverständlich akzeptiert, dass Orchester ihre eigenen Versionen spielten. Dabei wird leicht übersehen, dass ein Tango keine Beethoven-Symphonie ist, in der die Orchestrierung Teil des Kompositionsprozesses war. Notenausgaben von Tangomusik wurden größtenteils als Klavierauszüge vertrieben, die keine detaillierten Angaben für eine Orchesteraufführung einschlossen. Jedes größere Orchester brauchte einzelne Instrumentalstimmen für die jeweiligen Orchestergruppen. Und, was noch wichtiger war, jedes Orchester musste eine Version im eigenen Stil darbieten. Diese Aufgabe fiel den Arrangeuren zu.

Arrangeure wurden im Gegensatz zu Komponisten und ausführenden Musiker normalerweise nicht als Mitautoren angegeben. Obwohl ihr Beitrag ausschlaggebend für den Erfolg eines Stückes sein konnte, fiel er offenbar eher in die Kategorie der „Lohnarbeit“ als des kreativen Schaffens. Das ist überraschend, denn die Abgrenzung zwischen Komponisten und ausführenden Musiker einerseits und Arrangeuren andererseits war fließend: die Erstgenannten konnten auch als Arrangeure in Erscheinung treten. In Autobiografien und Interviews mit Musikern wird Arrangieren, wenn überhaupt, nur als Nebentätigkeit erwähnt. Aus diesem Grund wird es oft als Autorenbeitrag übergangen worden sein.

Lucio Demare und Mariano Mores z.B. wiesen in Interviews darauf hin, dass sie gelegentlich auch als Arrangeure gearbeitet hatten. Als Demare nach einigen auf Tour nach Buenos Aires zurückkehrte, wurde er von Francisco Canaro engagiert, Orchestrierungen für die Musik-Komödien, die Canaro mit Ivo Pelay inszenierte, anzufertigen. Fast alle Lieder, die Canaro für die Theaterstücke komponierte, wurden zwischen 1935 und 1937 auch von Canaro's Orchester mit dem Sänger Roberto Maida aufgenommen—darunter so bekannte Tangos wie „Envidia“, „Casas viejas“ und „Qué le importa el mundo”. Es ist daher möglich, dass diese Stücke von Demare orchestriert wurden. Aber ohne unwiderlegbare Belege für seine direkte Mitwirkung an diesen Aufnahmen läßt sich das nicht mit Bestimmtheit geltend machen.

Auch Mariano Mores erwähnte in einem Interview, dass er Arrangements entworfen hatte, bevor er als Pianist in Canaros Orchester engagiert wurde. Er nahm vermutlich an den Aufnahmen seiner Tangos „Uno“ und „Cristal“ teil, die Canaro 1943 beziehungsweise 1944 produzierte. Als Komponist und Pianist scheint seine Einbindung als Arrangeur naheliegend zu sein, aber mit Sicherheit läßt sich das auch nicht ermitteln.

Die mangelnde Wertschätzung der Arrangements ist bedauerlich. Arrangieren heißt nicht, lediglich Noten auf Notensystem zu verteilen. Ein gutes Arrangement bedarf kreativen Denkens. Tangos sind keine hochgradig komplexe Kompositionen. Sie gehören der Unterhaltungsmusik an und sind dazu bestimmt, von einem breiten Publikum aufgenommen zu werden. Es ist aber das Arrangement, dass eine Einspielung als das Werk eines bestimmten Orchesters zu erkennen gibt und es von anderen Versionen unterscheidet.

Canaros Tangos bieten ein interessantes Thema zur Untersuchung der Arrangements. Er konnte es sich erlauben, mit seinem Orchester nach 1928 nicht mehr in Kabaretts oder auf Tanzveranstaltungen zu spielen (mit Ausnahme der großen Karnevalsbälle). Stattdessen konnte er sich auf Schallplatten- und Radioaufnahmen konzentrieren. Für ihn war es daher leichter, eine Auswahl von Instrumenten einzubeziehen, die man normalerweise nicht in einem Tango-Orchester antrifft. Unter seinen vielen Aufnahmen findet man mitunter überraschende Arrangements, in denen die Orchestrierung als ausdrucksvolles Mittel zur Bereicherung des Textes eingesetzt wurde. Zwei Beispiele werden im Folgenden besprochen: die Aufnahmen von „Yo también soñé“ mit Roberto Maida (1936) und „Cristal“ mit Carlos Roldán (1944).

„Yo también soñé”, ein tango canción, wurde von Canaro komponiert und seinem „sehr alten und guten Freund“ Charlo gewidmet. Charlo nahm das Stück ein Jahr vor Roberto Maida als tango canción auf, d.h., als Gesangsvortrag zu dem nicht getanzt wurde. Der Schwerpunkt liegt bei solchen Aufnahmen auf dem Text und der Interpretation des Sängers, während das Orchester eine unterstützende Rolle spielt und im Hintergrund bleibt. Die Aufnahme mit Maida ist dagegen Tanzmusik, in der das Orchester die Hauptfigur ist. Der Sänger singt nicht den ganzen Text, sondern nur Auszüge. Er ist gewissermaßen ein weiteres Instrument des Orchesters, und die Wiedergabe des Textes könnte mit einer Evokation statt einer Interpretation verglichen werden. Es ist erwartungsgemäß die Tanzversion, in der das Orchesterarrangement interessanter ist und maßgeblich zur Aussagekraft des Stückes beiträgt.

Der Aufbau der musikalische Phrasen in „Yo también soñé“ entspricht einem typischen tango canción. Das Stück besteht aus zwei Teilen (im Folgenden als A beziehungsweise B bezeichnet), die sich wiederum in einen Vor- und einen Nachsatz aufteilen. Auf Grund einiger sequenzieller Phrasendehnungen und verbindenden Übergängen sind die Aufteilungen nicht symmetrisch. Beide Teile werden in Maidas Aufnahme zweimal durchgespielt: zuerst allein vom Orchester, dann zusammen mit dem Sänger.


Das Orchesterarrangement ist so aufgebaut, dass es die formale Struktur mit Hilfe von Kontrasten darlegt. Teil A wird vom ganzen Orchester mit kurzen, hart angeschlagenen marcato Noten gespielt. Diese „gehämmerte“ Vortragsweise mit ihren gleichförmig pulsierenden, jeden Taktbeginn betonenden Noten ist ein Merkmal der Tanzmusik. Die starken Akzente vermitteln den Tänzern den Rhythmus und das Tempo.



 Beispiel 1: “Yo también soñé”, Teil A


Im Teil B ändert sich der Charakter der Musik. Der Rhythmus wird nicht mehr „gehämmert“, sondern mit weicheren, verbundenen portato-Noten gespielt, wodurch die erweiterte melodische Linie betont wird. Während die Melodie im Teil A hauptsächlich von den Violinen ausgeführt wurde, wird sie im Teil B den Bandoneons zugeteilt. Das tritt besonders im Nachsatz in den Vordergrund, in dem sich ein Kontrast zwischen dem tiefem und hohem Register des Bandoneons entfaltet. Im Vordersatz erklingt zum ersten Mal eine gedämpfte Trompete.



 Beispiel 2: “Yo también soñé”, Teil B


Nachdem die Teile A und B einmal allein vom Orchester gespielt wurden, werden sie zusammen mit dem Sänger wiederholt. Im Gegensatz zum akzentuierten und energischen Spielstil des ersten Durchganges tritt das Orchester nun im Teil A in den Hintergrund und begleitet den Sänger. Die Bandoneons setzen die rhythmische Begleitung in einem sanfteren Ton fort, und die Violinen spielen eine Gegenmelodie, die die Harmonie bereichert.



 Beispiel 3: “Yo también soñé”, Teil A, Wiederholung


Im Vordersatz des Teils B setzt der Sänger überraschenderweise aus, und die gedämpfte Trompete greift die Melodie auf.



 Beispiel 4: “Yo también soñé”, Teil B, Wiederholung, Vordersatz


Dies ist ein dramatischer Moment in der Orchestrierung: nicht nur, weil die Melodie von der Trompete übernommen wird, sondern auch, weil der Text unterbrochen wird. Die ersten beiden Textzeilen des Refrains werden übergangen:

Es más amargo el despertar
cuanto más tierno fue el amor del sueño.
Das Erwachen ist umso bitterer,
je zärtlicher die Liebe des Traumes war.

Man kann annehmen, dass das Publikum den Text gut kannte. Charlo hatte „Yo también soñé“ vor Maida mit Canaro als tango-canción aufgenommen und sang den Tango außerdem in einem Film (“Puerto nuevo”, 1936). Die Auslassung dieser wichtigen Textzeilen muss aufgefallen sein.


Der Sänger setzt im Nachsatz des B-Teils wieder ein. Hier zeigt sich der Grund für die Auslassung der beiden Textzeilen: sie betont den Text, den der Sänger an dieser Stelle aufgreift:

Una mano de hierro nos llamó a la realidad
y los sueños se cambian en miserias y maldad.
Eine eiserne Hand rief uns zur Realität zurück,
und Träume werden Elend und Qual.

Mit diesem Text führt der Arrangeur ein vollkommen neues Instrument ein, eine Celesta. Die Celesta ist ein Tasteninstrument mit einem Glockenspiel-ähnlichem Klang, den die meisten Hörer aus Tchaikovskys „Nussknacker“-Ballett oder Mozarts „Zauberflöte“ kennen werden. Der eigentümliche Klang des Instruments entsteht durch Hämmer, die auf kleine Metallplatten schlagen. Es zeugt von einem Geniestreich des Arrangeurs, die „eiserne Hand“ des Schicksals mit dem metallenen Klang der Celesta anzukündigen!



 Beispiel 5: “Yo también soñé”, Teil B, Wiederholung, Nachsatz




Beispiel 6: Francisco Canaro, “Yo también soñé”

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Das Arrangement von “Yo también soñé” ist nicht das einzige Beispiel unter Canaros Tangos, in dem eine Celesta in Erscheinung tritt. Das Instrument wurde in dieser Aufnahme allerdings mit außergewöhnlicher Wirksamkeit eingesetzt. Es gibt auch noch ein anderes Material, dass einen klaren, metall-ähnlichen Klang hervorbringt, wenn es angeschlagen wird: Glas. In Canaros Aufnahme von Mariano Mores' Tango „Cristal“ (1944), gesungen von Carlos Roldán  wurde daher auch auf die Celesta in das Arrangement einbezogen. Auch hier hat die Anwendung des Instruments einen direkten Bezug zum Text. Indem sie eine Assoziation zur Zerbrechlichkeit wachruft, verdichtet die Celesta die Aussagekraft der Musik:

Mas fragil que el cristal, fue mi amor junto a ti.
Cristal—tu corazón, tu mirar, tu reir.
...
Zerbrechlicher als Glas war meine Liebe zu Dir.
Aus Glas—Dein Herz, Dein Blick, Dein Lachen.
...





Beispiel 7: Francisco Canaro, “Cristal”, Auszug

Um den Einfluss des Arrangements auf den Charakter der Darbietung zu verdeutlichen, ziehen wir einen kurzen Vergleich zu einer anderen Aufnahme heran. 1943 wurde „Cristal“ von Aníbal Troilos Orchester mit dem Sänger Alberto Marino aufgenommen. Troilos Orchester-Besetzung schloss allerdings keine außergewöhnlichen Instrumente ein, sondern blieb im Rahmen des traditionellen orquesta típica.

Genau wie Canaros Version ist Troilos darauf ausgerichtet, den Text zu vermitteln. Anders als Canaro machte sich Troilo nicht die Instrumentierung zu Nutze, sondern verlangsamte das Tempo. Damit wird dem Sänger Zeit gegeben, die Worte zur Geltung zu bringen und somit den Text dem Publikum eindrücklich zu übermitteln. Troilos Interpretation nähert sich damit dem Aufführungsstil des tango canción an.




Beispiel 8: Aníbal Troilo, “Cristal”, Auszug

Wir hoffen, veranschaulicht zu haben, dass die Kunst des Orchester-Arrangements ein wichtiger Bestandteil in der Produktion der Tango-Musik war. Von ihr hing der Charakter der Wiedergabe ab. Tango-Kompositionen wurden als Klavierauszüge herausgegeben (so wie die Notenauszüge in den vorangegangenen Beispielen). Obwohl diese Klavierauszüge vereinfachte Versionen darstellen, die für den Gebrauch des allgemeinen (Amateur-) Publikums gedacht waren, werden die Handschriften der Komponisten nicht viel anders ausgesehen haben. Sie stellten aber keine Partitur dar, von der ein Orchester hätte spielen können. Die Orchesterstimmen mussten arrangiert werden.

Unsere kurze Analyse von „Yo también soñé“ hat aufgezeigt, dass ein gutes Arrangement einem komplexen und kreativem Aufwand zu Grunde liegt, der weit darüber hinausgeht, die Noten auf die Instrumente zu verteilen. Dieses Arrangement wurde sorgfältig gestaltet. Der Arrangeur zog die musikalische Form und den Text in Betracht. Kontraste in der Instrumentierung spiegeln die formal Struktur des Stückes wieder. Darüber hinaus wurde angestrebt, mit der Orchestrierung die Aussagekraft des Textes zum Vorschein zu bringen und zu verdichten.

Im Gegensatz zu Canaros anderer, ebenso hervorragender Version von „Yo también soñé“ (gesungen von Charlo als tango canción) ist die Fassung mit Maida ein Stück Tanzmusik. Das Orchester steht im Mittelpunkt, und die Instrumente treten nicht hinter dem Gesang zurück. Es ist eine außerordentliche Aufnahme: wunderschön gesungen und vom Orchester hervorragend gespielt. Es ist nachvollziehbar, dass diese Leistung zum großen Teil dem großartigen Arrangement des „Unbekannten Arrangeurs“ zuzuschreiben ist.








© 2018 Wolfgang Freis




Sunday, May 20, 2018

A Monument to the "Unknown Arranger"




Much has been written about tango composers and performers, but very little is known about the arrangers, i.e., the musicians who devised the actual orchestration of the pieces as we know them from the recordings.

It is largely taken for granted that an orchestra played its own version, but it is overlooked that a tango is not a Beethoven symphony where the orchestration is part of the compositional process. Tango music was sold primarily as piano sheet music, which is far from providing exact indications about performance. For any of the large orchestras, it was necessary to have parts written out for all the instruments. More importantly, it was essential for orchestras to play a version in their own style. This version had to be prepared by an arranger.

Unlike composers and performers, arrangers are usually not credited for their work. Though of crucial importance, the arrangers' contribution appears to have fallen under the category of “work for hire” and did not have the status of creative work. This is indeed surprising, as the boundaries between composers and performers, on the one hand, and arrangers, on the other, were fluent: the former were also arrangers. In musicians' interviews and memoirs their work as arrangers, if mentioned at all, is presented as secondary to their main calling. It is probably for this reason that it may have been glossed over.

Lucio Demare and Mariano Mores, for example, mentioned in interviews that they had worked at times as arrangers. Upon his return to Buenos Aires, after touring the world for a number of years, Demare was engaged by Francisco Canaro to write the orchestrations for the musical comedies that he was staging with Ivo Pelay. Almost all the songs that were performed in the plays were also recorded from 1935 to 1937 by Canaro's orchestra with the singer Roberto Maida--among them well-known pieces such as “Envidia”, “Casas viejas”, and “Qué le importa el mundo”. It is possible that the arrangements were prepared by Demare, but it is impossible to know for sure, unless some compelling evidence (like the original music parts) comes to light.

Likewise, Mariano Mores mentioned in an interview that he had prepared arrangements before he became the pianist in Canaro's orchestra in 1939. When Canaro recorded Mores' tangos “Uno” (1943) and “Cristal” (1944), Mores was probably playing the piano during the recordings. As the composer, he also would have been a likely candidate for an arranger as well; yet, we do not know.

The lack of appreciation of the arranger's work is unfortunate. Arranging is not simply a matter of putting notes on music staves. A good arrangement requires also creative thinking. Tangos are not highly sophisticated compositions; they are entertainment music, meant to be easily grasped by a wider audience. It is the arrangement that marks a performance as the work of one particular orchestra, making it stand out against the other arrangements.

Canaro's tangos are an interesting subject for a study of orchestra arrangements. After he gave up playing in cabarets and dances (except for the large carnival dances) in 1928, he could concentrate on recording music on record and playing on the radio. It was, therefore, easier for him to include a variety of instruments not normally found in tango orchestras. Among his many recordings one finds every now and then surprising arrangements in which the orchestration was used as an expressive means to enhance the text. Two examples will be discussed below: the recording of “Yo también soñé” with Roberto Maida (1936) and “Cristal” with Carlos Roldán (1944).

“Yo también soñé” is a tango canción composed by Canaro, dedicated to his “very old and good friend” Charlo. One year before Roberto Maida's recording, Charlo recorded the piece as a tango canción, that is, as a song performance to be listened to and not danced. The emphasis in such performances is on the text and the singer's interpretation; the orchestra plays a supporting role and remains in the background. The recording with Maida is, on the other hand, a piece of dance music in which the orchestra is the main protagonist. The singer does not sing the entire song text but only excerpts. He is, as it were, another instrument of the orchestra, and this rendition is an evocation rather than an interpretation of the text. It is, of course, in the dance version that the orchestral arrangement contributes significantly to the interest of the piece.

The phrase structure of “Yo también soñé” is typical for a tango canción. It consists of two parts (hereafter A and B, respectively) which in turn can be divided into an antecedent and consequent phrase. The divisions are not symmetrical due to some sequential phrase prolongations and connecting interpolations. In the recording with Maida, both parts are played twice in order: the first time by the orchestra alone, the second time with the singer.


The orchestral arrangement is designed in such a way that it elucidates the formal structure by means of contrasts. Part A is played by the entire orchestra with sharply attacked and interrupted marcato notes. This “hammered” style of steady pulsating notes, accentuating the beginning of each measure of the phrase, is a characteristic trait of dance music. The strong accents clearly convey the rhythm and tempo to the dancers.


 Example 1: “Yo también soñé”, Part A

With part B, the character of the music changes. The rhythm is no longer “hammered” but played with smoother, attached portato notes, thus, emphasizing the extended melodic line. Whereas in part A the melody was articulated mainly in the violins, it passes to the bandoneons in part B. This comes to the fore especially in the subsequent phrase, which exploits a contrast between the low and high registers of the bandoneon. In the antecedent phrase a muted trumpet makes its first appearance.


 Example 2: “Yo también soñé”, Part B

After being played once by the orchestra alone, parts A and B are repeated with the participation of the singer. The orchestra, in contrast to the first accentuated and forceful performance of part A, recedes into the background and accompanies the singer. The bandoneons continue the rhythmic accompaniment in a softer tone, and the violins play a counterpart to enrich the harmony.


 Example 3: “Yo también soñé”, Part A, Repetition

In the antecedent phrase of part B, the singer pauses surprisingly and his part is continued by the muted trumpet.


 Example 4: “Yo también soñé”, Part B, Repetition, Antecedent Phrase

This is a dramatic moment in the musical arrangement not only because the melody is taken over by the trumpet, but also because the text is interrupted. The first two text lines of the refrain are skipped:

Es más amargo el despertar
cuanto más tierno fue el amor del sueño.
The tenderer the love we dreamt of,
the bitterer the awakening.

It can be assumed that the audience would have known the text quite well: Charlo had recorded the tango-canción-version of “Yo también soñé” with Canaro a year earlier and also sung the tango in a movie (“Puerto nuevo”, 1936). The omission of these important lines of the text must have been noted.

The singer sets in again with the subsequent phrase of part B. The omission of the first two text lines of the refrain here become apparent: it emphasizes the text with which the singer continues.

Una mano de hierro nos llamó a la realidad
y los sueños se cambian en miserias y maldad.
An iron hand called us back to reality,
and dreams turn into misery and agony.


Here the arranger introduces a completely new instrument, the celesta. It is a keyboard instrument with a chimes-like sound that is to most people probably familiar from Tchaikovsky's “Nutcracker” ballet or Mozart's “Die Zauberflöte”. The peculiar sound of this instrument is produced by hammers striking a metal plate. It attests to a stroke of genius in the orchestration to represent the “iron hand” of destiny with the metallic sound of the celesta.


 Example 5: “Yo también soñé”, Part B, Repetition, Consequent Phrase


Example 6: Francisco Canaro, “Yo también soñé”

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The orchestration of “Yo también soñé” is not the only instance in Canaro's tangos where the celesta made an appearance. It is an example where it has been employed with exceptional effectiveness. There is another material that, when struck, makes a clear metal-like sound: glass. It comes as no surprise, then, to find the celesta again in Canaro's recording of “Cristal” (1944), sung by Carlos Roldán  Here, too, the use of the instrument has a direct relationship to the text. By evoking the fragility of crystal, the celesta raises the expressiveness of the music to a higher degree:

Mas fragil que el cristal, fue mi amor junto a ti.
Cristal—tu corazón, tu mirar, tu reir.
...
More fragile than crystal was my love next to you.
Crystal—your heart, your gaze, your laughter.
...




Example 7: Francisco Canaro, “Cristal”, excerpt

To illustrate the impact of an orchestral arrangement on the character of a rendition, we shall briefly examine another recording of “Cristal”. It was recorded one year earlier than Canaro's by the orchestra of Aníbal Troilo and sung by Alberto Marino. Troilo did not use “exotic” instruments like the trumpet or celesta in his orchestra. He relied on the instrumentation of the traditional orquesta típica (perhaps with an augmented string section).

Just as Canaro's version, Troilo's aims at conveying the text. But unlike Canaro, Troilo did not change the instrumental arrangement, he changed the tempo, slowing it down in order to let the singer emphasize the words and thus the meaning of the text. His rendition thus approaches the performance style of the tango canción.


Example 8: Aníbal Troilo, “Cristal”, excerpt

We hope to have demonstrated that the art of orchestral arrangement was an important component in the production of tango music. The character of the rendition depended on it. Tango music circulated as piano scores (just as the piano music displayed in the above examples). While these scores were simplified versions prepared for a general (non-professional) audience, a composer's autograph would have not have differed much. It is, however, not the kind of score an orchestra could have played from. The parts of an orchestra needed to be arranged.

The brief analysis of “Yo también soñé” has shown that a good arrangement is a more complex and creative effort than just distributing notes among the orchestra instruments. This arrangement was carefully laid out. The arranger took the musical form and the text into consideration. Contrasts in the orchestral arrangement echo the formal structure of the piece. Furthermore, the orchestration is used to elucidate and intensify the meaning of the text.

As opposed to Canaro's other, equally outstanding version of “Yo también soñé” (sung by Charlo as a tango canción), this version with Maida is meant for dancing. As a consequence, the orchestra plays the main role rather than simply accompanying the singer. It is an exquisite recording: beautifully sung and extraordinarily well played by the orchestra. It stands to reason that this accomplishment is largely due to the brilliant orchestration by the "Unknown Arranger".  








© 2018 Wolfgang Freis




Saturday, May 12, 2018

Eine kurze Tango-Harmonielehre, Teil IV



Roberto Firpo





(Englisch Version)


1. Einleitung


Unsere letzte Abhandlung einer Harmonielehre des Tangos beschäftigte sich mit den Molltonarten—genauer gesagt: die Verwendung der Paralleltonarten als ein Mittel der Kontrastierung formaler Strukturen. Die Paralleltonarten in Dur und Moll haben die gleichen Vorzeichen, haben aber ihren Grundton, die Tonika, auf unterschiedlichen Tonleiterstufen. So werden z.B. C-Dur und a-Moll ohne Vorzeichen notiert. Es gibt allerdings noch eine andere Beziehung zwischen Dur- und Molltonarten, die von Tango-Komponisten oft als Mittel der tonalen Kontrastierung eingesetzt wurde: die Varianttonarten.

1.1  Die Varianttonarten in Dur und Moll


Varianttonarten in Dur und Moll haben ihre Tonika auf der selben Tonleiterstufe, unterscheiden sich aber in den Vorzeichen. So werden D-Dur zwei Kreuze vorgesetzt, während D-Moll ein B aufzeigt.

Beispiel 1: Varianttonarten D-Dur und D-Moll

1.2. Chromatik


Im Vergleich zu den Paralleltonarten ist der Verwandtschaftsgrad der Varianttonarten entfernter. Trotzdem wird ein Wechsel zwischen Varianten von den Hörern nicht unbedingt als Tonartwechsel empfunden. Da die Toniken auf dem selben Grundton beruhen, wirkt ein Übergang in die Varianttonart oft nur als Stimmungs- statt eines Tonartwechsels empfunden (vom heiteren Dur ins düstere Moll oder umgekehrt ).

Schwankungen zwischen Dur- und Mollvarianten sind in der tonalen Musik nicht ungewöhnlich. Sie werden in der Musiktheorie als „chromatische Veränderungen“ bezeichnet. „Chromatisch“ geht auf das griechische Wort für Farbe, „chroma“, zurück. Chromatische Veränderungen verstärken und bereichern Akkordverbindungen, indem sie ihnen zusätzliche Nuancen verleihen.

Chromatik ergibt sich durch die Anwesenheit eines oder mehrerer Töne, die naturgemäß nicht in der gegebenen Tonart vorkommen. Sie kann melodisch oder harmonisch auftreten. Melodische Chromatik zeigt sich in der Anwendung der chromatischen Tonleiter, die im Gegensatz allen anderen Tonleitern nur aus Halbtonschritten besteht.

Beispiel 2: Chromatische Tonleiter

Da Dur-und Molltonarten durch eine charakteristische (natürliche) Verteilung von Ganz- und Halbtonschritten bestimmt werden, verhält sich eine chromatische Tonleiter zu jedweder Harmonie neutral.

Harmonische Chromatik tritt als chromatisch veränderte Akkorde in Erscheinung, d.h., ein oder mehrere Töne eines Akkordes werden Halbtonschritte erhöht oder erniedrigt. Die Musiktheorie legt solche Situationen oft als ein „Ausleihen“ eines Akkordes von einer anderen Tonart aus. Wir werden zwei Beispiele in der folgenden Analyse antreffen.

Tonalität wird durch Chromatik abgeschwächt, da es die natürliche Verteilung der Ganz- und Halbtonschritte, aus denen sich eine Dur- oder Molltonart zusammensetzt, auflöst. Deshalb wird sie in der tonalen Musik auch oft dazu herangezogen, um Verbindungen zwischen entfernt verwandten Harmonien zu überbrücken. Chromatik findet sich auch in vielen Tangos—besonders in solchen, deren formale Struktur mit den Varianttonarten in Beziehung steht. In Roberto Firpos El Apronte zeigen sich melodische wie harmonische Chromatik.


2. Roberto Firpos El Apronte


El Apronte wurde im Karneval 1914 anläßlich des ersten Balls der Internisten des Krankenhauses San Roque (La Plata) uraufgeführt. Es war Firpos zweiter tango milonga, eine Tango-Form, dessen Kreation Francisco Canaro mit Pinta brava (1913) für sich in Anspruch nahm.

Der formale Aufbau ist typisch für einen instrumentalen Tango dieser Epoche. Er besteht aus drei Teilen unabhängigen Sätzen (im Folgenden als A, B oder C gekennzeichnet), von denen der dritte als „Trio“ gekennzeichnet ist. Das Trio ist, wie üblich, ein kontrastierender Teil. Die Sätze A und B weisen kurze, abgehackte melodische Motive auf, während Satz C, das Trio, langgestreckte melodische Bögen bietet, die der Komponist noch dadurch betonte, indem er sie als Geigensolo arrangierte.

Die drei Sätze sind gleichmäßig gegliedert und bestehen aus jeweils 16 Takten. Sie können ihrerseits in zwei Phrasen, einen Vorder- und einen Nachsatz, von jeweils 8 Takten aufgeteilt werden. Die Phrasen setzen sich dann aus zwei vier-taktigen Motiven zusammen.

3. Sätze und Tonarten


Die Vorzeichen (Fis und Cis in den Sätzen A und C, B in Satz B) und Schlussakkorde (D-Dur in A und C, D-Moll in B) lassen darauf schließen, dass A und C in D-Dur geschrieben sind, während Satz B in D-Moll steht. Eine eingehendere Analyse des harmonischen Ablaufs innerhalb der einzelnen Sätze bestätigt diesen Eindruck. Die Harmonien pendeln sozusagen zwischen der Tonika und Dominante und verankern somit die Tonalität klar in D-Dur beziehungsweise D-Moll.

3.1 Die Vordersätze


Der Vordersatz des A Satzes beginnt und endet mit der Dominante. Auf jedes Erscheinen einer Dominante folgt eine Auflösung zur Tonika, und damit wird die Tonart auf D-Dur festgesetzt. (Tonika und Dominante sind im folgenden Beispiel als I beziehungsweise V markiert.)

Beispiel 3: El Apronte, Satz A, Vordersatz

Mit Satz B wechselt die Tonart ins D-Moll. Für den Vordersatz ist auch hier eine Wechselfolge von Akkorden auf der Tonika und Dominante charakteristisch. Dem Schlussakkord des Vordersatzes geht ein verminderter Septakkord voran (im Beispiel als VIIº angezeigt), aber dieser Akkord ist lediglich eine Variante der Dominante, oder, anders ausgedrückt, eine Abwandlung und Verschärfung der Dominante.

Beispiel 4: El Apronte, Satz B, Vordersatz

Satz C weist ebenso wie die vorangegangenen Sätze einen eindeutigen tonalen Schwerpunkt auf—hier wieder in D-Dur. Der Vordersatz ist abermals eine Wechselfolge von Akkorden auf der Tonika und Dominante.

Beispiel 5: El Apronte, Satz C, Vordersatz

Insgesamt lassen sich die drei Vordersätze als eine Aufeinanderfolge von Tonika- und Dominantakkorden in der jeweiligen Tonart des Satzes beschreiben. Jeder der Vordersätze baut von Anbeginn einen harmonischen Schwerpunkt auf der Tonika auf, sei es nun D-Dur oder D-Moll.

3.2 Die Nachsätze


Obwohl eine Wechselfolge von Dominanten und Toniken ein klarer Hinweis auf eine Tonart ist, so wird sie, genau genommen, dadurch jedoch nicht festgelegt. Dazu bedarf es einer Kadenz, welche normalerweise noch einer weiteren Harmonie neben der Tonika und Dominante bedarf: die Subdominante. Darüber hinaus dienen Kadenzen einem doppelten Zweck: sie bestimmen nicht nur die Tonart, sondern markieren auch den Abschluss von Melodien und Phrasen. Es überrascht daher nicht, dass alle Nachsätze in El Apronte mit Kadenzen enden.

Satz A schließt zum Beispiel mit einer exemplarischen Dur-Kadenz ab. Das erste Motiv des Nachsatzes ist eine Wiederholung des ersten Motivs des Vordersatzes. Das zweite Motiv führt zum ersten Mal einen anderen Akkord als die Tonika oder Dominante ein—die Subdominante (im folgenden Beispiel als IV angezeigt)—und leitet damit die Schlusskadenz dieses Satzes ein.

Beispiel 6: El Apronte, Satz A, Nachsatz

Alle der Kadenz vorangehenden Harmonien bewegten sich ausschließlich zwischen Tonika und Dominante. Das Auftreten der Subdominante an diesem Punkt ist bedeutend: nicht nur, weil es eine neue Harmonie präsentiert, sondern auch, weil es eine Vorlage für die folgenden Sätze darstellt. Auch in den Sätzen B und C finden sich vollkommen neue Harmonien in der Position, die dem Satz A entspricht. Diese sind aber gleichzeitig Beispiele harmonischer Chromatik und werden unten besprochen.

3.3 Satz A: Melodische Chromatik


Unsere frühere Bemerkung, dass die formale Struktur von El Apronte aus drei Sätzen von jeweils 16 Takten besteht, war nicht vollends korrekt. Dem ersten Satz ist eine Einleitung von drei Takten vorangesetzt. Diese Einleitung bildet einen eigenständigen Abschnitt, da der melodische Inhalt (eine einfache absteigende chromatische Tonleiter) nichts mit dem des eigentlichen Satzes gemeinsam hat. Der Komponist hat sie aber so notiert, dass sie mit jeder Wiederholung des Satzes neu gespielt wird. Die Einleitung ist also ein fester Bestandteil des eigentlichen Satzes.

Beispiel 7: El Apronte, Satz A, Einleitung

Die Einleitung hat allerdings keinen Einfluss auf die Tonalität des Satzes. Wir haben oben darauf hingewiesen, dass sich eine chromatische Tonleiter im Bezug auf Dur- oder Molltonalitäten neutral verhält, da sie durchweg aus Halbtonschritten besteht. Dies zeigt sich deutlich hier in der Einleitung. Der erste Akkord der Einleitung sowie der erste des eigentlichen Satzes stehen beide auf der Dominante. Die chromatische Tonleiter, die die beiden Takte zwischen ihnen ausfüllt, ändert die Wahrnehmung der Harmonie nicht. Da jede Tonfolge ein Halbtonschritt ist, kann kein Bezug auf eine andere Harmonie hergestellt werden. Die chromatische Tonleiter ist in diesem Fall sozusagen nur „Füllmaterial“.

Illustration 1: El Apronte, Satz A, Einleitung

Obwohl die Einleitung keinen Einfluss auf die sich entwickelnde Harmonie hat, ist sie dennoch im Hinblick auf die formale Gestaltung des Stückes von Bedeutung. Als hervorstechende melodische Figur signalisiert sie beim ersten Erscheinen den Beginn des Satzes A, und mit jeder Wiederholung seine Repetition. Wir gehen davon aus, dass diese Figur nicht nur der Verzierung und Ausschmückung dient, sondern auch eine Anspielung auf die Chromatik der folgenden Sätze ist und damit formbildenden Charakter hat.


3.4 Harmonische Chromatik in den Sätzen B und C


In den Sätzen B und C sind auch Beispiele melodischer Chromatik anzutreffen, sie sind aber nicht so markant und ausgedehnt wie im Satz A. Dagegen finden sich in den letzten beiden Sätzen auffallende Beispiele harmonischer Chromatik.

Satz B ist in D-Moll gesetzt, im Gegensatz zu den beiden Ecksätzen in der Varianttonart D-Dur. Der Tonartwechsel ist ein einfacher Schritt von einer Tonart in die andere—ein Sachverhalt, der an sich bemerkenswert ist. Satz A endet in D-Dur, und Satz B beginnt in D-Moll ohne Vorbereitung oder Übergang. Der Wechsel zurück zu D-Dur in Satz C wird ebenso beiläufig vollzogen.

Oben wurde erwähnt, dass die Phrasierungsstruktur von El Apronte sehr regelmäßig verläuft: die sechzehn-taktigen Sätze teilen sich in Vorder- und Nachsätze mit jeweils acht Takten auf, die sich dann wiederum vier-taktige Motive zergliedern lassen. In jedem Satz ist das erste Motiv des Nachsatzes eine Wiederholung des ersten Motivs des Vordersatzes. (Satz C weicht, wie wir sehen werden, geringfügig von diesem Modell ab.) Das zweite Motiv des Nachsatzes unterscheidet sich allerdings maßgeblich von dem des Vordersatz: Es leitet die Schlusskadenz des Satzes ein und fügt eine neue Harmonie ein, die bis dahin noch nicht berührt wurde.

Im Satz A war es die Subdominante (IV, ein G-Dur-Akkord), die eine standardmäßige Dur-Schlusskadenz einleitete. Im Satz B, der in D-Moll geschrieben ist, trifft man aber weder die Dur- noch die Moll-Form der Subdominante (einen G-Dur- beziehungsweise G-Moll-Akkord) an, sondern einen Es-Dur-Akkord (im folgenden Beispiel als N markiert).

Beispiel 8: El Apronte, Satz B, Nachsatz

Ein Es-Dur-Akkord gehört nicht zum natürlichen Akkordbestand in D-Moll. Er kann nur durch eine chromatische Erniedrigung der zweiten Tonleiterstufe vom E zum Es erzeugt werden und stellt somit eine „chromatische Veränderung“ oder chromatische Harmonik dar. Im Zusammenhang einer Schlusskadenz auf D ist ein Es-Dur-Akkord allerdings keine Seltenheit. In der Musiktheorie wird er „Neapolitaner“ genannt und bezeichnet „einen Dur-Akkord auf der erniedrigten zweiten Stufe im funktionalen Zusammenhang der Subdominante“. Der „Neapolitaner“ leitet hier die Schlusskadenz des Satzes B ein, genauso wie es die Subdominante im Satz A tat. 

Der Nachsatz des Satzes C zeigt eine analoge Akkordverbindung, jedoch beginnt sie schon im ersten Motiv zwei Takte früher. Auch hier findet sich ein Akkord, der nicht zum natürlichen Akkordbestand der Tonart gehört und nur durch chromatische Veränderung erzeugt werden kann. Diesmal handelt es sich um einen B-Dur-Akkord (im folgenden Beispiel als N/V markiert).

Beispiel 9: El Apronte, Satz C, Nachsatz


Im Gegensatz zum oben besprochenen „Neapolitaner“ gibt es in der Musiktheorie keinen Begriff, um einen B-Dur-Akkord in diesem Zusammenhang zu kennzeichnen. Dennoch läßt sich die Analogie zwischen den beiden Progressionen nicht übersehen: Der B-Dur-Akkord löst sich zur einen Halbtonschritt tiefer gelegenen Dominante auf; genau so, wie sich der „Neapolitaner“ zur einen Halbtonschritt tiefer gelegenen Tonika auflöste (daher die Markierung N/V).

4. Schlussfolgerung


Wie in unseren vorangegangenen Analysen, sind wir auf ein kurzes Stück Unterhaltungsmusik gestoßen, dass in seiner Komposition eine erstaunliche Komplexität aufweist. Aus der Sicht der Harmonie ist das Material, das wir vorfanden, nicht neuartig; es entstammt den allgemein verbreiteten harmonischen Ausdrucksformen der europäischen Musik. Die Anwendung—d.h., wie es in die Komposition eingebaut wurde—ist allerdings beachtenswert. Firpo konstruierte ein kleines musikalisches Schmuckstück, eine hervorragend durchdachte und aufgebaute Komposition, die man eher in ernster als in Tanzmusik erwarten würde.

Tango wurde von Anbeginn als eine Art urbaner Volksmusik vermarktet, die von Personen ohne oder mit wenig musikalischer Ausbildung erschaffen wurden. Komponisten wie Firpo und die unserer vorangegangenen Analysen (Arturo de Bassi, Ángel Villoldo, Eduardo Arolas, und viele andere) lassen ein anderes Bild erkennen. Eine Auswertung ihrer Kompositionen zeigt, dass sie mit den Ideen ihrer Kollegen aus der ernsten Musik durchaus vertraut waren und sich mit ihnen in ihren eigenen Werken auseinandersetzten.

Beispiel 10: El Apronte. Aufgenommen 1926 vom Orquesta Roberto Firpo.





© 2018 Wolfgang Freis

Sunday, May 6, 2018

A Brief Harmony of Tango, Part IV



Roberto Firpo




1. Introduction


Our previous excursion into tango harmony introduced minor keys—more specifically, the exploitation of relative major and minor keys as a means of contrasting formal structures for musical variety (see A Brief Harmony of Tango, Part III). Relative major and minor keys use the same key signature but the respective tonics are formed on different scale degrees as, for example, C-Major and a-minor, which have no accidentals in the key signature. There is, however, another kind of major-minor relationship that composers of tangos frequently employed to express tonal contrast: parallel major and minor keys.


1.1 Parallel Major-Minor Keys


Parallel major and minor keys build their tonic on the same scale degree, but they have different key signatures. For example, D-major carries two sharp accidentals in the key signature, whereas d-minor shows one flat.

Example 1: Parallel keys, D-major and d-minor

1.2. Chromaticism


With respect to their tonality, parallel major and minor keys are more distantly related to each other than relative keys. However, for the listener, a switch from one parallel key to the other is not necessarily perceived as a change of key. Since the tonic chords are built on the same scale degree, the switch sounds more like a change of mood—from cheerful major to somber minor, or vice versa—rather than a move into a distant key.

In tonal music, changes from a major to a minor chord, or vice versa, are not uncommon. They are often called “chromatic alterations” in music theory . “Chromatic” derives its name from the Greek word “chroma”, meaning “color”. Hence, chromatic alterations lend “color” to harmony, thus intensifying and enhancing it.

Chromaticism denotes the presence of one or more pitches that are not naturally part of a key. It can appear harmonically or melodically. Melodic chromaticism is an application of the chromatic scale. Unlike any other type of scale, the chromatic scale consists entirely of half-tone steps.

Example 2: Chromatic Scale

Since major and minor keys are defined by a characteristic (natural) distribution of semi- and whole-tone steps, a chromatic scale by itself is ambivalent in relation to any harmony.

An instance of harmonic chromaticism usually takes the form of a chromatically altered chord, that is, one or more tones of the chord are raised or lowered by a semitone. In music theory such situations are often explained as the “borrowing” of a chord from another key. We will encounter two examples in the analyses below.

Chromaticism weakens a tonality since it dissolves the natural distribution of whole- and half-tone steps through which a major or minor key is created. For this reason, it is often used in tonal music as a bridge between distantly related keys. It was also a common device used in many tangos, especially those whose formal structure was related to parallel major and minor keys. Examples of both melodic and harmonic chromaticism can be found in Firpo's El Apronte.


2. Roberto Firpo's El Apronte


El Apronte was performed for the first time in 1914 at the first carnival dance of the internists at the Hospital of San Roque (La Plata). It was Firpo's second tango milonga, a musical form that Francisco Canaro said to have created with his tango Pinta brava, written one year before El Apronte.

The formal organization is typical for an instrumental tango of that period. It consists of three discrete sections (hereafter referred to as A, B, and C, respectively), of which the third one is labelled “trio”. The trio, as customary, is a contrasting portion: whereas sections A and B exhibit short melodic melodic motifs in a jolted rhythmic style, section C, the trio, features a long arching melody that the composer highlighted by setting it as a violin solo.

The three sections of El Apronte are each 16 measures long and evenly structured. Each section can be subdivided into an antecedent and consequent phrases of 8 measures, and each eight-measure phrase is, in turn, made up of two motives of four measures.

3. Sections and Keys


The key signatures (f-sharp and c-sharp for sections A and C, b-flat for section B) and final chords (D-major for sections A and C, d- minor for section B) indicate that sections A and C are tonally in D-major, whereas section B is in d-minor. A more detailed analysis of the harmonic progressions within each section confirms this view. The harmonies oscillate, as it were, between tonic and dominant and thus leave no doubt what the key of the section is: it is either D-major or d-minor, respectively.

3.1 The Antecedent Phrases


The antecedent phrase of section A begins and ends on the dominant. Each occurrence of the dominant is followed by a resolution to the tonic and thus the key of D-major is established. (Tonic and dominant are indicated as I and V, respectively, in the following example.)

Example 3: El Apronte, Section A, Antecedent Phrase


In section B, the key switches to d-minor, but an alternation of dominant and tonic chords is characteristic of the harmonic progressions as well. The final chord of the antecedent phrase is preceded by a diminished seventh chord (indicated as VIIº in the example), but this chord may be considered simply a variation of the dominant or, perhaps better said, an alteration and intensification of the dominant harmony.

Example 4:  El Apronte, Section B, Antecedent Phrase

Section C shows the same picture of a clear tonal focus, here again in D-major. The antecedent phrase is once again an alternation of dominant and tonic chords.

Example 5:  El Apronte, Section C, Antecedent Phrase

In summary, the antecedent phrases of the three sections can be described as a series of dominant and tonic harmonies in their respective key, D-major or D-minor. From the outset, every section establishes a clear focus on its tonic, be it D-major or D-minor.

3.2 The Consequent Phrases


While an alternation of dominant and tonic chords is an unequivocal indicator of a key, it does not, strictly speaking, establish a key. For this, a cadence is needed, and a cadence usually involves at least one other harmony besides the tonic and dominant: the subdominant. Moreover, cadences serve a double purpose: they not only establish a key, they also mark the end of phrases. It comes as no a surprise, then, to find cadences in the consequent phrases of El Apronte, particularly in the second motives at the end of each section.

Section A, for example, ends with a textbook example of a cadence in a major key. Whereas the first motive of the consequent phrase is a repetition of the antecedent phrase, the second motif introduces a new harmony, the subdominant (indicated as IV in the example) and thus initiates the final cadence of the section.

Example 6:  El Apronte, Section A, Consequent Phrase

All harmonies before this cadence were either the tonic or the dominant. The appearance of the subdominant at this point is significant, not only because it is a new harmony, but also because it is a model for the following section. Sections B and C also feature completely new harmonies in places corresponding to Section A. However, they are at the same time examples of harmonic chromaticism and will be discussed below.

3.3 Section A: Melodic Chromaticism


Our previous assertion that the formal structure of El Apronte consists of three sections of 16 measures length each is not quite correct. The first section is actually preceded by an introduction of three measures. This introduction is a distinct segment since its melodic content (a simple descending chromatic scale) has nothing in common with the melodies of the proper section. The composer indicated, however, that it be repeated with every repetition of the section and, thus, it should be considered a part of section A.

Example 7:  El Apronte, Section A, Introduction

The introduction does not affect, however, the tonality of the section. We have noted above that a chromatic scale is neutral with respect to major and minor tonalities since it consists entirely of half-tone steps. This becomes evident in the introduction. Its opening chord is a dominant, and the proper section A starts on this harmony as well. Two measures of the chromatic scale do not change the harmony: since all steps are semitones, no reference to any other harmony is made. The chromatic scale iin this case mere “filler material”, as it were.

Illustration 1:  El Apronte, Section A, Introduction

While the introduction has no influence on the unfolding harmony, it is significant in respect to the musical form. It is an attention-grabbing moment at the beginning of the piece, as well as with every repetition as it signals audibly the recapitulation of section A. Yet, we believe, it is not just simply an embellishment to make the piece sound engaging, it is also an allusion to the instances of harmonic chromaticism in sections B and C.


3.4 Sections B and C: Harmonic Chromaticism


Instances of melodic chromaticism can be found in sections B and C as well; however, they are not as prominent and extensive as the introduction to section A. Sections B and C show instead conspicuous examples of harmonic chromaticism.

Section B is set in D-minor, in contrast to the D-major key of the sections surrounding it. The change of key is a simple switch from one key to the other, a fact that is noteworthy by itself. There is no harmonic preparation or transition: section A ends in D-major and section B begins in D-minor. The change back to D-major in section C is carried out just as perfunctory.

It was mentioned above that the phrase structure of the sections is very regular: 16 measures divided into two antecedent and consequent phrases of eight measures which, in turn, can be divided into motifs of four measures. Within each section, the first motif of a consequent phrase is repeated as the first motif of the consequent phrase. (Section C diverges slightly from this model, as we shall see.) The second motif of the consequent phrases, however, differs markedly from the antecedent phrase: it brings about the final cadence of the section and introduces a new harmony that has not been heard before.

In section A, it was the subdominant (IV, a G-major chord) that initiated a standard major-key cadence. In section B, however, which is set in D-minor, we encounter neither the major nor minor form of the subdominant (a G-major or g-minor chord, respectively) but an E-flat-major chord instead (indicated as N in the following example).



Example 8:  El Apronte, Section B, Consequent Phrase

An E-flat-major chord does not naturally appear in D-minor. It can only be created by chromatically lowering the second scale degree from E to E-flat. Hence, it represents a “chromatic alteration” or harmonic chromaticism. In the context of a cadence on D, an E-flat-major chord is, however, not an uncommon occurrence in D-minor (or D-major, for that manner). It is called a “Neapolitan” chord in music theory and signifies “a major chord built on the chromatically lowered second scale degree in the functional context of a subdominant”. In the preceding example, the “Neapolitan” initiates the final cadence of section B, just as the subdominant did in section A.

The consequent phrase of section C shows analogous chord progression. However, it occurs two measures earlier within the first motif. Here we find another chord that is not natural to the key and can only be obtained through chromatic alteration. This time it is a B-flat-major chord (indicated as N/V in the following example).


Example 8:  El Apronte, Section c, Consequent Phrase


In contrast to the “Neapolitan” progression in section B, there exists no term in music theory to signify the B-flat-major chord in this context. Yet, the analogy between the two progressions cannot be overlooked: the B-flat-major chord resolves to the dominant a half tone lower, just as the “Neapolitan” chord resolves to the tonic a half step lower. Hence, one could describe this B-major-chord as a “Neapolitan chord of the dominant” (hence the symbol N/V).

4. Conclusion


As in our previous harmonic analyses of tango, we have encountered a short piece of entertainment music that demonstrates a surprising complexity in its composition. From a harmonic point of view, the material that we have uncovered is not innovative. It belongs to the common harmonic language of Western music. However, the way it was applied is remarkable. Firpo created a small musical jewel that is extremely well thought out and highly structured. This is a kind of composition that one would expect in serious rather than dance music.

From its beginnings, tango was marketed as a kind of urban folk music, created by people with little or no musical training. Composers like Firpo and those we looked at in our preceding analyses (Arturo de Bassi, Ángel Villoldo, Eduardo Arolas, but the same it true for many other tango composers) bespeak a different picture. An analysis of their compositions shows that they understood what their colleagues of serious music were doing and applied it in their own work.

Example 8:  El ApronteRecorded 1926 by the Orquesta Roberto Firpo.



© 2018 Wolfgang Freis