Tuesday, December 12, 2017

Eine kurze Tango-Harmonielehre, Teil III

Eduardo Arolas
Eduardo Arolas

1. Einleitung


1.1 Die Moll-Tonarten


Zuvor untersuchten wir zwei fundamentale Aspekte der Tonalität: die Beziehungen der Dominante und Subdominante zur Tonika. Wir haben gesehen, wie die Dominant- und Subdominant-Funktionen angewendet wurden, um eine Tonart aufzubauen, und als musikalischer Kontrast eingesetzt wurden, um eine Komposition interessanter zu gestalten. Der Einfachheit halber wurden nur Stücke in Dur-Tonarten besprochen. Es gibt jedoch noch eine andere Tonartengattung, die für den Tango von besonderer Bedeutung ist: die Moll-Tonarten.

Dur- und Moll-Tonarten unterscheiden sich durch verschiedenartige Tonleitern, d.h., durch eine voneinander abweichende Verteilung der Halb- und Ganztonschritte. Daraus ergeben sich zwangsläufig auch andere Harmonien. Der Akkord auf der Tonika z.B. entspricht der Bezeichnung der Tonart und ist entweder Dur oder Moll.

Alle Dur- und Moll-Tonleitern bestehen aus fünf Ganz- und zwei Halbtonschritten. In der Dur-Tonleiter befinden sich die Halbtonschritte zwischen der dritten und vierten, beziehungsweise der siebten und achten Stufe. (In den folgenden Beispielen sind die Halbtonschritte durch Bindungsbögen über den betreffenden Noten angezeigt. Der Tonika-Akkord erklingt am Ende jedes Beispiels.) Die Reihenfolge der Ganz- und Halbtonschritte bleibt bei auf- und absteigender Bewegung die gleiche.







In der (natürlichen) Moll-Tonleiter befinden sich die Halbtonschritte zwischen der zweiten und dritten, beziehungsweise der sechsten und siebten Stufe.





Die Lage des ersten Halbtonschrittes bestimmt den Dur- oder Moll-Charakter des Tonika-Akkordes. Liegt der Halbton zwischen der dritten und vierten Stufe der Dur-Tonleiter, so wird der Tonika-Akkord zwangsläufig zum Dur-Akkord. Dementsprechend bewirkt die Moll-Tonleiter mit ihrem ersten Halbtonschritt zwischen der zweiten und dritten Stufe einen Moll-Akkord auf der Tonika.

Es ist allerdings eine Eigenart der Moll-Tonleiter, dass sie selten in ihrer natürlichen Form gebraucht wird. Aus melodischen und harmonischen Gründen werden die sechste und siebente Stufe bei aufsteigender Bewegung um einen Halbton erhöht, und dann in absteigender Bewegung wieder erniedrigt. Diese Art der Tonleiter wird als „melodische Moll-Tonleiter“ bezeichnet.





Das Beispiel veranschaulicht, dass die harmonischen Möglichkeiten einer Moll-Tonart größer sind, als die einer Dur-Tonart. In Dur sind z.B. die Subdominante und Dominante immer Dur-Akkorde. In Moll können sie aber als Dur- oder Moll-Akkorde erscheinen, je nachdem, ob sie in einem melodisch auf- oder absteigendem Zusammenhang stehen.


1.2 Parallele Dur- und Moll-Tonarten


Dur- und Moll-Tonarten mit den gleichen Vorzeichen werden als Paralleltonarten bezeichnet. Ihre Verwandtschaft ist offensichtlich: beide Tonarten haben die Akkorde der natürlichen Tonleiter gemeinsam. Jede Paralleltonart hat aber ihre eigene Subdominante und Dominante und ist daher eine eigenständige Tonarten. Das folgende Beispiel gibt die Tonleiterstufen der Paralleltonarten F-Dur und D-Moll wieder. Die Tonika-Stufen sind in Kästchen eingefasst; Subdominante und Dominante werden durch eckige Klammern über oder unter den Stufenziffern angezeigt.

Tonleiterstufen der Paralleltonarten D-Moll und F-Dur
Tonleiterstufen der Paralleltonarten D-Moll und F-Dur

Das Beispiel verdeutlicht, dass Paralleltonarten sich ähnlich sind und sich eine Anzahl des Klangmaterials (Akkorde) teilen. Andererseits sind sie eigenständige Strukturen, denn die Akkorde haben eine andere Funktion in Bezug auf die Tonika. Die Dominante der Moll-Tonart (d: V im Beispiel) kann in der parallelen Dur-Tonart (F: III im Beispiel) nur eine Nebendominante sein. Die Wechselbeziehung zwischen Tonika und Dominante ist festgelegt und spezifisch für eine Tonart. (Nebendominanten wurden in Eine kleine Tango-Harmonielehre, II besprochen.)



Unsere vorangegangen Abhandlungen über Harmonie in Tango-Musik zeigten, dass Komponisten Dominant- und Subdominant-Tonarten als Kontrast zur Haupttonart einsetzten. Dadurch wurde die formale Struktur des Stückes unterstrichen und das klangliche Erlebnis bereichert. In diesen Fällen waren sowohl die Tonika als auch die Kontrasttonarten in Dur. Moll-Tonarten können natürlich auch für solche Kompositionsstrukturierung eingesetzt werden. In der Tat war es sogar eine gebräuchlicher Methode als Tonarten der gleichen Gattung miteinander zu kontrastieren.

Der Grund für diese Bevorzugung liegt vermutlich darin, dass der Kontrast zwischen Dur und Moll einerseits auffälliger ist, und andererseits die Harmonien reichhaltiger und ausdrucksvoller werden. Zudem bot sich der klangliche Unterschied eines heiteren Durs und düsteren Molls dazu an, die melancholische Stimmung vieler Tangotexte auszudrücken.

2. Arolas, “El Tigre del Bandoneón”


Obwohl so manchem Tangotänzer heute der Name Eduardo Arolas unbekannt ist, würden viele eine gute Anzahl seiner Kompositionen wiedererkennen. Es gibt keine Milonga, auf der man nicht Tangos wie „Comme il faut“, „Derecho viejo“, „Retintín“, „La Guitarrita“ oder eine andere der vielen Kompositionen Arolas zu hören bekommt.

Arolas war ein Bandoneon-Spieler und Komponist, der unter seinen Kollegen hohes Ansehen genoss. Er wurde 1892 in Buenos Aires geboren und verstarb im noch jungen Alter von 32 Jahren in Paris. Es gibt daher von Arolas und seinem Orchester relativ wenige Schallplatten und die wenigen, die uns erhalten blieben, sind primitive Aufnahmen mit schlechter Klangqualität.

Sein erstes Instrument war die Gitarre, die er in den Cafés seiner Heimatstadt spielte,. Er wechselte aber bald zum Bandoneon. Um 1909, als er seinen ersten Tango komponierte („Noche de garufa“), konnte er noch keine Noten lesen, und seine Freunde mussten ihm bei der Niederschrift helfen. 1911 trat er aber in ein Konservatorium ein und studierte dort für drei Jahre Musik. Das Studium schlug sich deutlich in seinen Kompositionen nieder. Seine Stücke—darunter auch Cardos—zeugen von einem experimentierfreudigen Komponisten mit guten Kenntnissen der Musiktheorie.

3. Cardos


Cardos ist einer von Arolas weniger bekannten Tangos. Uns sind zwei Aufnahmen bekannt, von denen eine, die wundervolle Version des Orquesta Típica Victor, unten als Beispiel angeführt wird. Da sich im Stück keine Spuren des Habanera-Rhythmus finden, ist anzunehmen, dass Cardos eine der späteren Kompositionen Arolas aus den 20er Jahren ist.

Wie die meisten instrumentalen Tangos aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wurde Cardos in einer dreisätzigen Liedform komponiert. Die Struktur ist äußerst regelmäßig: jeder Satz (hiernach A, B, beziehungsweise C) besteht aus 16 Takten. Jeder Satz ist wiederum in einen Vorder- und Nachsatz von je 8 Takten aufgeteilt.

Diese Aufteilung setzt sich auch in den kleineren Bestandteilen fort: die acht-taktigen Vorder- und Nachsätze bestehen aus zwei vier-taktigen Perioden, und die Perioden ihrerseits aus zwei zwei-taktigen Motiven. Jede Periode endet mit einer Kadenz, von denen die, die am Ende der Nachsätze stehen, stärker sind.

Entsprechend der Vorzeichen und Schlussakkorde sind die Sätze A und B in D-Moll. In beiden Fällen geht dem Schlussakkord eine starke Kadenz voraus, die die Tonalität klar im D-Moll verankert. Satz C zeigt die gleichen Vorzeichen wie die anderen beiden Sätzen, endet aber mit einem F-Dur-Akkord, ebenfalls nach einer starken Kadenz. Dieser Satz steht also in F-Dur, der Paralleltonart zu D-Moll.

Wenn das Stück mit all seinen Wiederholungen gespielt wird (so wie in der Aufnahme des Orquesta Típica Victor, siehe unten), ergibt sich die folgende tonale Anordnung der Sätze:


Der formale Plan und tonale Zusammenhang ist durchaus konventionell. Satz C steht in einer anderen Tonart und wird durch die Wiederholungen von den anderen Sätzen umrahmt. Als ganzes gesehen beginnt und endet das Stück in D-Moll und wendet sich zur Abwechslung in der Mitte der kontrastierenden Tonart zu, der Paralleltonart F-Dur.



Wir haben oben festgestellt, dass es eine Eigenschaft der Paralleltonarten ist, sich mehrere Akkorde zu teilen. Es ist daher einfach, die Harmonie von einer Tonart in die Paralleltonart zu lenken. Das heißt, es ist nur ein kleiner Schritt, der vielleicht kaum bemerkt wird. Wenn aber die Abgrenzung zwischen parallelen Dur- und Molltonarten schwach ist, dann gibt es auch Raum für Zweideutigkeit. Es ist genau diese  Zweideutigkeit, die Arolas in Cardos in den Vordergrund stellt und sein Stück interessant macht. Im Gegensatz zu dem ziemlich konventionellen formal Aufbau des Stückes ist die Entwicklung der Harmonie innerhalb der Sätze viel verwickelter und faszinierender.

3.1 Satz A


Wir haben festgestellt, dass die formale Gliederung von Cardos sehr regelmäßig ist. Jeder Satz besteht aus 16 Takten, welche sich wiederum in acht-taktigen Vorder- und Nachsätze aufteilen, usw.

Der Vordersatz des Satzes A veranschaulicht die Aufteilung in vier-taktige Perioden besonders deutlich, da die erste und die zweite Perioden identisch sind. Takte 5 bis 8 sind eine Wiederholung der Takte 1 bis 4.

Cardos, Section A, Antecedent Phrase
Cardos, Satz A, Vordersatz

Der Nachsatz imitiert die Melodien des Vordersatzes mit unterschiedlichen Harmonien und ohne Wiederholung. Die Gliederung in vier-taktige Perioden ist dennoch beibehalten.

Cardos, Satz A, Nachsatz
Cardos, Satz A, Nachsatz




Cardos, Satz A

In Hinblick auf die Tonalität unterscheiden sich der Vorder- und Nachsatz maßgeblich. Wenn man den Vordersatz für sich allein betrachtet, so ist es nicht offensichtlich, in welcher Tonart er entworfen wurde. Die beiden (identischen) Perioden setzen sich aus zwei einfachen Motiven zusammen: einem F-Dur-Akkord, einem D-Moll-Akkord und deren Dominant-Akkorde. Der harmonische Ablauf kann als F-Dur genauso wie als D-Moll ausgelegt werden. Ist der Vordersatz in F-Dur, dann beginnt er auf der Tonika (I)--ein gängiger Ansatz. Ist er in D-Moll, dann endet der Vordersatz auf der Dominante (V)—ein konventioneller Abschluss. Beide Interpretationen sind plausible, aber die Tonalität des Vordersatzes bleibt deshalb zweideutig.

Das folgende Beispiel (die Musik wurde zu einer einfachen Akkordfolge reduziert) skizziert eine harmonische Analyse in D-Moll sowie F-Dur.

Cardos, Section A, Antecedent Phrase, harmonic reduction
Cardos, Satz A, Vordersatz, Harmonie-Reduktion
Im Nachsatz wird der tonale Zusammenhang unmissverständlich hergestellt. Beide Perioden enden mit einer Dominant-Tonika-Kadenz in D-Moll (V-I, siehe Takte 3-4 sowie 7-8 ).

Cardos, Section A, Consequent Phrase, harmonic reduction
Cardos, Satz A, Nachsatz, Harmonie-Reduktion
Zusammenfassend läßt sich sagen, dass der Vordersatz tonal mehrdeutig ist und D-Moll als Tonart erst im Nachsatz festgelegt wird.


Cardos, Satz A, Harmonie-Reduktion

3.2 Satz B


Ein auffallendes Merkmal des Satzes A war die exakte Wiederholung der ersten Periode im Vordersatz. Ein ähnlicher Entwurf findet sich im Satz B, in dem die Wiederholung allerdings den ganzen Vorder- und Nachsatz einbindet. Darüber hinaus sind die Motive in einer anderen Form der Wiederholung angeordnet, nämlich als Sequenz. Alle zwei-taktigen Motive ähneln sich; sie werden aber nicht exakt wiederholt, sondern abwärts auf eine andere Tonleiterstufe verschoben.

Cardos, Section B, Antecedent Phrase
Cardos, Satz B, Vordersatz
Der Nachsatz wiederholt den Vordersatz fast vollständig und ist nur am Ende melodisch verändert, um die Kadenz zu verdeutlichen.

Cardos, Section B, Consequent Phrase
Cardos, Satz B, Nachsatz



Cardos, Satz B

Analog zum Satz A findet sich auch in diesem Satz eine tonal mehrdeutige Passage. Die erste Periode im Vorder- und Nachsatz läßt sich nicht eindeutig einer Tonart zuschreiben.


Cardos, Satz B, Vordersatz, Harmonie-Reduktion
Cardos, Satz B, Vordersatz, Harmonie-Reduktion


Die erste Periode (Takte 1-4, zwei Motive der Kadenz) besteht aus einer harmonischen Progression (D-g-C-F), in der jeder Akkord eine Quinte (5 Tonleiterstufen) unter dem vorhergehenden liegt. Die Progression ähnelt so einer Folge von Nebendominanten, in der der vorhergehende Akkord im nachfolgenden aufgelöst wird. Da es sich um eine Serie von Dominanten handelt, fehlt ein direkter Bezug auf eine Tonika. Die Sequenz ist daher zweideutig und könnte als F-Dur oder D-Moll gedeutet werden. Erst in der zweiten Periode (Takte 5-8) wird Tonart durch eine starke Kadenz auf D-Moll festgelegt (Takte 6-8).

Die Sätze A und B stimmen in ihrer Tonart überein. Sie sind beide in D-Moll, aber die Tonart wird nicht am Anfang, sondern erst später nach einer tonal ambivalenten Passage eindeutig festgelegt.




Cardos, Satz B, Harmonie-Reduktion


3.3 Satz C


Satz C setzt das Modell der Wiederholungen wie in den vorangegangenen Sätzen fort. Die beiden Motive der ersten Periode (Takte 1-2, sowie 3-4) wurden als Sequenz gestaltet.

Cardos, Section C, Antecedent Phrase
Cardos, Satz C, Vordersatz

Wie in Satz B wiederholt der Nach- den Vordersatz fast vollständig. Nur am Ende findet sich eine melodische Variation zur Verdeutlichung der Kadenz.
Cardos, Section C, Consequent Phrase
Cardos, Satz C, Nachsatz



Cardos, Satz C

Satz C unterscheidet sich von A und B insofern, als die Tonalität früher und deutlicher festgelegt ist. Das ergibt sich einerseits aus der strukturell einfacheren Dur-Tonart (F), andererseits aber auch daraus, dass man die beiden Perioden des Vorder- und Nachsatzes als erweiterte Kadenzen in F-Dur auslegen kann.
Cardos, Section C, Antecedent Phrase, Harmonic Reduction
Cardos, Satz C, Vordersatz, Harmonie-Reduktion

Die erste Periode (Takte 1-4) beginnt auf der Tonika (I), und führt dann über die Dominante (V) zu D-Moll (VI, Takt 4). Die Progression I-V-VI (Dominant-Kadenz mit Auflösung zur Paralleltonart anstelle der Tonika) wird „Trugschluss“ genannt und gehört zu den Standardformeln der Harmonielehre.

Die zweite Periode (Takte 5-8) wiederholt eine harmonische Kadenz aus dem zweiten Satz, nämlich die harmonische Sequenz der Nebendominanten D-g-C-F. Im Satz B erschien diese Akkordfolge in der ersten Periode. Hier wurde sie in die zweite Periode versetzt. Die Analogie geht weiter: die erste Periode im Satz C endet mit einem Trugschluss in D-Moll. Satz B schließt in der zweiten Periode mit eine D-Moll-Kadenz. Der Komponist rekapituliert also im Satz C die Harmonien aus Satz B, überkreuzt aber die Reihenfolge der beiden Perioden.





Cardos, Satz C, Harmonie-Reduktion


4. Résumé

Unsere Analyse deutet an, dass die Entfaltung der Tonalität in Cardos sorgfältig entworfen wurde. Sätze A und B wurden in D-Moll gesetzt, während Satz C in der Varianttonart F-Dur erscheint. Im Vergleich zum klaren F-Dur in Satz C ist der harmonische Ablauf in den vorangehenden Sätzen komplexer. Eine eindeutige Festlegung der D-Moll-Tonart erfolgt nach Passagen, die tonal mehrdeutig sind. Satz C ist dagegen von Anfang bis Ende eindeutig in F-Dur, und damit stellt das Trio einen tonalen Gegensatz zu den anderen beiden Sätzen dar.

Arolas' Cardos ist eine faszinierende Komposition, die durch eine Bescheidenheit der Mittel überrascht. Der Komponist entwarf ein Stück mit einer Handvoll melodischer und harmonischer Ideen und entwickelte sie mit großer Ausdruckskraft zu einem eindrucksvollen Musikstück. Cardos ist das Werk eines erfahrenen Komponisten, der sein Stück mit Umsicht und Überlegung ausarbeitete. Nichts erscheint dem Zufall überlassen. Arolas Ruhm als Bandoneonist ist legendär, aber eine Einschätzung als Komponist steht noch aus. Soviel deutet Cardos an: Er war ein ernsthafter Komponist, der durchaus ernst zu nehmen ist.





Eduardo Arolas: Cardos, Orquesta Típica Victor


© 2017 Wolfgang Freis

Sunday, December 10, 2017

A Brief Harmony of Tango, Part III

Eduardo Arolas
Eduardo Arolas

1. Introduction


1.1 Minor Keys


Heretofore, we have explored two fundamental aspects of tonality: the relationships of the dominant  and subdominant to the tonic. We have seen how dominant and subdominant functions were employed to establish a tonality and to provide a musical contrast to the tonic in order to make a composition more interesting. For reasons of simplicity, so far we discussed pieces set in major keys. However, there exists another kind of tonality that is particularly important to tango: the minor keys.

Major and minor keys are distinguished by different types of scales, that is, the distribution of whole and half tone steps varies. As a consequence, the harmonies are diverse as well. The chord built on the tonic, for example, corresponds to the designation of the key and is either major or minor.

All major and minor scales consists of five whole tone and two half tone steps. In a major scale, the half-tone steps are located between third and fourth as well as between the seventh and eighth scale degree. (In the following examples, half tone steps are indicated by curved brackets above the respective notes. The tonic chord is played at the end of each example.) The sequence of half and whole tone steps in a major scale remains the same in ascending and descending motion.





In a (natural) minor scale, the half-tone steps are located between the second and third as well as sixth and seventh scale degrees.



It is the location of the first half-tone step that renders the tonic chord major or minor. Being located between the third and fourth scale degrees in the major scale, the tonic chord is necessarily a major chord. Correspondingly, since the first half-tone step is located between the second and third scale degrees in a minor scale, the tonic chord will be a minor one.

It is a particularity of the minor scale, however, that it is rarely used in its natural state. For melodic and harmonic reasons, the sixth and seventh degree are raised by a half step in ascending melodic motion, and lowered again in descending motion. This kind of scale is commonly called the “melodic minor scale”.



It becomes apparent from the example that the harmonic possibilities of a minor key are greater than those of a major one. For example: in a major key, the subdominant and dominant are always major chords. In a minor key, however, they can appear as major or minor chords, depending in what scalar context they occur (that is, ascending or descending melodic motion).


1.2 Relative Major-Minor Keys


Major and minor keys that share the same key signature are called relative keys. Their relationship is obvious: the chords built with the natural scales are common to both keys. Yet, tonic, subdominant and dominant are different in each key and hence their tonality is distinct. The following example shows the scale degrees of the relative keys F-major and d-minor. The tonic degree is indicated by square boxes, the subdominant and dominant by brackets above or below the degree numerals, respectively.

Relative major and minor keys: scales.
Relative major and minor keys: scales.

The example illustrates that relative keys are similar inasmuch as they share a common body of sound material, that is, the chords. On the other hand, they are distinct entities because the chords function differently in relationship to the respective tonic. For example, the dominant of the minor key (d: V in the example) can only be a secondary dominant in the major key (F: III in the example). The interrelation between tonic and dominant is fixed and particular to just one key. (Secondary dominants were discussed in A Brief Harmony of Tango, II.)





We have seen in our previous discussions of harmony in tango music that composers used the dominant and subdominant keys as a musical contrast to the tonic key. It was done in order to emphasize the formal structure of a piece and to make it sound more interesting. Both the tonic and the contrasted tonality were major keys in these cases. One will also find major and minor keys used in such fashion. This was, in fact, a method used by composers more frequently than setting up a contrast between keys of the same kind.

The reason for this preference seems to be that a contrast between major and minor keys is more perceptible on the one hand and, on the other, the harmonies become richer and more expressive through minor keys. In addition, the different sound quality of a cheerful major and somber minor key lent itself especially well to express the melancholy mood of many tango song texts.


2. Arolas, “El Tigre del Bandoneón”


Many tango dancers today may not be familiar with the name Eduardo Arolas, but undoubtedly they will recognize a good number of his compositions. There is no milonga where one will not hear tangos like “Comme il faut”, “Derecho viejo”, “Retintín”, “La guitarrita”, or any other of Arolas' many compositions.

Arolas was highly respected by his peers both as a bandoneonist and composer. Born in 1892 in Buenos Aires, he died at the young age of 32 in Paris. Consequently, there exist comparatively few recordings of Arolas and his orchestras, and those that are extant are primitive audio recordings of poor quality—hence his inconspicuous fame today.

His first instrument was the guitar, which he played in the cafés of his hometown, but he soon switched to the bandoneon. When he composed his first tango, “Noche de garufa”, in about 1909 he was still musically illiterate and his friends had to write down the music for him. In 1911, however, he entered a conservatory and studied music for three years. The knowledge he gained in music theory greatly influenced his music. His pieces—and Cardos among them—attest a composer with a solid understanding of music theory and an alacrity for experimentation.

3. “Cardos”


A biographer of Arolas counted Cardos among the composer's “unknown” pieces. We have encountered only two recordings of it, one of them being the superb version by the Orquesta Típica Victor given below as an example. Showing no traces of the habanera rhythm, the piece appears to be a late composition by Arolas, having been composed most likely in the 1920s.

Like most instrumental tangos of the first quarter of the 20th century, Cardos is a three-part composition. Its structure is very regular: each of the three sections (referred to hereafter as A, B, and C, respectively) is 16 measures long. In turn, each of the sections is divided into antecedent and subsequent phrases of 8 measures.

This division continues on even smaller levels: each eight-measure phrase breaks down into two periods of four measures which are again divided into motifs of two measures length. The two-measure motifs are the smallest melodic units that express a musical idea. Each four-measure period ends with some kind of cadence; those occurring at the end of the consequent phrases are emphasized and articulated stronger.

Sections A and B are written in d-minor, as is indicated by the key signatures and final chords. In both cases, the final chord is preceded by a strong cadence that anchors the tonality firmly in d-minor. Section C, however, which shares the same key signature, ends on an F-major chord. This final chord is also preceded by a strong cadence and thus this section is written in F-major, which is the relative major key to d-minor.

If the piece is performed with all its repetitions (see the video with the performance of the Orquesta Típica Victor below), the tonal structure unfolds as follows:


The formal layout and the tonal relationships between the sections are quite conventional. Apart from being set in a different key, section C, the trio, is surrounded by the other section through repetitions. Looking at the piece as a whole, it begins and ends in d-minor but turns to a contrasting key (for musical variety) in the middle. This contrasting key is not the dominant or subdominant; in this case it is the relative key F-major.

We have stated above that it is a characteristic of relative major and minor keys to have several chords in common. As a consequence, it is easy to move harmonically from one relative key to the other. That is to say, it is but a small degree of change that may hardly be noted. Yet, if the demarcation between relative major and minor keys is weak, then there is room for ambiguity. This ambiguity is exactly what Arolas brings forward to make his piece interesting. Unlike the straightforward, rather conventional large-scale layout of the piece, the harmonic development within each section is much more involved and engaging.

3.1 Section A


It was observed that the formal division of Cardos is very regular. Each section consists of sixteen measures that, in turn, are divided into two phrases of eight measures length, and so forth.

The antecedent phrase of section A demonstrates the division into four-measure periods most clearly since the second period is identical to the first; measures 5 to 8 are simply a repetition of measures 1 to 4.

Cardos, Section A, Antecedent Phrase
Cardos, Section A, Antecedent Phrase

The second phrase echos the melodies of the first one with different harmonies and without repetition. The division into four-measure periods is nevertheless maintained.

Cardos, Section A, Subsequent Phrase
Cardos, Section A, Subsequent Phrase


Cardos, Section A

In terms of tonality, the two phrases of the section differ significantly. Looking at the antecedent phrase by itself, it is not clear in which key it is written. The two four-measure periods (which are identical) consist of two simple motifs built on an F-major and d-minor chord, respectively, and their dominants. The harmonies can be interpreted either as being in d-minor or F-major. If it is in F-major, then the phrase starts on the tonic (I), which is common way to start a piece. If it is in d-minor, then the antecedent phrase ends on the dominant (V), which is a typical way to end an antecedent phrase. Hence, the tonality in this phrase is left ambiguous.

The following example (the music being reduced to chord progressions) shows the harmonic analysis in both d-minor and F-major.

Cardos, Section A, Antecedent Phrase, harmonic reduction
Cardos, Section A, Antecedent Phrase, harmonic reduction
In the consequent phrase, however, the tonality becomes unambiguous. Both periods end with a dominant cadence on d-minor (V-I, see measures 3-4 and 7-8, respectively).

Cardos, Section A, Consequent Phrase, harmonic reduction
Cardos, Section A, Consequent Phrase, harmonic reduction
In summary, the section starts with an antecedent phrase that is tonally ambiguous, whereas the consequent phrase is firmly establishes d-minor as the key.


Cardos, Section A, harmonic reduction

3.2 Section B


It was a striking feature of section A that the antecedent phrase consisted of two periods of which the second was an exact repetition of the first. A similar scheme can be found in section B. Here, however, the repetition involves the complete phrases. Moreover, the motifs are involved in another kind of repetition: a sequence. All two-measure motifs are similar; yet, they are not literal repetitions, but are shifted down to a different scale degree.

Cardos, Section B, Antecedent Phrase
Cardos, Section B, Antecedent Phrase
The consequent phrase repeats the preceding one almost exactly and only changes melodically at the end to emphasize the cadence.

Cardos, Section B, Consequent Phrase
Cardos, Section B, Consequent Phrase

The first period (measures 1 to 4, two motifs of the sequence) contains a harmonic progression (D-g-C-F) where each chord is a fifth lower than the preceding one. Hence, this progression resembles a series of secondary dominants, where the preceding chord resolves to the following one. And, since it is a series of dominant progressions, there is no clearly defined tonic. Therefore, this sequence could equally well be interpreted as being in d-minor or F-major. It is only in the second period (measures 8 to 5) where the key is established as d-minor through a strong cadence (measures 6 to 8).

Both sections A and B are harmonically congruent, then. Both are set in d-minor, but a clear articulation of the key takes place only after passages that are tonally ambivalent.


Cardos, Section B, harmonic reduction


3.3 Section C



Section C continues the pattern of repetitions set up previously. The two motifs of the first period (measures 1-2 and 3-4, respectively) are arranged as a sequence.

Cardos, Section C, Antecedent Phrase
Cardos, Section C, Antecedent Phrase

The consequent phrase, as in section B, repeats the antecedent one almost completely and only introduces some variation at the end in order to emphasize the cadence.

Cardos, Section C, Consequent Phrase
Cardos, Section C, Consequent Phrase


Cardos, Section C, harmonic reduction

Harmonically, section C differs from the others inasmuch as it is less ambivalent about its key. This is largely a consequence of being set in a major key (F), which is more homogenous than a minor key. Another reason is that one may consider both periods as extended cadences in F-major.

Cardos, Section C, Antecedent Phrase, Harmonic Reduction
Cardos, Section C, Antecedent Phrase, Harmonic Reduction

Starting out on the tonic, the first period (measures 1-4) returns to d-minor, however, by introducing a “deceptive cadence” in measure 4. Deceptive cadences are a common feature in major-minor tonality. The term describes a situation in which a regular dominant cadence does not resolve to the tonic (V-I) as expected but to the relative minor (V-VI).

The second period (measures 5-8) reintroduces a harmonic progression that we have encountered already in section B: it is the harmonic sequence of secondary dominants, D-g-C-F. In section B, it appeared in the first period of each phrase. Here, in section C, it appears in the second period. The correspondence goes further: the first period in section C ended with a deceptive cadence on d-minor. In section B it was the second period that ended with a cadence on d-minor. In short, we find that the composer recapitulated the harmonic progressions of section B in section C by swapping four-measure periods.



Cardos, Section C, Harmonic Reduction


4. Conclusion

Our analysis suggests that the tonal structure of Cardos has been carefully planned. Sections A and B are set in d-minor, whereas section C is set in the relative key, F-major. Sections A and B are tonally more involved in comparison to the clearly defined section C. The d-minor key is made explicit only after moving through harmonic progressions that are tonally ambivalent. Section C, by contrast, is unequivocally set in C-major from the outset. Thus, the tonal structure of section C, the trio, provides a polarity to the preceding sections.

Arolas' Cardos is a fascinating composition that surprises through its economy of means. The composer created a piece in which a few melodic and harmonic ideas are developed with great expressiveness. Cardos is the work of an experienced composer who planned his piece with care and consideration. Nothing in this piece appears by chance but has its proper place and function.

Arolas' fame as a bandoneonist is legendary but an estimation of his work as a composer is still lacking. Cardos shows one thing very clearly: he was a serious composer who should be taken serious.



Eduardo Arolas: Cardos, Orquesta Típica Victor


© 2017 Wolfgang Freis

Saturday, November 4, 2017

Tango Compadrito – Von der Theaterbühne ins Wohnzimmer




Der argentinische Sänger und Textdichter Juan Carlos Marambio Catán (1895-1973) schildert in seiner Autobiographie seine ersten Begegnungen mit dem Tango. Sie erfolgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als er noch keine 10 Jahre alt war. Marambio Catán wurde 1895 in Bahía Blanca geboren. Im Alter von fünf Jahren verstarb seine Mutter, und sein Vater schickte ihn nach Buenos Aires in die Obhut seinen Onkels David Marambio Catán, eines hochrangigen Offiziers. Dort ging Marambio Catán zum ersten Mal ins Theater, genauer gesagt, ins Teatro Apolo. Marambio Catán schrieb:
Ich hatte einen Onkel, einen Bruder meiner Mutter, der in der Corrientes Straße neben dem Apolo Theater wohnte. Sie brachten mich dort hin, um einige Tage bei ihm und seiner Frau (María Gatti, Tochter eines stämmigen Geschäftsmannes, der ein großes Geschäft gegenüber des Theaters besaß) zu verbringen. Man vertraute mich einer Angestellten an, die mich ins Apolo mitnahm, um die sainetes zu sehen (d.h., sie schmuggelte mich halbwegs hinein, denn es war nicht üblich, dass sich Kinder solche Schauspiele ansahen). Damals—als ich die Musik, die witzigen und gewagten Texte, die die Sänger vortrugen, hörte—entwickelte sich meine Liebe, meine glühende Berufung für den Gesang von Buenos Aires...

Musik und Inszenierung beeindruckten Marambio Catán so sehr, dass er die Lieder lernte und zu Hause zum großen Vergnügen seines Onkels aufführte:

Oberst Gramajo und seine Frau Misia Arminda kamen gelegentlich zu Besuch zu meinem Onkel. Er war mit meinem Onkel für die Militärkompanie des Präsidenten Roca verantwortlich. Für diese Ereignisse wurde ein großzügig ausgestatteter Tisch vorbereitet, denn beide verfügten über einen außergewöhnlichen Appetit, über den damals ständig Witze und äußerst amüsante Kommentare in der Presse gemacht wurden. Nach dem Essen wurde über alles Mögliche geredet, und wenn die Begeisterung der Tischgenossen über den Funken eines guten Weines und die Genugtuung über ein gutes Gericht nachließen, fragte mich mein Onkel liebevoll mit einer überzeugenden Geste: „Lass uns sehen, Juan Carlitos, putz Dich mal als compadrito heraus und sing etwas für Gramajo.“ Ich ließ mich nicht zweimal bitten und rannte ins Haus, um mich vorzubereiten. Wenn ich wiederkam, trug ich einen Schlapphut, ein Tuch um den Hals und begann meinen Auftritt mit dem Gang eines Halunken, den man umgangssprachlich „Eierschritt“ [pisahuevos] nennt, auf Grund der schwankenden Weise, in der die Füße über den Boden gleiten. Dazu trug ich riesige Schulterkissen und gab einen großspurigen Blick zum Besten. Auf die Rolle so eingespielt legte ich los: gestikulierend und mit ein paar Tanzschritten sang ich mit voller Stimme
Qué calá, calá
qué calamidá
calaté el funyi
calaté el funyi
hasta la mitá.
(Auszug aus dem Tango Qué calamidad von Bernardino Teres und Pascual Contursi)

Die Aufführung endete mit schallendem Gelächter, nachdem der Onkel den jungen Sänger gefragt hatte, welcher politischen Partei er angehörte. Juan Carlitos antwortete: „der resolut-radikalen “, einer Partei in der Opposition zur Regierungspartei, die die anwesenden Offiziere unterstützten.


Es war das Ensemble von Pablo Podestá und seiner erweiterten Familie, das Marambio Catán im Apolo Theater so beeindruckt hatte. Die Podestá begannen als Zirkusartisten, führten aber auch Pantomimen mit Handlungen aus der erzählerischen Gaucho-Dichtung auf. 1892 wurde „El año 1892“, der erste sainete (Schwank, Burleske) criollo des Argentinischen Dramatikers Ezequiel Soria in Buenos Aires von einer spanischen Theatergruppe aufgeführt. Es war das erste Theaterstück, in dem Personen aus dem einheimischen Milieu dargestellt wurden, und es wurde begeistert vom Publikum aufgenommen. Als sich das teatro criollo in ein selbstständiges Genre entwickelte, wechselten die Podestá von der Manege auf die Bühne und gehörten bald zu den wichtigsten Vertretern des neuen argentinischen Theaterstils. Das teatro criollo bot Stücke mit Handlungen dar, die in den Wohnvierteln der unteren Gesellschaftsschichten von Buenos Aires spielten. Das war auch das Milieu, das mit dem Tango verknüpft war. Mit der wachsenden Anerkennung des teatro criollo erzielte auch der Tango große Popularität mit der breiten Öffentlichkeit von Buenos Aires.


Marambio Catán lernte den Tango durch Theaterschauspiele kennen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er sich kostümierte und eine Rolle spielte, um einen Tango zu singen. Der compadrito, den man ihn aufforderte darzustellen, ist die kennzeichnende Figur des criollo aus der unteren Gesellschaftsschicht, d.h., des in Argentinien geborenen Einwohners der Vororte von Buenos Aires. (Andere Erscheinungsformen des compadrito criollo sind der malevo [Gauner, Krimineller] und guapo [Beau, Zuhälter].) Die Figur des compadrito trat um die Wende des 20. Jahrhunderts in Erscheinung. Sie ist nicht nur im teatro criollo anzutreffen, sondern auch in Literatur und graphischen Darstellungen und wurde später in Filmen verewigt.


Marambio Catáns Auswahl des Kostüms und der Darstellungsweise gehören zu den Eigenarten des compadrito criollo: ein Schlapphut und Halstuch. Dazu gehören auch Halbstiefel mit hohen Absätzen, die einen eigentümlichen Gang bewirkten. Bestimmt hatte er Schauspieler gesehen, die sich dementsprechend kostümiert hatten. Als Kind einer gut-situierten Offiziersfamilie wird er nicht viel Gelegenheit gehabt haben, die Kleiderordnung und das Verhalten der vorstädtischen Ganoven und Eckensteher zu studieren. Auch hätte die Familie seinen Auftritt wohl nicht so geschätzt, wenn es sich dabei nicht um das Nachspielen einer bekannten Theaterrolle gehandelt hätte.


Einer der Schauspieler, den Marambio Catán gesehen haben könnte, war Arturo de Nava, eine bekannter Sänger, der in den Inszenierungen der Podestá als payador und Tangotänzer auftrat. Es gibt auch Photographien aus dem Jahr 1903 (also z.Zt. als Marambio Catán bei seinem Onkel in Buenos Aires lebte), in denen de Nava als Tangotänzer zu sehen ist.

Arturo de Nava dancing tango.


Die Kleidung der männlichen Tänzer ist typisch für den compadrito: Schlapphut, Halstuch und Stiefel mit hohen Absätzen. Man kann daher annehmen, dass de Nava im Bühnenkostüm für die Photos posierte.


Die Kleidungsattribute des compadrito änderten sich wenig in den darauffolgenden Jahrzehnten. Sie wurden Teil der Ikonographie des Einwohners der Vororte von Buenos Aires. Eine Erzählung—veröffentlicht 1906 im Wochenmagazin Caras y Caretas—schrieb der Erscheinung zweier compadritos folgendes zu:

 „pomadisiere Mähne, rotes Halstuch, tailliertes Jackett, französische Hosen, Halbstiefel mit hohen Absätzen, und ein langer Fingernagel am kleinen Finger 'um die Schuppen zu kratzen'“.
Two compadritos at an inn.

Aus "Entre gauchos...", Caras y Caretas, No. 421, 1906: Die zwei compadritos sitzen links.


Der Zeichner gewährte den compadritos noch einen chambergo, einen Schlapphut. Im Vergleich zu den oben angeführten Photos von Arturo de Nava scheint die Bekleidung in diesem Beispiel „eleganter“ zu sein, ist aber im Wesentlichen die gleiche—nur mit „tailliertem“ Jackett, “französischen“ Hosen und „Halbstiefeln“ mit hohem Absatz. Eine übereinstimmende Garderobe finden wir auch in einer Karikatur aus dem Jahre 1912 wieder:

 „Die Psychologie des Grammophons“

Und während man den akrobatischen Walzer aus der „Lustigen Witwe“ in den Tänzen der Vororte verlangt, sind die schicken Mädchen in den Salons ganz verrückt nach dem Tango unserer compadritos.


Die Original-Karikatur veranschaulicht in acht Bildern, welchen Einfluss die Musik einer Gesellschaftsklasse auf eine andere ausüben kann. Dieser Austausch von Musik zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen wurde durch das Grammophone und die Schallplatte ermöglicht. Das obige Beispiel zeigt was passieren könnte, wenn compadritos aus den Vororten (links) in ihrem Stil—mit „corte y quebrada“—zu einem Walzer aus Franz Lehars „Lustiger Witwe“ tanzen; oder wenn die Oberschicht (rechts) Tango tanzt. Die Verschiedenheit der Gesellschaftsklassen zeigt sich wieder in der Kleidungsordnung: Schlapphut, Halstuch und Halbstiefel mit hohen Absätzen unterscheiden den compadrito vom Stadtbewohner (ohne Hut, Kragen und Fliege, Halbschuhe statt Stiefel).


Karikatur eines compadrito, 1930

Gehen auf Criollo



Bei seinen Auftritt hatte Marambio Catán auch einen speziellen Gang aufgeführt, den er pisahuevos, den er “Eierschritt” nannte. Dieser Gang steht direkt mit dem Tango in Verbindung. In einem Artikel in Caras y Caretas aus dem Jahre 1899 ändert ein guapo seine Gangart, sobald er Tangomusik hört:

Lief er eine Straße entlang, so bereitete ihm die verführerische Milonga-Musik der Drehorgeln ein wollüstiges Kitzeln in den Fesseln. Wenn er um eine Straßenecke bog, schob er das Bein um die Ecke herum, als wäre es der gewellte Rocksaum der china, und ging mit den Schritten eines baile con corte weiter, die Arme angehoben, den Kopf voll mit Vorstellungen des Bordells und lüsternen Gefühlen, die sein ganzes Rückgrat hinunterliefen.
Compadrito from "Plétora Mortífera", Caras y Caretas No. 63, 1899

Aus "Plétora Mortífera", Caras y Caretas No. 63, 1899


Sargento Pita (1903)der Verfasser des Artikels, in dem die Photos von Arturo de Nava erschienen (siehe oben), schrieb den eigenartigen Gang der compadritos ihrem Schuhwerk, den Stiefel mit hohen Absätzen, zu:
Die [compadritos] von Alto und Balvanera sind verschwunden: mit ihren ländlichen Hosen; dem Poncho über der Schulter; auf den Lippen freche Unverschämtheit, die untrennbare Begleiterin des heimtückischen Dolches und der Stöckelschuhe, die den Schritt behinderten und ein feminines Schwingen der das Gleichgewicht suchenden Hüften erzwangen!

Es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass der compadrito-Gang auch nur ein Bühnen-Requisit war—so wie der Schlapphut und die Stiefel mit den hohen Absätzen. Der Journalist Juan José de Soiza Reilly beschrieb die erste Aufführung eines erfolgreichen sainete criollo von Ezequiel Soria, „Justicia criolla“, im Jahre 1897. Nach de Soiza Reilly war es Soria, der dem spanischen Schauspieler Enrique Gil den echten Schritt eines compadrito beibrachte:

Ein paar Stunden vor der Premiere, auf der Bühne zwischen den Vorhängen, brachte Soria selbst [Enrique] Gil die richtige Art auf criollo zu gehen bei: überheblich, die Arme angehoben, ganz in der Art wie zur Zeit der langen Mähne und des spitzen Absatzes.

—„Ja. Ja, jetzt versteh ich.“ sagte der große Schauspieler.

Kurz bevor der Vorhang aufging bemerkte der Impresario Larco plötzlich, dass Gil ein Seil auf dem Boden ausgestreckt hatte und darauf wie ein Hochseilartist entlanglief.

—„Was machst Du, Enrique?“


—„Ich lerne criollo zu gehen!“




Schlapphut, Halstuch, ein schiebender Gang mit angehobene Armen, Tango tanzen: Es zeigt sich, dass das Bild des compadrito auf der Theaterbühne entworfen wurde. Und mit dem Erfolg des argentinischen teatro criollo fand die Musik des compadrito—Tango—Aufnahme und Zustimmung. Ein breites Publikum in Buenos Aires machte sich die Musik zu eigen. Das Bild des Tango tanzenden compadritos gehörte nicht mehr der Bühne allein, sondern wurde schnell ein Bestandteil der Populärkultur. Und als solcher wird es auch heute noch anerkannt.



Libertad Lamarque tanzt La Morocha mit einem compadrito.


© 2017 Wolfgang Freis