Tango karikiert
von José-María Salaverría
veröffentlicht in Caras
y Caretas, Buenos Aires, 31. 1. 1914
Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass sich Paris in einem vom Tangismus durchtränktem und gesättigtem Zustand befindet. Von weitem erschien es mir, dass es in dieser Sache des Tangos eine gewisse Mystifizierung und eine besondere journalistischen Vernebelung geben müsste. Aber ich bin durch diese Stadt, die so oft „die Stadt der Lichter“ genannt wird, gelaufen, und alle Zweifel oder jedweder Argwohn sind verflogen.
Tango-Postkarte aus Paris, um 1913 |
Tango in Zeitungsreportagen, Tango in wissenschaftlichen Mitteilungen, Tango im Theater, Tango in Schaufenstern, auf Plakaten, auf Postkarten. Es blieb daher nichts weiter übrig, als sich zu vergewissern. Und tatsächlich, eines schönen Nachmittags fand ich mich der Mode entsprechend zur Teestunde im Tanzlokal „Olympia“, inmitten des Boulevard, ein.
Ich durchschritt den Eingang nicht ohne eine gewisse Spannung. Was für ein glänzendes und nie gehörtes Schauspiel würde ich zu sehen bekommen? … Die lange Vorhalle ist durchlaufen, hier ist der Saal.
„Tango Tee“, Zeichnung von B. de Monvel |
Es ist ein Saal wie viele
andere: schön ausgeschmückt, voll von Licht und Leuten. Das
Publikum setzt sich aufs Geratewohl, in der Mitte einen Raum
freilassend, in dem sich die Tänzer bewegen. Zwei Orchester, die
sich auf der einen und anderen Seite des Eingangs befinden, spielen
abwechselnd. Und das Publikum trinkt dem Ritual gemäß Kräutertees,
isst Gebäck, schlürft Liköre und Erfrischungsgetränke. Und im
Publikum gibt es alles: neugierige Familien, ehrbare Männer, ein
schwarzer Nordamerikaner, viele zierliche Frauen.
Währenddessen nimmt die
Wechselfolge der zwei Orchester jede Sorte von Tanzmusik in Angriff.
Es ist eine choreographische Enzyklopädie, eine musikalische
Völkerkunde. Für jeden Geschmack und jede Nation gibt es etwas:
englischen, spanischen, balkanischen und Yankee-Tanz. Und, vor allem,
zeigt sich eine Begierde, dem Exotischen nachzujagen und die Eigenart
des Exotischen zu übertreiben.
Dieses Paar, das gerade
den Kreis betritt und über das gebohnerte Parkett gleitet, bemüht
sich, den Walzer britisch zu tanzen. Ihre Bewegungen sind aber so jäh
und übertrieben, dass das Publikum sofort weiß, dass man ihn im
ganzen Bund des englischen Imperiums nicht mit solcher
Hemmungslosigkeit tanzen muss. Das Fremdartigste wird gesucht: der
„turkey trot“, ganz verschroben; der „grizzly bear“, ein
richtiger Bärentanz; der „doppelte Boston“, der seine
ursprüngliche Eleganz verliert, um sich in eine Nachbildung von
Verrenkungen zu verwandeln. Danach tritt ein Yankee-Paar, ländlich
gekleidet mit breitkrempigem Hut, Patronengurt und Reitstiefeln,
hervor: das führt zu einer wilden Raserei. Nach erfüllter Aufgabe
ziehen sich die Tänzer aus der Arena zurück und überlassen anderen
Tänzern den Kampfplatz. Manchmal applaudiert das Publikum, manchmal
endet das Getanze in verdrießlicher Stille.
Die Hiawatha Stars tanzen einen „Grizzly Bear“ |
Plötzlich und endlich
spielt das Zigeunerorchester die wohl bekannten, unverwechselbaren
Noten. Es wird notwendig sein anzumerken, welchen abrupten Eindruck
ein Hauch dieser fernen Noten in Paris hervorruft. Der Tango erklingt
und man glaubt, zu träumen oder bezaubert zuzuhören. Warum? Man war
doch auf die Aufführung vorbereitet und wusste, dass der Tango eine
Realität war. Gerade um ihn zu hören, war man in den Salon
gekommen. Trotzdem bringt es das Gehör nicht fertig, sich damit
abzufinden. Man hat es nicht für möglich gehalten, dass diese
Musik—leidenschaftlich, überheblich, sinnlich, ausdrucksvoll,
zutiefst volkstümlich, ein wenig affektiert, inniglich
dramatisch—aus den Vororten von Buenos Aires oder den
Schallplatten, die in warmen Nächten im Hintergrund der
Familienhöfen erklingen, hervorgehen konnte.
Aber es gibt keinen
Zweifel: Der Tango fließt von den Geigen des Orchesters, fließt
meisterhaft, gemessen und makellos. Es ist ein Tango, den man schon
oft gehört hat, und an dessen Namen man sich nicht erinnern kann.
Wie heißt dieser Tango? Ich erinnere mich nicht. Vielleicht hat er
einen makkaronischen oder scherzhaften Titel. „Bewirf den Gringo
mit Schmalz“ (Echale manteca al gringo, Tango von Juan Carulo, siehe unten).
Oder er trägt als Untertitel eine gefühlvolle Redewendung: „Seufzer
aus meiner Heimat“. Es ist zweifelsfrei, dass der Tango, der
erklingt, aus dem Urwüchsigen kommt. Er erfüllt alle begehrten
Bedingungen. In manchen Takten ist er niedergeschlagen, später
erlangt er Kraft und liebevollen Ausdruck, dann trippelt er und
schwankt anmutig als wolle er zur Quebrada einladen. Und die Tänzer
erscheinen.
In diesem Moment fühlt
sich der Zuschauer zutiefst enttäuscht. Sind das Argentinier, die da
tanzen? Oder sind sie eher aus Batignolle, Marseille oder Barcelona?
Da ist das Yankee-Paar mit den Reitstiefeln und dem Patronengurt, das
den hyperbolischen Tango mit Kniebeugen und einigen abscheulichen
Einschnitten tanzt. Da ist der, der vorher einen Bärentanz aufführte
und der nun mit einer Art Kunstreiterin ganz zufrieden den Tango
tanzt. Da sind auch zwei Frauen, die tanzen ohne zu wissen, was sie
tanzen; die ein paar oberflächliche Unterrichtsstunden erhalten
haben und die das, was sie nicht kennen, erfinden. Von der ganzen
Schar ergibt sich, wie man vermuten kann, ein Hybridresultat: ein
Tango, der kein Tango ist; ein Tanz, der ausgesprochen hässlich und
vor allem reizlos wirkt und überhaupt keine Grazie aufweist. Wie
konnte all das Paris und
halb Europa so leidenschaftlich erregen? Kann es sein, dass man ihn
woanders besser tanzt, und dass sich im Olympia-Saal vor meinen Augen
nur die Geringfügigsten der Gattung versammelt haben?
Die Sache ist so: Ich, der
ich am wenigsten geeignet, der armseligste Tänzer, der geringste
Anhänger des Tangos bin, fühlte Empörung, Schmerz und Lust,
lauthals zu protestieren. Ich verspürte, angesichts dieser Karikatur
des Tangos, ein Verlangen, mich zu einem ergebenen Tangisten zu
bekehren. Ach, armer Tango, wie haben sie dich in Paris verfälscht
und so vollständig deines temperamentvollen Aromas, deiner ganz
eigenartigen und plebejischen Eleganz beraubt!
Anmerkungen
José-María Salaverría war ein spanischer Journalist und Schriftsteller. 1909-13 lebte er in Argentinien und arbeitete als Redakteur für das Magazin La Nación. Nach seiner Rückkehr nach Spanien betätigte er sich als Korrespondent für das argentinische Wochenmagazin Caras y Caretas.
Der Artikel über den
Tango in Paris erschien während das Tangofieber, das 1911 in der
französischen Hauptstadt begann und sich bis 1914 über ganz Europa
und Nordamerika ausbreitete. In Buenos Aires nahm man es mit
Verwunderung auf, dass der schlichte argentinische Tango in der
Weltmetropole für Mode und Kultur für so viel Aufsehen erregte.
Salaverrías Bericht sollte der Neugierde in Argentinien Genüge
leisten.
Salaverría war kein
Feuilletonist und, wie er selbst zugab, verstand er sich auch nicht
auf das Tanzen. Seine Kritik bewegt sich daher nur im Bereich des
Gebräuchlichen. Interessanter sind allerdings seine Bemerkungen zum
kulturellen Austausch mit der neuen Welt. Seine Feststellung, dass
„wir … ein wenig mehr Brüder“ geworden sind, da „wir uns so
sanftmütig einander imitieren“ klingt auch heute noch sehr modern
und zeigt, dass verbesserte Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien
die Weltkulturen schon vor 100 Jahren einander näher gebracht hatte.
So wie der Tango nach Paris kam, kehrte das, was sich in Paris daraus
entwickelte, zurück nach Buenos Aires. Die oben wiedergegebenen
Pariser Postkarten wurden mit Salaverrías Artikel in Caras y
Caretas abgedruckt. Mehr noch, der Erfolg des Tangos im Ausland
sorgte auch für ein größeres Interesse im Inland.
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