Thursday, March 2, 2017

Tango in Paris, 1914

Tango karikiert

von José-María Salaverría


veröffentlicht in Caras y Caretas, Buenos Aires, 31. 1. 1914



Tango-Postkarte aus Paris, um 1913
Es ist keine Übertreibung festzustellen, dass sich Paris in einem vom Tangismus durchtränktem und gesättigtem Zustand befindet. Von weitem erschien es mir, dass es in dieser Sache des Tangos eine gewisse Mystifizierung und eine besondere journalistischen Vernebelung geben müsste. Aber ich bin durch diese Stadt, die so oft „die Stadt der Lichter“ genannt wird, gelaufen, und alle Zweifel oder jedweder Argwohn sind verflogen.


Tango-Postkarte aus Paris, um 1913
Der Tango ist tatsächlich eine Realität in Paris, eine wachsende Realität, die Schranken durchbricht und schon London, Berlin, Milan und Madrid überflutet. Nichts kann ihm Einhalt gebären, ähnlich jenen schrecklichen Epidemien, die die Kontinente heimsuchten, oder, wenn es euch besser scheint, wie die unwiderstehliche Ansteckung durch die Mode der Kleidung oder des Denkens. Sollte es z.B. einem beglücktem Modeschöpfer in den Sinn kommen, Frauen zu veranlassen, eine Feder an ihrer Hüfte prangen zu lassen,so wäre es nutzlos, etwas dagegen zu setzen. In New York genauso wie in St. Petersburg: das Angeordnete wird befolgt werden. Und sollte es ein spitzfindiger Schriftsteller verstehen, eine mutige Theorie zu manipulieren, so besteht kein Zweifel daran, dass die Schreiberlinge und Intelligenzler in Wien oder Rio de Janeiro der Mode Folge leisten werden. Es ist ein Gesetz der Zeiten oder vielleicht eine zutreffende Veranschaulichung, dass die Grenzen fallen. Wir Menschen sind ein wenig mehr Brüder als zuvor. Der Beweis liegt darin, dass wir uns so sanftmütig einander imitieren.


Tango in Zeitungsreportagen, Tango in wissenschaftlichen Mitteilungen, Tango im Theater, Tango in Schaufenstern, auf Plakaten, auf Postkarten. Es blieb daher nichts weiter übrig, als sich zu vergewissern. Und tatsächlich, eines schönen Nachmittags fand ich mich der Mode entsprechend zur Teestunde im Tanzlokal „Olympia“, inmitten des Boulevard, ein.

Ich durchschritt den Eingang nicht ohne eine gewisse Spannung. Was für ein glänzendes und nie gehörtes Schauspiel würde ich zu sehen bekommen? … Die lange Vorhalle ist durchlaufen, hier ist der Saal.


„Tango Tee“, Zeichnung von B. de Monvel


Es ist ein Saal wie viele andere: schön ausgeschmückt, voll von Licht und Leuten. Das Publikum setzt sich aufs Geratewohl, in der Mitte einen Raum freilassend, in dem sich die Tänzer bewegen. Zwei Orchester, die sich auf der einen und anderen Seite des Eingangs befinden, spielen abwechselnd. Und das Publikum trinkt dem Ritual gemäß Kräutertees, isst Gebäck, schlürft Liköre und Erfrischungsgetränke. Und im Publikum gibt es alles: neugierige Familien, ehrbare Männer, ein schwarzer Nordamerikaner, viele zierliche Frauen.

Währenddessen nimmt die Wechselfolge der zwei Orchester jede Sorte von Tanzmusik in Angriff. Es ist eine choreographische Enzyklopädie, eine musikalische Völkerkunde. Für jeden Geschmack und jede Nation gibt es etwas: englischen, spanischen, balkanischen und Yankee-Tanz. Und, vor allem, zeigt sich eine Begierde, dem Exotischen nachzujagen und die Eigenart des Exotischen zu übertreiben.

Dieses Paar, das gerade den Kreis betritt und über das gebohnerte Parkett gleitet, bemüht sich, den Walzer britisch zu tanzen. Ihre Bewegungen sind aber so jäh und übertrieben, dass das Publikum sofort weiß, dass man ihn im ganzen Bund des englischen Imperiums nicht mit solcher Hemmungslosigkeit tanzen muss. Das Fremdartigste wird gesucht: der „turkey trot“, ganz verschroben; der „grizzly bear“, ein richtiger Bärentanz; der „doppelte Boston“, der seine ursprüngliche Eleganz verliert, um sich in eine Nachbildung von Verrenkungen zu verwandeln. Danach tritt ein Yankee-Paar, ländlich gekleidet mit breitkrempigem Hut, Patronengurt und Reitstiefeln, hervor: das führt zu einer wilden Raserei. Nach erfüllter Aufgabe ziehen sich die Tänzer aus der Arena zurück und überlassen anderen Tänzern den Kampfplatz. Manchmal applaudiert das Publikum, manchmal endet das Getanze in verdrießlicher Stille.

Die Hiawatha Stars tanzen einen „Grizzly Bear“

Plötzlich und endlich spielt das Zigeunerorchester die wohl bekannten, unverwechselbaren Noten. Es wird notwendig sein anzumerken, welchen abrupten Eindruck ein Hauch dieser fernen Noten in Paris hervorruft. Der Tango erklingt und man glaubt, zu träumen oder bezaubert zuzuhören. Warum? Man war doch auf die Aufführung vorbereitet und wusste, dass der Tango eine Realität war. Gerade um ihn zu hören, war man in den Salon gekommen. Trotzdem bringt es das Gehör nicht fertig, sich damit abzufinden. Man hat es nicht für möglich gehalten, dass diese Musik—leidenschaftlich, überheblich, sinnlich, ausdrucksvoll, zutiefst volkstümlich, ein wenig affektiert, inniglich dramatisch—aus den Vororten von Buenos Aires oder den Schallplatten, die in warmen Nächten im Hintergrund der Familienhöfen erklingen, hervorgehen konnte.

Aber es gibt keinen Zweifel: Der Tango fließt von den Geigen des Orchesters, fließt meisterhaft, gemessen und makellos. Es ist ein Tango, den man schon oft gehört hat, und an dessen Namen man sich nicht erinnern kann. Wie heißt dieser Tango? Ich erinnere mich nicht. Vielleicht hat er einen makkaronischen oder scherzhaften Titel. „Bewirf den Gringo mit Schmalz“ (Echale manteca al gringo, Tango von Juan Carulo, siehe unten). Oder er trägt als Untertitel eine gefühlvolle Redewendung: „Seufzer aus meiner Heimat“. Es ist zweifelsfrei, dass der Tango, der erklingt, aus dem Urwüchsigen kommt. Er erfüllt alle begehrten Bedingungen. In manchen Takten ist er niedergeschlagen, später erlangt er Kraft und liebevollen Ausdruck, dann trippelt er und schwankt anmutig als wolle er zur Quebrada einladen. Und die Tänzer erscheinen.


In diesem Moment fühlt sich der Zuschauer zutiefst enttäuscht. Sind das Argentinier, die da tanzen? Oder sind sie eher aus Batignolle, Marseille oder Barcelona? Da ist das Yankee-Paar mit den Reitstiefeln und dem Patronengurt, das den hyperbolischen Tango mit Kniebeugen und einigen abscheulichen Einschnitten tanzt. Da ist der, der vorher einen Bärentanz aufführte und der nun mit einer Art Kunstreiterin ganz zufrieden den Tango tanzt. Da sind auch zwei Frauen, die tanzen ohne zu wissen, was sie tanzen; die ein paar oberflächliche Unterrichtsstunden erhalten haben und die das, was sie nicht kennen, erfinden. Von der ganzen Schar ergibt sich, wie man vermuten kann, ein Hybridresultat: ein Tango, der kein Tango ist; ein Tanz, der ausgesprochen hässlich und vor allem reizlos wirkt und überhaupt keine Grazie aufweist. Wie konnte all das Paris und halb Europa so leidenschaftlich erregen? Kann es sein, dass man ihn woanders besser tanzt, und dass sich im Olympia-Saal vor meinen Augen nur die Geringfügigsten der Gattung versammelt haben?

Die Sache ist so: Ich, der ich am wenigsten geeignet, der armseligste Tänzer, der geringste Anhänger des Tangos bin, fühlte Empörung, Schmerz und Lust, lauthals zu protestieren. Ich verspürte, angesichts dieser Karikatur des Tangos, ein Verlangen, mich zu einem ergebenen Tangisten zu bekehren. Ach, armer Tango, wie haben sie dich in Paris verfälscht und so vollständig deines temperamentvollen Aromas, deiner ganz eigenartigen und plebejischen Eleganz beraubt!



Anmerkungen


José-María Salaverría war ein spanischer Journalist und Schriftsteller. 1909-13 lebte er in Argentinien und arbeitete als Redakteur für das Magazin La Nación. Nach seiner Rückkehr nach Spanien betätigte er sich als Korrespondent für das argentinische Wochenmagazin Caras y Caretas.


Der Artikel über den Tango in Paris erschien während das Tangofieber, das 1911 in der französischen Hauptstadt begann und sich bis 1914 über ganz Europa und Nordamerika ausbreitete. In Buenos Aires nahm man es mit Verwunderung auf, dass der schlichte argentinische Tango in der Weltmetropole für Mode und Kultur für so viel Aufsehen erregte. Salaverrías Bericht sollte der Neugierde in Argentinien Genüge leisten.



Salaverría war kein Feuilletonist und, wie er selbst zugab, verstand er sich auch nicht auf das Tanzen. Seine Kritik bewegt sich daher nur im Bereich des Gebräuchlichen. Interessanter sind allerdings seine Bemerkungen zum kulturellen Austausch mit der neuen Welt. Seine Feststellung, dass „wir … ein wenig mehr Brüder“ geworden sind, da „wir uns so sanftmütig einander imitieren“ klingt auch heute noch sehr modern und zeigt, dass verbesserte Verkehrsmittel und Kommunikationsmedien die Weltkulturen schon vor 100 Jahren einander näher gebracht hatte. So wie der Tango nach Paris kam, kehrte das, was sich in Paris daraus entwickelte, zurück nach Buenos Aires. Die oben wiedergegebenen Pariser Postkarten wurden mit Salaverrías Artikel in Caras y Caretas abgedruckt. Mehr noch, der Erfolg des Tangos im Ausland sorgte auch für ein größeres Interesse im Inland.


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