Wednesday, March 29, 2017

Warum werden die Argentinier so traurig, wenn sie tanzen?

Que tengas mucha suerte, que Dios no te abandone,

yo sé que a mí me espera la eterna soledad,

no tiembles en mis brazos, te ruego me perdones,

el tango ya termina, salgamos a llorar...


(Aus: Caras y caretas, Buenos Aires, 1935)


Ausländer, die sich zum ersten Mal in unserem Land aufhalten und irgendeine Festlichkeit besuchen, auf der getanzt wird, fragen unverzüglich: „Warum tanzen die Argentinier so traurig?“ Es ist eine akkurate Beobachtung: die Argentinier tanzen mit einer merkwürdigen Traurigkeit, ausgelöst vielleicht durch den schwermütigen und bedrückten Rhythmus des Tangos: ein Rhythmus, der jedem criollo im Blut steckt und der an die Oberfläche kommt, wenn ein Takt Musik sein Gehör durchdringt.

Ein Paar, das Tango tanzt, spricht nicht, lächelt nicht, verzieht keinen Gesichtsmuskel, und die Augen scheinen zu verlöschen, während klagende Akkorde den Tänzern schmerzhafte Verrenkungen abverlangen...

Diese Traurigkeit erlegen sie sich genauso beim verrücktesten amerikanischen Foxtrott auf, und nicht einmal der Schotis, der seinerzeit in Mode war, erreichte es, dass unsere Landsleute ihre angestammte Traurigkeit—die Traurigkeit der schwermütigen Gauchos—beiseite ließen... Diese Traurigkeit schwingt in allen ländlichen Liedern mit: in den Tristen, Vidalitas und Estilos, in der ganzen nationalen Musik; eine Traurigkeit, die zweifelsohne eine sehr große Schönheit besitzt, die aber ansteckt und besticht. Wenn die Folklore so traurig ist, wie sollten die Argentinier nicht mit Traurigkeit tanzen?

Der Geist des criollo ist von Schwere durchdrungen. Das erweist sich daran, dass in ernsthaften oder fröhlichen Kreisen, die denen sich Argentinier versammeln, es keinen Mittelgrund der Unterhaltung gibt. Entweder scheinen sie einer Totenwache beizuwohnen oder sie übertreiben es ins andere Extrem mit unverhältnismäßigen Ausschweifungen, „spielen sich vor“, dass sie sich unterhalten, wenn sie im tiefsten Herzen gegen die eigene Langeweile ankämpfen und so ein Spektakel veranstalten.


Tango von Argentiniern getanzt ist so etwas wie Traurigkeitsritus. Der gleiche Tango, von Ausländern getanzt, wird nicht so harmonisch, aber bewegend und heiter sein. Ein criollo Paar, das „aneinandergeklebt“ einen Tango tanzt, scheint zu vergessen, dass die Welt sich um sie herum dreht: sie ziehen sich zurück, sie geben sich hin, sie kommunizieren miteinander diesen Schmerz des nationalen Tanzes, der so eigentümlich durch La cumparsita oder Rodríguez Peña, schwebt. Ausländer, die die gleichen Tangos tanzen, ändern den Takt und Rhythmus... Vielleicht ist das der Unterschied, der die Argentinier traurig scheinen lässt, wenn sie tanzen...


Der Mann, der in einem Cabaret in Buenos Aires lachte
(Caras y caretas, 1928)



Übersetzung © 2017 Wolfgang Freis

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