In seiner Autobiographie
berichtet Julio De Caro über die Entdeckung eines genialen
Bandoneonisten. Im Jahre 1925 benötigte De Caro einen neuen Instrumentalisten, da
Luis Petrucelli das Orchester verlassen wollte. Zufällig hörte De
Caro einen jungen Musiker, der ihn so beeindruckte, dass er ihm
umgehend die Stelle des zweiten Bandoneonisten in seinem Orchester
anbot.
Luis Petrucelli |
Die Entscheidung war nicht
ganz unproblematisch. Der Musiker, der ersetzt werden sollte, war
kein unbeschriebenes Blatt, sondern ein bekannter und versierter
Bandoneonist. Für einen jungen Instrumentalisten mit wenig Erfahrung
war es eine schwere Aufgabe, sich in der Position des routinierten Profis zu behaupten.
Darüber hinaus spielte
einer der herausragendsten Instrumentalisten das erste Bandoneon in
De Caros Orchester: Pedro Maffia. Es verwundert nicht, dass Maffia
sich über De Caros Absicht, einen unbekannten und unerfahrenen
Bandoneonisten einzustellen, Sorgen machte, denn Maffias Ansehen hing
auch von der Qualität des Orchesters ab, mit dem er auftrat. Dem
jungen Musiker ging es nicht anders. Sich neben den großen Maffia zu
setzen hieß die Messlatte noch höher anzusetzen, als sie schon war.
(In einem späteren Interview gab er an, in der Nacht vor den ersten
Auftritt mit dem Orchester kein Auge zugetan zu haben.)
Es spricht für die
Sorgfalt und Voraussicht der Brüder De Caro, dass sie sich des
jungen Bandoneonisten besonders annahmen und ihn erst dem Orchester
präsentierten, als sie sicher waren, er würde sich dem Orchester
gewachsen zeigen. Dass ein neuer Kollege—noch dazu ein junger—in
einem Orchester mit offenen Armen aufgenommen wird, ist keineswegs
eine Selbstverständlichkeit. De Caros Bemerkung, dass Maffia den
Neuling kaum begrüßte und der Bassist LeopoldoThompson ihn erst
einmal von Kopf bis Fuß musterte, spricht Bände über die
Gepflogenheiten in Musikerkreisen. Als junger, noch recht
unerfahrener Musiker in ein eingespieltes Orchester einzutreten ist
eine anspruchsvolle Aufgabe—mehr noch, wenn man sich neben einem
der hervorragendsten Spieler seines Instruments behaupten muss.
Offensichtlich erkannte Julio De Caro das Talent des jungen Musikers.
Dass er und sein Bruder ihn sorgfältig auf die neue Aufgabe
vorbereiteten zeigt aber auch, dass sie die Musikermentalität gut
kannten und genügend Erfahrung besaßen, dieses neue Talent zu
fördern und sich zu erhalten.
Der
Bassist Leopoldo Thompson (hinten links) im Orchester Francisco
Canaro, 1916
|
( Aus: Julio De Caro, El Tango en mis Recuerdos)
Es fehlte nicht mehr viel,
dass der Vogue's Club bis zur Saison des nächsten Jahres (1925)
schließen würde, als Luis Petrucelli mir mitteilte, dass er nach
Mar del Plata gehen würde, um Arbeit und Sommerurlaub mit seiner
Verlobten zu verbinden. Ich versuchte ihn davon abzubringen, und als
er mir versprach, sich bei seiner Rückkehr wieder dem Orchester
anzuschließen, akzeptierte ich seinen Entschluss und fügte hinzu:
„Das Bandoneon, dass für Dich eintritt, wird ein Anwärter für
Deine Stelle sein. Also, lass uns Freunde bleiben, und wir werden
sehen, was die Zukunft bringt.“ Sofort konzentrierte ich mich auf
die Suche nach einem anderen Bandeonisten und fragte herum, wo ich
Enrique Pollet, von dem ich die besten professionellen Referenzen als
Instrumentalist erhalten hatte, finden könnte.
Man berichtete mir, dass
er mit dem Orchester von Roberto Goyneche in einem Café in Villa del
Parque auftrat, und es gingen Gerüchte um, dass sich das Ensemble
bald auflösen würde. Ich ging dort hin, um mir die Bandoneons
anzusehen. Pollet spielte sehr gut, aber der zweite Bandoneonist, den
ich nicht kannte, war ihm keineswegs unterlegen und hatte außerdem
ein gutes Gefühl für Interpretation.
Am Ende der Runde
entschloss ich mich für ihn anstatt Pollet. Ich fragte ihn nach
seinem Namen, und ob er mich kennen würde. „Ich heiße Pedro Blanco
und Sie, Julio, kenne ich schon seit einigen Jahren. Ich war damals
noch ein junger Kerl und konnte Ihnen in Montevideo mit Ihren
Partnern Minotto und Eustaquio [Laurenz] in dem Orchester zuhören. Sie erinnern sich doch an die Brüder Laurenz!? Das sind meine
Stiefbrüder.“
Pedro
Blanco Acosta, „Pedro B. Laurenz“
|
„Ja, jetzt kann ich es
richtig einordnen. Mehr denn je, da Sie von hier weggehen, möchte
ich Ihnen anbieten, Luis Petrucelli zu ersetzen und mit dem großen
Pedro Maffia zusammenzuspielen. Und um nicht mit der Tradition des
Familiennamens zu brechen, habe ich Sie schon beruflich umbenannt:
Pedro B. Laurenz.“
„Da ich hier heute Abend
fertig bin, wäre dieses Angebot für mich das Größte. Aber ich
glaube nicht, dass ich einer so großen Verantwortung gewachsen bin,
denn ich spiele erst seit kurzem öffentlich. Und in Ihrem Orchester
zu arbeiten, Maestro, und Petrucelli zu ersetzen, ist nicht einfach.“
Ich versuchte ihm,
Selbstvertrauen einzuflößen: „Überlassen Sie Ihre Befürchtungen
mir. Das Einzige, was ich von Ihnen verlange, ist, vor ihrem Debüt
mit mir und Francisco privat ernsthaft zu lernen. Also, morgen erwarte ich
Sie mit Ihrem Bandoneon bei meinem Bruder. Viel Glück und hören Sie
mir gut zu. Einverstanden?“
Da Petrucelli nicht
abreisen würde bevor eine Vertretung—in der Person von Laurenz war
sie schon gefunden—einsatzfähig war, widmete sich Letzterer ganz
und gar dem Üben, um seinen Eintritt ins Orchester bekanntzugegen, sobald er in hervorragender Verfassung und den anderen ebenbürtig
war.
Obwohl das an sich keine
Neuigkeit und allen Kollegen bekannt war, fragte mich Maffia
nachforschend, wer es denn sei. „Er ist ein großartiger Bursche,“
antwortete ich ihm. „Und obwohl er neu ist, bin ich mir sicher, er
wird Dir gefallen!“ Es beunruhigte ihn sehr und schien ihm fast
seiner professionellen Ehre zu spotten, dass jemand in seiner
Position seine Aufgabe mit einem Unbekannten teilen musste. So lagen
die Dinge..., aber das Schicksal wollte mir einen Pedro Laurenz
zutragen. Wenn ich es besonders hervorhebe, dann nur, weil meine
Entdeckung eine besondere künstlerische Bedeutung für mein Ensemble
hatte.
In der ersten Runde—ich
erinnere mich gut daran—ließ sich Maffia kaum dazu herab, Laurenz
zu grüßen, und [Leopoldo] „El Negro“ Thompson musterte ihn von
Kopf bis Fuß. Währenddessen schmunzelte Francisco, der seine Klasse
kannte, und überdachte was passieren würde, wenn dieser große
Lerner seinen „Pott“ aufmachte.
Die angesetzten Tangos
waren: „Todo corazón“, „Triste“, und Cobiáns „Los
dopados“ (heute „Los mareados“), Delfinos „Agua bendita“,
usw. Als Laurenz die ersten Takte spielte, konnte Maffia, der ihn aus
den Augenwinkeln beobachtete, seine Bewunderung nicht verbergen. Und
was sollte man sagen, als der Anfänger erst richtig loslegte, die
Arpeggios anschlug und wie ein Schatten an der ersten Stimme klebte.
Nachdem wir fertig waren, bedrängte Maffia mich mit überschäumender
Freude, um zu wissen, wo ich dieses „Genie“ gefunden hatte. So
erreichte Laurenz durch eigenen Verdienst mit einem Sprung eine
Stellung, die nur wenigen vorbehalten ist.
Laurenz spielte im De Caro Orchester bis 1932. Maffia wollte sein eigenes Ensemble gründen und verließ 1926 das Orchester. Er wurde durch Armando Blasco ersetzt, der zusammen mit Laurenz ein Duo bildete, “dass von sich reden machte” (De Caro). Das De Caro Orchester löste sich 1932 auf. De Caro stellte dann eine neue und größereGruppe mit vier statt zwei Bandoneons zusammen. Die Spieler waren: Carlos und Romualdo Marcucci, Gabriel Clausi und Félix Lispisker. Carlos Marcucci spielte das erste Bandoneon. Er trat auch als Konzertsolist auf und hielt seine Stelle im De Caro Orchester bis 1953.
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