Saturday, April 22, 2017

Der geniale Pedro Blanco


In seiner Autobiographie berichtet Julio De Caro über die Entdeckung eines genialen Bandoneonisten. Im Jahre 1925 benötigte De Caro einen neuen Instrumentalisten, da Luis Petrucelli das Orchester verlassen wollte. Zufällig hörte De Caro einen jungen Musiker, der ihn so beeindruckte, dass er ihm umgehend die Stelle des zweiten Bandoneonisten in seinem Orchester anbot.  

Foto des Bandoneonisten Luis Petrucelli
Luis Petrucelli

Die Entscheidung war nicht ganz unproblematisch. Der Musiker, der ersetzt werden sollte, war kein unbeschriebenes Blatt, sondern ein bekannter und versierter Bandoneonist. Für einen jungen Instrumentalisten mit wenig Erfahrung war es eine schwere Aufgabe, sich in der Position des routinierten Profis zu behaupten.

Darüber hinaus spielte einer der herausragendsten Instrumentalisten das erste Bandoneon in De Caros Orchester: Pedro Maffia. Es verwundert nicht, dass Maffia sich über De Caros Absicht, einen unbekannten und unerfahrenen Bandoneonisten einzustellen, Sorgen machte, denn Maffias Ansehen hing auch von der Qualität des Orchesters ab, mit dem er auftrat. Dem jungen Musiker ging es nicht anders. Sich neben den großen Maffia zu setzen hieß die Messlatte noch höher anzusetzen, als sie schon war. (In einem späteren Interview gab er an, in der Nacht vor den ersten Auftritt mit dem Orchester kein Auge zugetan zu haben.)

Foto von Pedro Maffia.
Pedro Maffia

Es spricht für die Sorgfalt und Voraussicht der Brüder De Caro, dass sie sich des jungen Bandoneonisten besonders annahmen und ihn erst dem Orchester präsentierten, als sie sicher waren, er würde sich dem Orchester gewachsen zeigen. Dass ein neuer Kollege—noch dazu ein junger—in einem Orchester mit offenen Armen aufgenommen wird, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. De Caros Bemerkung, dass Maffia den Neuling kaum begrüßte und der Bassist LeopoldoThompson ihn erst einmal von Kopf bis Fuß musterte, spricht Bände über die Gepflogenheiten in Musikerkreisen. Als junger, noch recht unerfahrener Musiker in ein eingespieltes Orchester einzutreten ist eine anspruchsvolle Aufgabe—mehr noch, wenn man sich neben einem der hervorragendsten Spieler seines Instruments behaupten muss. Offensichtlich erkannte Julio De Caro das Talent des jungen Musikers. Dass er und sein Bruder ihn sorgfältig auf die neue Aufgabe vorbereiteten zeigt aber auch, dass sie die Musikermentalität gut kannten und genügend Erfahrung besaßen, dieses neue Talent zu fördern und sich zu erhalten.

Orchester Francsico Canaro, 1916, mit dem Bassisten Leopoldo Thompson
Der Bassist Leopoldo Thompson (hinten links) im Orchester Francisco Canaro, 1916



( Aus: Julio De Caro, El Tango en mis Recuerdos)

Es fehlte nicht mehr viel, dass der Vogue's Club bis zur Saison des nächsten Jahres (1925) schließen würde, als Luis Petrucelli mir mitteilte, dass er nach Mar del Plata gehen würde, um Arbeit und Sommerurlaub mit seiner Verlobten zu verbinden. Ich versuchte ihn davon abzubringen, und als er mir versprach, sich bei seiner Rückkehr wieder dem Orchester anzuschließen, akzeptierte ich seinen Entschluss und fügte hinzu: „Das Bandoneon, dass für Dich eintritt, wird ein Anwärter für Deine Stelle sein. Also, lass uns Freunde bleiben, und wir werden sehen, was die Zukunft bringt.“ Sofort konzentrierte ich mich auf die Suche nach einem anderen Bandeonisten und fragte herum, wo ich Enrique Pollet, von dem ich die besten professionellen Referenzen als Instrumentalist erhalten hatte, finden könnte.

Man berichtete mir, dass er mit dem Orchester von Roberto Goyneche in einem Café in Villa del Parque auftrat, und es gingen Gerüchte um, dass sich das Ensemble bald auflösen würde. Ich ging dort hin, um mir die Bandoneons anzusehen. Pollet spielte sehr gut, aber der zweite Bandoneonist, den ich nicht kannte, war ihm keineswegs unterlegen und hatte außerdem ein gutes Gefühl für Interpretation.

Am Ende der Runde entschloss ich mich für ihn anstatt Pollet. Ich fragte ihn nach seinem Namen, und ob er mich kennen würde. „Ich heiße Pedro Blanco und Sie, Julio, kenne ich schon seit einigen Jahren. Ich war damals noch ein junger Kerl und konnte Ihnen in Montevideo mit Ihren Partnern Minotto und Eustaquio [Laurenz] in dem Orchester zuhören. Sie erinnern sich doch an die Brüder Laurenz!? Das sind meine Stiefbrüder.“

Foto von Pedro Blanco Acosta, genannt „Pedro B. Laurenz“
Pedro Blanco Acosta, „Pedro B. Laurenz“

„Ja, jetzt kann ich es richtig einordnen. Mehr denn je, da Sie von hier weggehen, möchte ich Ihnen anbieten, Luis Petrucelli zu ersetzen und mit dem großen Pedro Maffia zusammenzuspielen. Und um nicht mit der Tradition des Familiennamens zu brechen, habe ich Sie schon beruflich umbenannt: Pedro B. Laurenz.“

„Da ich hier heute Abend fertig bin, wäre dieses Angebot für mich das Größte. Aber ich glaube nicht, dass ich einer so großen Verantwortung gewachsen bin, denn ich spiele erst seit kurzem öffentlich. Und in Ihrem Orchester zu arbeiten, Maestro, und Petrucelli zu ersetzen, ist nicht einfach.“

Ich versuchte ihm, Selbstvertrauen einzuflößen: „Überlassen Sie Ihre Befürchtungen mir. Das Einzige, was ich von Ihnen verlange, ist, vor ihrem Debüt mit mir und Francisco privat ernsthaft zu lernen. Also, morgen erwarte ich Sie mit Ihrem Bandoneon bei meinem Bruder. Viel Glück und hören Sie mir gut zu. Einverstanden?“

Da Petrucelli nicht abreisen würde bevor eine Vertretung—in der Person von Laurenz war sie schon gefunden—einsatzfähig war, widmete sich Letzterer ganz und gar dem Üben, um seinen Eintritt ins Orchester bekanntzugegen, sobald er in hervorragender Verfassung und den anderen ebenbürtig war.

Obwohl das an sich keine Neuigkeit und allen Kollegen bekannt war, fragte mich Maffia nachforschend, wer es denn sei. „Er ist ein großartiger Bursche,“ antwortete ich ihm. „Und obwohl er neu ist, bin ich mir sicher, er wird Dir gefallen!“ Es beunruhigte ihn sehr und schien ihm fast seiner professionellen Ehre zu spotten, dass jemand in seiner Position seine Aufgabe mit einem Unbekannten teilen musste. So lagen die Dinge..., aber das Schicksal wollte mir einen Pedro Laurenz zutragen. Wenn ich es besonders hervorhebe, dann nur, weil meine Entdeckung eine besondere künstlerische Bedeutung für mein Ensemble hatte.

In der ersten Runde—ich erinnere mich gut daran—ließ sich Maffia kaum dazu herab, Laurenz zu grüßen, und [Leopoldo] „El Negro“ Thompson musterte ihn von Kopf bis Fuß. Währenddessen schmunzelte Francisco, der seine Klasse kannte, und überdachte was passieren würde, wenn dieser große Lerner seinen „Pott“ aufmachte.

Die angesetzten Tangos waren: „Todo corazón“, „Triste“, und Cobiáns „Los dopados“ (heute „Los mareados“), Delfinos „Agua bendita“, usw. Als Laurenz die ersten Takte spielte, konnte Maffia, der ihn aus den Augenwinkeln beobachtete, seine Bewunderung nicht verbergen. Und was sollte man sagen, als der Anfänger erst richtig loslegte, die Arpeggios anschlug und wie ein Schatten an der ersten Stimme klebte. Nachdem wir fertig waren, bedrängte Maffia mich mit überschäumender Freude, um zu wissen, wo ich dieses „Genie“ gefunden hatte. So erreichte Laurenz durch eigenen Verdienst mit einem Sprung eine Stellung, die nur wenigen vorbehalten ist.


Foto Orquesta Típica "Julio De Caro"


Laurenz spielte im De Caro Orchester bis 1932. Maffia wollte sein eigenes Ensemble gründen und verließ 1926 das Orchester. Er wurde durch Armando Blasco ersetzt, der zusammen mit Laurenz ein Duo bildete, “dass von sich reden machte” (De Caro). Das De Caro Orchester löste sich 1932 auf. De Caro stellte dann eine neue und größereGruppe mit vier statt zwei Bandoneons zusammen. Die Spieler waren: Carlos und Romualdo Marcucci, Gabriel Clausi und Félix Lispisker. Carlos Marcucci spielte das erste Bandoneon. Er trat auch als Konzertsolist auf und hielt seine Stelle im De Caro Orchester bis 1953.

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