(English version)
Die Entwicklung von
Eduardo Arolas' Una noche de garufa wurde mehrfach in der
Tango-Literatur beschrieben. Francisco Canaro berichtet in seiner
Autobiographie von einem Auftritt, der in einem Café in Buenos Aires
stattfand. Nach der Aufführung betrat eine Gruppe das Lokal, zu der
ein junger Mann mit einem Bandoneon gehörte. Canaro wurde
mitgeteilt, dass dieser junge Mann, Eduardo Arolas, einen Tango
komponiert hatte. Canaro bat ihn, das Stück vorzuspielen, und Arolas
kam der Bitte gerne nach. Er spielte Una noche de garufa,
seine erste Komposition. Arolas konnte damals noch keine Noten lesen,
weshalb Canaro ihm anbot, die Geigenstimme für ihn
niederzuschreiben.
Canaro entschloss sich,
Una noche de garufa in sein Repertoire aufzunehmen. Der Tango
fand großen Anklang beim Publikum. 1911 wurde ein Klavierauszug
veröffentlicht und zwei Jahre später nahm Arolas das Stück auf
Schallplatte auf. Una noche de garufa erschien
gleichzeitig mit dem Ausbruch des Tango-Fiebers in Europa und
Nordamerika und wurde auch schnell außerhalb Argentiniens bekannt.
Für
eine kritische Einschätzung von Arolas' Werk bildet Una
noche de garufa
einen interessanten Ausgangspunkt. Es ist nicht nur seine erste
Komposition, sondern entstand auch zu einer Zeit, als Arolas sich
noch nicht ernsthaft dem Studium der Musik zugewandt hatte. Es zeigt,
wie ein junger, aufstrebender Musiker einen Tango komponierte, ohne
sich ganz darüber klar zu sein, wie sich so ein Stück normalerweise
aufbaut. Es ist ein Beispiel für Komposition „nach Gefühl“.
1. Die formale Struktur eines instrumentalen Tangos
Als
Arolas Una noche de garufa komponierte, waren die meisten
Tangos Instrumentalstücke. Gewöhnlich bestanden sie aus drei Teilen
(hiernach „Sätze“ genannt und mit A, B oder C gekennzeichnet).
Der letzte Teil (C) wurde oft als „Trio“ betitelt. Jeder Satz
bestand normalerweise aus 16 Takten und war in zwei Phrasen
aufgeteilt: einem Vorder- und Nachsatz mit jeweils 8 Takten.
Das
Trio, Satz C, bedarf weiterer Erläuterung. Im Regelfall war so
gestaltet, dass es einen auffälligen Kontrast zu den anderen Sätzen
bildete. Der Unterschied konnte in der Melodie, dem Rhythmus oder der
Harmonie in Erscheinung treten. Darüber hinaus bildete das Trio
einen Knotenpunkt, nachdem ein oder beide der vorangegangenen Sätze
wiederholt wurden. Sequenzen wie AABBACCA oder AABBCCAB waren
typisch, aber die genaue Abspielfolge blieb variabel. Es gab keine
feste Regel, in welcher Reihenfolge die Sätze wiederholt werden
mussten. Letztlich fiel die Entscheidung dem Ausführenden zu. Eine
Wiederholung des ersten (A) oder der ersten beiden (AB) Sätze war
aber allgemein üblich und erwartet.
1.a Die tonale Struktur eines instrumentalen Tangos
Die
tonale Struktur eines instrumentalen Tangos verlief parallel zur
formalen Struktur. Zumindest einer der Sätze wurde in einer
kontrastierenden Tonart gesetzt. War die Haupttonart in Dur, so stand
ein Satz möglicherweise in der Tonart der Dominante oder
Subdominante. War die Haupttonart in Moll, wurde gegebenenfalls die
Durparallele oder -variante herangezogen.
Wie
bei den Wiederholungsschemen gab es keine festen Regeln, wie der
tonale Kontrast zu gestalten war, aber gewissen Konventionen waren
vorherrschend. Wiederholungsschemen und tonale Organisation stimmten
auch auf einer anderen Ebene überein: der Satz, der zum Abschluss
gespielt wurde, stand normalerweise in der Haupttonart des Stückes.
D.h., war Satz A in der Haupttonart gesetzt, so wäre ein
Wiederholungsschema ABACA standardgemäß. Stand Satz B in der
Hauptonart, so könnte das Wiederholungsschema ABCAB ausfallen.
Nochmals: es gab keine festen Regeln, aber Konventionen wurden
beachtet.
2. Arolas Una noche de garufa
2.a Die formale Struktur
Tangos
sind einfache musikalische Formen, die typischerweise aus zwei oder
drei sechszehn-taktigen Sätzen bestehen. Una noche de garufa
folgt diesem Modell allerdings nicht. Hier enthält jeder Satz eine
unterschiedliche Anzahl von Takten:
A:
8 Takte
B:
18 Takte
C:
16 Takte
Satz
C ist der einzige Satz, der der üblichen Struktur zu entsprechen
scheint. Satz B, der um zwei Takte länger ist, weicht vom
konventionellen Modell nur geringfügig ab. Wir werden unten sehen,
dass die zwei zusätzlichen Takte eine Konsequenz der besonderen
tonalen Entfaltung dieses Satzes sind.
Satz
A ist mit seinen nur 8 Takten allerdings auffallend anders. Wir
erwähnten oben, dass sechzehn-taktige Sätze sich normalerweise in
zwei acht-taktige Vorder- und Nachsätze aufteilen. Das läßt die
Vermutung aufkommen, dass Satz A verkürzt wurde und eines Nachsatzes
entbehrt. Das muss nicht unbedingt heißen, dass der Satz fehlerhaft
ist, aber es ist ungewöhnlich und beeinflusst die formale Symmetrie
des Stückes.
2.b Die tonale Struktur
Una
noche de garufa trägt die Vorzeichen von B-Dur. Satz A beginnt
in B-Dur mit der Tonika (im folgenden Beispiel mit der römischen
Ziffer I angezeigt) und endet mit einer Kadenz auf der Dominante (im
folgenden Beispiel als V angezeigt), einem F-Dur-Akkord.
Una
noche de garufa trägt die Vorzeichen von B-Dur. Satz A beginnt
in B-Dur mit der Tonika (im folgenden Beispiel mit der römischen
Ziffer I angezeigt) und endet mit einer Kadenz auf der Dominante (im
folgenden Beispiel als V angezeigt), einem F-Dur-Akkord.
Una noche de garufa, Satz A |
Wir
bemerkten oben, dass Satz A unvollständig zu sein scheint, da er nur
aus einem acht-taktigen Vordersatz ohne Nachsatz besteht. Diese
Auffassung wird durch die harmonische Wirkung bekräftigt. Der
Vordersatz endet auf der Dominante (V). Die Musiktheorie bezeichnet
eine solche Endung als „Halbschluss“. Es ist nicht ungewöhnlich,
dass ein Vordersatz mit einem Halbschluss endet, aber darauf folgt
normalerweise ein Nachsatz, der wieder zur Tonika zurückführt. Hier
wird diese Rückführung ausgelassen, und so hinterläßt Satz A
einen Eindruck der Unvollständigkeit.
Una noche de garufa, Satz A, Sexteto Carlos Di Sarli
Im
Satz B ist die übliche zweiteilige Aufteilung in acht-taktige
Vorder- und Nachsätze deutlich erkennbar. Es gibt allerdings eine
Besonderheit: zwischen dem Vorder- und Nachsatz (Takte 1 bis 8,
beziehungsweise 11-18 im folgenden Beispiel) sind zwei Takte
eingeschoben (Takte 9-10).
Die
harmonische Struktur des Satzes ist einfach. Der Vordersatz besteht
aus einer Serie sich abwechselnder F-Dur- und B-Dur-Akkorde, während
der Nachsatz eine Serie von D-Dur- und G-Moll-Akkorden aufweist. Die
eingeschobenen zwei Takte nehmen die Akkordfolge des Nachsatzes
vorweg.
Vorder-
und Nachsatz setzen sich aus einer Serie zweier Akkorde zusammen,
deren Grundtöne eine Quinte voneinander entfernt sind. Sie können
somit als Dominant-Tonika-Progressionen aufgefasst werden (im
folgenden Beispiel als V, beziehungsweise I angezeigt). Die Akkorde
des Vordersatzes sind in der Tat die Dominante und Tonika der
Haupttonart B-Dur. Auf Grund dieser Dominant-Tonika-Progression
erfolgt die Auflösung des (unvollständigen) Halbschlusses des
vorhergehenden Satzes hier im Vordersatz von Satz B.
Die
Dominant-Tonika-Progressionen des Nachsatzes von Satz B binden die
Akkorde D-Dur und G-Moll ein. Die Phrase endet auch in G-Moll, was
darauf schließen läßt, dass der Nachsatz nicht wie Satz A in
B-Dur, sondern G-Moll steht.
Hier
kommen die zwei zwischen Vorder- und Nachsatz eingeschobenen Takte
ins Spiel (Takte 9 und 10 im folgenden Beispiel). Wir haben bemerkt,
dass sie die Harmonien, die sich im Nachsatz entfalten, vorwegnehmen.
In diesen beiden Takten vollzieht sich also ein Wechsel von B-Dur
nach G-Moll. Die Musiktheorie nennt diesen Vorgang eine Modulation,
d.h., ein stufenweiser Wechsel von einer Tonart in eine andere.
Una noche de garufa, Satz B, Sexteto Carlos Di Sarli
Sätze
A und B stimmen in einem Punkt überein: beide beginnen in B-Dur,
enden aber nicht nicht auf diesem Akkord, sondern auf einer
verwandten Harmonie. Satz A endet mit einem Halbschluss auf der
Dominante, und Satz B moduliert nach G-Moll, der parallelen
Molltonart. Somit sind beide Sätze tonal nicht „geschlossen“,
sondern signalisieren Weiterführung.
Satz
C ist im Gegensatz zu den vorhergehenden Sätzen ein Beispiel von
Regelmäßigkeit. Er besteht aus 16 Takten, die in zwei acht-taktige
Vorder- und Nachsätze aufgegliedert sind. Beide Phrasen beginnen und
enden mit B-Dur-Harmonien und nähern sich nie anderen Tonarten als
der gegebenen Tonika. Satz ist daher tonal „geschlossen“.
Una noche de garufa, Satz C, Sexteto Carlos Di Sarli
3. Die Wiederholungen
Wir
wiesen oben darauf hin, dass eine dreiteilige Form, wie wir sie in
Una noche de garufa vorfinden, selten so wiedergegeben wurde,
dass man die Sätze einfach der Reihe nach durchspielte. Eine
Wiederholung war die Norm in der einen oder anderen Ausführung. Una
noche de garufa wurde oft auf Schallplatte eingespielt. Eine
Auswahl von Aufnahmen gibt einen Einblick in die Vielfalt der
Wiederholungsschemen.
Die
oben angeführte Liste ist keineswegs vollständig und wurde
willkürlich ausgewählt. Wiedergegeben sind 9 Aufnahmen, die über
einen Zeitraum von 40 Jahren eingespielt wurden. Die früheste läßt
Arolas selbst erklingen, die jüngste wurde von Francisco Canaro und
seinem Quinteto Pirincho aufgenommen.
Rechts
der Orchester ist die Reihenfolge angegeben, in der Sätze gespielt
und wiederholt wurden. Eduardo Arolas spielte z.B. die Sätze A bis C
in Reihenfolge und nahm dann Satz A wieder auf. Jeder Satz wurde
zweimal gespielt. Die Sequenz der ganzen Aufnahme lautet daher AA BB
CC AA.
Alle
Aufnahmen geben zuerst einen Durchgang der Sätze A bis C wieder.
Innerhalb dieses ersten Durchgangs wird Satz A immer wiederholt, aber
nicht alle Orchester wiederholen die Sätze B und C. Unter den 9
Aufnahmen finden sich drei Wiederholungsschemen, von denen AABC am
häufigsten auftritt.
Nach
dem ersten Durchgang fahren alle bis auf ein Orchester mit einem
zweiten Durchgang fort. Dieser Durchgang zeigt eine größere
Vielfalt von Wiederholungsschemen. Unter den neun Aufnahmen können
sechs verschieden Schemen ausgemacht werden. Das einfachste
Schema—gar keine Wiederholung—findet sich in der Aufnahme der
Rondalla del Gaucho Relámpago; Canaros Aufnahme, die noch einen
dritten Durchgang andeutet, weist das komplizierteste auf.
Aus
der Tabelle lassen sich zwei Rückschlüsse ziehen. Es ist auffällig,
dass nur zwei der neun Versionen (die von Adolfo Pérez und Ricardo
Tanturi) im Wiederholungsschema identisch sind. Obwohl man gewisse
Konventionen in allen Versionen wiedererkennen kann, scheint es den
Orchestern darauf angekommen zu sein, ihre eigene Version
einzuspielen. Alle Versionen beginnen mit Satz A, aber als Abschluss
konnte jeder der drei Sätze herangezogen werden. (Da die Auswahl der
Aufnahmen willkürlich vorgenommen wurde, gibt die Aufteilung kein
statistisch korrektes Bild wieder.)
Wir
wiesen oben darauf hin, dass eine dreiteilige Form, wie wir sie in
Una noche de garufa vorfinden, selten so wiedergegeben wurde,
dass man die Sätze einfach der Reihe nach durchspielte. Eine
Wiederholung war die Norm in der einen oder anderen Ausführung. Una
noche de garufa wurde oft auf Schallplatte eingespielt. Eine
Auswahl von Aufnahmen gibt einen Einblick in die Vielfalt der
Wiederholungsschemen.
Die
oben angeführte Liste ist keineswegs vollständig und wurde
willkürlich ausgewählt. Wiedergegeben sind 9 Aufnahmen, die über
einen Zeitraum von 40 Jahren eingespielt wurden. Die früheste läßt
Arolas selbst erklingen, die jüngste wurde von Francisco Canaro und
seinem Quinteto Pirincho aufgenommen.
Rechts
der Orchester ist die Reihenfolge angegeben, in der Sätze gespielt
und wiederholt wurden. Eduardo Arolas spielte z.B. die Sätze A bis C
in Reihenfolge und nahm dann Satz A wieder auf. Jeder Satz wurde
zweimal gespielt. Die Sequenz der ganzen Aufnahme lautet daher AA BB
CC AA.
Alle
Aufnahmen geben zuerst einen Durchgang der Sätze A bis C wieder.
Innerhalb dieses ersten Durchgangs wird Satz A immer wiederholt, aber
nicht alle Orchester wiederholen die Sätze B und C. Unter den 9
Aufnahmen finden sich drei Wiederholungsschemen, von denen AABC am
häufigsten auftritt.
Nach
dem ersten Durchgang fahren alle bis auf ein Orchester mit einem
zweiten Durchgang fort. Dieser Durchgang zeigt eine größere
Vielfalt von Wiederholungsschemen. Unter den neun Aufnahmen können
sechs verschieden Schemen ausgemacht werden. Das einfachste
Schema—gar keine Wiederholung—findet sich in der Aufnahme der
Rondalla del Gaucho Relámpago; Canaros Aufnahme, die noch einen
dritten Durchgang andeutet, weist das komplizierteste auf.
Aus
der Tabelle lassen sich zwei Rückschlüsse ziehen. Es ist auffällig,
dass nur zwei der neun Versionen (die von Adolfo Pérez und Ricardo
Tanturi) im Wiederholungsschema identisch sind. Obwohl man gewisse
Konventionen in allen Versionen wiedererkennen kann, scheint es den
Orchestern darauf angekommen zu sein, ihre eigene Version
einzuspielen. Alle Versionen beginnen mit Satz A, aber als Abschluss
konnte jeder der drei Sätze herangezogen werden. (Da die Auswahl der
Aufnahmen willkürlich vorgenommen wurde, gibt die Aufteilung kein
statistisch korrektes Bild wieder.)
4. Die Endungen
Fragt
man Musiker, wie man die Tonart eines Stückes bestimmt, so wird man
oft hören, dass sie durch den Schlussakkord angezeigt wird. Das
bringt uns allerdings bei Una noche de garufa in Bedrängnis,
denn jeder der drei Sätze wurde als Abschluss benutzt. Und jeder
Satz endet mit einem anderen Akkord: F-Dur im Satz A, G-Moll im Satz
B und B-Dur im Satz C.
Wir
haben bemerkt, dass Satz A mit einem Halbschluss endet, also der
Dominante von B-Dur. Interpretieren wir die Aufnahmen, die mit Satz A
enden, als Kompositionen in B-Dur, dann ist der Schluss
„unvollendet“. Die Dominante, der Abschlussklang, findet keine
Auflösung.
Interessanterweise
empfand Arolas diesen Schluss als angemessen. Wenn man den Stand von
Arolas' musikalischer Ausbildung zur Zeit der Komposition von Una
noche de garufa in Betracht zieht, scheint es sehr
unwahrscheinlich, dass er sich bewusst dazu entschlossen hatte, einen
Tango mit einem „offenen“, unaufgelöstem Schluss zu schreiben.
Wahrscheinlich erschien es ihm interessant, die Auflösung zur Tonika
erst im darauffolgenden Satz B durchzuführen. Eine Wiederholung des
Satzes A wurde aber erwartet und dann während der Aufführung
hinzugefügt, um der Konvention Genüge zu tun.
Una noche de garufa, Orquesta Eduardo Arolas
Schon
seit ihren Anfängen war die Schallplattenindustrie auf
internationaler Ebene aktiv. Musik wurde in aller Welt aufgenommen
und verkauft. Wenn eine Schallplattenfirma keine
Produktionseinrichtungen in einem Land unterhielt, wurde die Musik im
Heimatstandort aufgenommen oder Ingenieure wurden entsandt, um
Aufnahmen vor Ort zu machen. Es überrascht daher nicht, in der oben
angeführten Tabelle Aufnahmen einer Militärkapelle aus New York und
eines „Zigeunerorchesters“ aus Paris zu finden.
Tango
war für beide Orchester etwas Neues. Es ist mehr als
unwahrscheinlich, dass sie mit der Aufführungspraxis des Tangos in
Buenos Aires vertraut waren. (Sie hatten sicher nicht, im Gegensatz
zu Maglio und Canaro, Arolas spielen gehört.) Sie mussten daher Una
noche de garufa als gedruckte Musik interpretieren, ohne mit
argentinischem Tango und seiner Aufführungspraxis eingehend vertraut
zu sein.
Es
ist daher interessant, dass sich beide Orchester für eine tonal
geschlossene Interpretation entschieden, zwei Durchläufe aller Sätze
ausführten und mit dem Trio (C) abschlossen. Ein Abschluss mit dem
Trio ist insofern unkonventionell, als dieser Satz einen Kontrast
darstellt. Es entspricht einem Aufbruch eher als einer Vollendung,
die man an einem Schluss erwarten würde. Im Falle von Una noche
de garufa bietet ein Abschluss mit dem Trio aber eine tonale
Auflösung in B-Dur: das Stück endet so, wie es begann.
Una noche de garufa, Militarkapelle, New York
Ricardo
Tanturis Aufnahme von Una noche de garufa, die Version, die
den meisten Tangotänzer heutzutage geläufig ist, schlägt mit Satz
B den dritten Weg zum Abschluss des Stückes ein. Satz B hat gewisse
Vorteile gegenüber den anderen beiden Möglichkeiten: das Stück
endet weder mit einem Halbschluss, noch mit einem kontrastierenden
Satz. Stattdessen wird der kontrastierende Charakter von Satz C
betont, indem C von den Sätzen A und B umrahmt wird (AB C AB). Das
Stück wird dadurch symmetrisch und formal geschlossen. Mit Satz B am
Schluss bekommt das Stück auch eine vollwertige Kadenz. Allerdings
ist es damit nicht tonal geschlossen, da es auf G-Moll endet, aber es
endet zumindest in einer verwandten Tonart, der Moll-Parallele.
Una noche de garufa, Orquesta Típica Ricardo Tanturi
Die
Diskussion der verschiedenen Versionen wies darauf hin, dass jede
eine mögliche Lösung zu Aspekten bietet, die in musik-theoretischer
Hinsicht problematisch sind. Keine beantwortete alle Fragen, die
unsere Analyse aufwarf. Es ist unsere Ansicht, dass diese
Unstimmigkeiten von Arolas' Mangel an Erfahrung herrühren. Spätere
Stücke, wie z.B. Cardos, sind sorgfältig ausgelegt und hinterlassen einen ganz
anderen Eindruck. Die Sätze sind proportional und die Harmonien
akribisch abgestimmt und mir größter Effizienz eingesetzt. Zwischen
diesen beiden Extremen in Arolas' Werk liegen Jahre des Studiums und
gesammelter Erfahrung.
Ob
Komponist oder Instrumentalist, Tango-Musiker haben keine Belege
hinterlassen, warum sie sich entschlossen, ein Stück auf die eine
oder andere Weise zu komponieren oder zu spielen. Fachgespräche
wurden nicht mit der Öffentlichkeit geführt. Wir wissen nicht,
warum Pacho Maglio Una noche de garufa mit
Satz A abschloss und Carlos Di Sarli noch Satz B anfügte. Wir können
nur Hypothesen aufstellen.
Wir
wissen auch nicht, ob Arolas seinen Tango nach seinem Musikstudium
anders komponiert hätte. Es gibt aber einen Hinweis, dass er mit den
musikalischen Konventionen besser vertraut wurde und Ansätze zur
Kritik erkannte. Sein “tango characterístico” Anatomía
(vor 1917 komponiert) enthält eine Fußnote, die sich auf eine
Unregelmäßigkeit des ersten Satz bezieht: er ist einen Takt zu
kurz.
HINWEIS = Ich bitte alle Lehrer, die diesen Tango aufführen, die 15
Takte des ersten Teiles zu entschuldigen. Es wurde absichtlich so
gemacht.
Arolas'
Hinweis ist in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert. Er weist auf
ein Problem hin, dass wir auch in Una noche de garufa
antrafen, nämlich eine Unausgewogenheit in der Satzstruktur. Unseres
Wissens nach ist es einmalig, dass ein Tango-Komponist sich in einem
Notendruck wegen einer Unregelmäßigkeit rechtfertigt. Ein Hinweis,
dass es mit Absicht geschah, unterbindet, eines Fehlers beschuldigt
zu werden. Wir können auch erraten, von welcher Seite der Komponist
Kritik erwartete. Arolas richtet sich nicht an seine Kollegen wie
Canaro oder Maglio, sondern an die „Lehrer“. Arolas hatte seine
Lektion gelernt.
Eduardo Arolas (≈ 1910) |
© 2018 Wolfgang Freis
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